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"Der schaudernde Fächer"
Mutprobe und Gedankenporno

Ann Cottons neuer Erzählband "Der schaudernde Fächer" ist enormer literarischer Kraftakt und Mutprobe in einem. Der Schreibstil ist heftig, wild, obszön, aber mindestens genauso sanft und zärtlich.

Von Michaela Schmitz |
    Verständlich ist anders. Ann Cottens Texte sind systematisch unvorhersehbar. Immer genau in Gegenrichtung. Weg vom Klischee. Ständig auf der Flucht vor allgemeingültigen Sinnzusammenhängen, dem Common Sense. Flucht-Poetik nennt Cotten es selbst. Verständlicher will sie in ihrer Prosa sein, sagt sie. Verständlicher als in ihren hermetisch geltenden Gedichten. Obwohl ihr der "lange Atem" fehle für verlässliche geschlossene Satzkonstruktionen im Regelsystem der Grammatik, wie sie Prosa erfordert. Ihre neuen Erzählungen sind also ein Experiment. "Der schaudernde Fächer", ein Selbstversuch. Wieder einmal in Gegenrichtung. Aber diesmal gegen sich selbst. Ihr Ansatz ist nicht ohne Selbstironie: die Suche nach dem spezifischen Reiz der Langeweile. "Die gelangweilte Combo oder Wie man gut schreibt" heißt der erste Text im Band.
    "Der Flötist aus Nicaragua hat mich in Aufregung versetzt, seine trotzige Langeweile, mit Blut und ohne Luxus, sein blondes, schweres Aussehen, vom Suff gegerbt, und seine Sensibilität. Im Grunde war die Langeweile bloß die Halterung für die angespannte Feder seiner Seele, die hochzuschnellen bereit war, wie man sah."
    Mitten im ruhig schwingenden Sound des genauso lässig wie präzise ausgeführten, Satz für Satz weiter ausgearbeiteten Klangbildes wirft die Erzählerin wie nebenbei das Stichwort "Lord Chandos" ein. Mit diesem kurzen Taktschlag zitiert sie Hugo von Hofmannsthals berühmten Chandos-Brief von 1902, eines der wichtigsten literarischen Dokumente der tief greifenden kulturellen Krise jener Jahrhundertwende. Er beklagt die unwiederbringlich verloren gegangene Einheit von Natur und Kunst, Körper und Seele, Sprache und Empfindung. Wenige Worte weiter fällt der Name "Lautréamont". Der französische Dichter entwickelte in seinem einzigen, 1874 erschienenen Werk "Die Gesänge des Maldoror" eine visionäre metaphorische, assoziative und rauschhafte Bildsprache. Das Ziel: der Nachvollzug des Chaotischen, ein "Zersägen" der Welt durch Zusammenbringen von Gegensätzlichem, Unvereinbarem, Grausigem und Banalem mit den Mitteln der Sprache.
    Metaphernsüchtige Avantgardegebilde
    Die Erzählerin markiert damit gleich in den ersten fünf Sätzen ihres Erzählbandes den Bruch der Moderne. Und steckt mit dem Verweis auf zwei maßgebliche literarische Bewegungen gegenläufige erkenntnis- und sprachkritische Positionen ab, zwischen denen sie sich selbst bewegt. Ihre eigenen metaphernsüchtigen Avantgardegebilde wollen, frei nach Nietzsche, die "Herrschaft der Vernunft" durch "ästhetisches Verhalten" zur Welt und den "Trieb zur Wahrheit" durch den "Glanz der metaphorischen Anschauungen" desavouieren. Ann Cotten:
    "Ich mag immer diese Blüten von wahnsinnig intensiver Wahrnehmung oder Schönheit oder halt auch Philosophie oder diese mathematische Schönheit der Gedankenkonstrukte."
    Jähe Intuitionen statt rationaler diskursiver Erkenntnisse postulieren das genaue Gegenteil von Langeweile. Wie passt das zur gelangweilten Combo in "Der schaudernde Fächer"? Die gelangweilte Combo steht für einen besonderen Sound, den Cotten mit ihren neuen Erzählungen treffen will: der ruhig-kluge, trotzig-zärtliche Umgang mit den Wörtern aus dem intimen Verhältnis zur abergläubisch geliebten Sprache und im Einverständnis mit dem ausgefallenen Denken und Sprechen. Der Wille zur Nachvollziehbarkeit trotz der Willkür des Begriffs nennt Cotten eine Art "Liebesdienst gegenüber der Sprache". Diese meditative Erzählhaltung im melancholischen Bewusstsein einer längst gescheiterten Begrifflichkeit gleiche der Beziehung zu einem Liebhaber, …
    "… mit dem man abseits der Liebe schläft, so kann man den Körper der Sprachkompetenz auf eine gelassene, common-sense-artige Weise in Ruhe lassen und gutheißen, und sich an die so unbekannte, mystische und doch gesunde Arbeit der Bewusstlosigkeit machen."
    Wie kann eine solche "ruhige Klugheit der Sprache" erreicht werden? Und ist sie wirklich erstrebenswert? Ann Cotten stellt diese Frage in jedem einzelnen Text ihres Erzählbandes "Der schaudernde Fächer" neu. Schon die zweite Erzählung mit dem Titel "Talgblasen" zeigt, wie es nicht geht. Die künstliche Verliebtheit von Fun Son und Samsung ist der Erzählerin einfach zu sentimental: ein Märchenwald voller Zauber und Schmelz. Auch ihr eigenes Love-Date mit Fritz, einem klassischen "Liebhaber aus Common Sense", in "Des Todes dummer Bruder" scheitert. Weder die exotische Gazelle noch ihre Begleiterin, die schöne Virgin, taugen als Liebesersatz. Genauso offen bleibt die "Im grünen Pfau" im Dialog erörterte theoretische Frage, ob man eine deprimierende Liebesaffäre kraft der Kunst zu einer vergnüglichen verwandeln könne. Verschiedenste Liebesarten und Sprechakte werden ausprobiert.
    Gedanke und Emotion sind unvereinbar
    Und in unterschiedlichsten Textformen wie einem ästhetischen Essay zur "Schönheitstheorie", in der surrealen "Gothic Novel"-Einlage in "Idyllen. Chillen", im Briefromanfragment "Birkenhäuschen" oder im Stationendrama über die "Seekühe der Kunst" auf den Prüfstand gestellt. Die Liebhaber sind austauschbar, die Figuren abstrakte Sprechfiguren und Denkhaltungen, ihre Lebenseinstellungen stehen für Zeichentheorien. Einmal soll die Erzählerin in einem japanischen Sprachtest richtige von falschen Schriftzeichen unterscheiden. Ann Cotten liest selbst:
    "Ein Zeichen war schöner als das andere. Aber was bedeuteten sie?
    War es nicht viel wichtiger, sie alle für sich zu kennen und zu lieben? Sie zu schützen – die richtigen, die falschen und gerade die nicht existenten Zeichen –, indem ich die Wahl verweigerte?
    Die Zeichen waren so interessant. Ich zeichnete sie nach, in immer kleiner werdenden Kalligrafien. Liebte sie ab. Dufteten nicht die falschen Zeichen mit den interessanteren Düften des Inexistenten?"
    Der Ausschnitt zeigt, warum alle Liebesversuche scheitern müssen. Liebe kennt kein wahr und falsch, wie es distinktive Sprache erfordert. Gedanke und Emotion sind unvereinbar. Es ist ein Liebeskampf, der nicht zu gewinnen ist. Im Text "Einfall in China. Wechsel der Lehrmeister" wird dieser Liebeskampf wörtlich genommen und von zwei wilden Liebhaberinnen mit Schlägen und Messern ausgefochten. Ann Cotten:
    "Ja, die Frage bleibt akut, finde ich: Was ist ein Gedanke? Und ich finde, es wird dann spürbar, was es sein könnte, wenn es mit Emotionen und Sinnlichkeit verknüpft ist, sodass es entweder wehtut oder es wird notwendig, sich irgendwie eine Haltung herbeizudenken."
    In ihren sinnlichen, oft erotischen, nicht selten auch obszön pornografischen Texten lotet Ann Cotten genau diese Frage aus. Anregungen für ihr Schreiben hole sie sich auch aus der Porno- und Trash-Literatur, so Cotten. Und so ist das Etikett "Gedankenporno" für ihr neues Buch "Der schaudernde Fächer" vielleicht nicht ganz verfehlt. Ihre Erzählungen sind literarische Selbstentblößungen. Das erklärt ihr hohes Provokationspotenzial. Als radikaler Seelenstriptease und schonungslose Körperprosa stellen sie die menschliche Vernunft im Liebeskampf mit unhintergehbaren körperlichen Empfindungen zur Schau.
    Es ist Ann Cottens kühner Versuch, zwischen den rauschhaften Sprachexzessen Lautréamonts und den kühlen Sprachreflexionen des Lord Chandos ihre eigene, autonome Position zu finden. Die Autorin hat ihre literarischen Vorläufer bestens studiert und kennt die Traditionen sehr genau, in denen sie sich bewegt. Aber sie ist auch erfrischend respektlos genug, um die "alten Platten" durch ihren Sprachmixer zu jagen und frech aus ihnen einen neuen, eigenen Sound zu scratchen. "Der schaudernde Fächer" ist ein enormer literarischer Kraftakt und Mutprobe in einem. Entwaffnend gut geschriebene, sehr eigenwillige Passagen, wie man sie von diesem Format äußerst selten liest, entschädigen für gelegentliche originalitätsverkrampfte Formulierungen.
    Ein Schaudern der von Emotionen geschüttelten Vernunft
    Ann Cottens Schreibgestus ist heftig, wild, obszön, aber mindestens genauso sanft und zärtlich. "Der schaudernde Fächer" ist auch ein sehr intimer erotischer Erzählband über den Reiz sich verbergender Schönheit. Das Schaudern des Fächers ist ein Schaudern der von Emotionen geschüttelten Vernunft. Einer Vernunft, die wir für unhintergehbar halten. Ann Cotten will sie mit radikaler Sinnlichkeit und sanfter Anarchie unterhöhlen. Bis dahin, wo sämtliche Grenzen verschwimmen und wo die Sprache über sich selbst hinausweist und in Musik übergeht. Und so wünscht sich Ann Cotten das englische Schlussgedicht ihres Erzählbandes "Der schaudernde Fächer" am liebsten gesungen – hier von der Autorin selbst:
    "Fear nothing, fear my love, fear nothing, fear the air,
    with the souls of your feet feel it feel the jolly air
    we are too high to be sad now, too high to be sad,
    let me go on. I’m going
    on in the jolly air with a wound that will open in the afternoon,
    I’m going
    on, on, on in the jolly air, maybe see you soon
    but I’m going
    on , on, on like there`s no tomorrow
    don’t feel the pain, don’t feel the sorrow
    on, on, on like there’s no tomorrow
    don’t feel the pain, don’t feel the sorrow
    Pleasure is there to make you well through an through
    and like obedient children, we think right through you
    fucking like a bird on a branch, oh yeah, we were
    licked like a nerd on a ranch, oh yeah, we were
    wicked like a turd on a sandwich, baby,
    won’t you come on back around some time?
    But now
    (3/4) drive us to the station
    in a morning like a dirge of dirty
    sunlight dirty demons and a
    man in a man in a man in a man in a video in a
    carpet suit – he blends right in to the song to the wrong to the
    market loop and he’s takin it makin it shakin it to the
    taw-haw-haw-hawp, honey"
    Ann Cotten: "Der schaudernde Fächer". Suhrkamp Verlag 2013, 251 Seiten, 21,95 Euro.