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"Der schmale Pfad durchs Hinterland" von Richard Flanagan
"Der größte Ausdruck von Hoffnung ist die Liebe"

Tausende australische Soldaten gerieten im Zweiten Weltkrieg in japanische Gefangenschaft, starben in den Lagern unter grausamen Umständen. Ihr Schicksal steht im Mittelpunkt des Romans "Der schmale Pfad durchs Hinterland" von Richard Flanagan. Sein Vater gehörte zu den wenigen Australiern, die ihre Kriegsgefangenschaft überlebt haben.

Von Johannes Kaiser |
    "Ein Mann, der weiterleben will, will vergessen. Männer überleben dank der Fähigkeit, vergessen zu können. Aber es stimmt auch, dass die Geschichte der Tyrannei eine Geschichte der Stille ist und dass Freiheit in der Form von Erinnerung existiert. Ab einem bestimmten Punkt muss man in die Schatten zurückkehren, um wieder in der Lage zu sein, im Licht zu leben. Es ist die Aufgabe anderer, dass Nichtbenennbare zu benennen, zu versuchen, in den Schatten zurückzukehren und zu entdecken, was sich dort verbirgt. Mein Vater hat viele Geschichten aus dem Kriegsgefangenenlager erzählt, humorvolle, schonende Geschichten. Ich glaube nicht, dass er das machte, um die Erinnerungen schönzufärben. Manchmal ist Humor die einzige Antwort auf den Schrecken des Totalitarismus. Die Kriegsgefangenen und Sklavenarbeiter standen im wahrsten Sinne des Wortes nackt da, ohne jegliche Macht. Der Humor war das einzige, was ihnen blieb."
    Richard Flanagans Vater gehörte zu den wenigen Australiern, die die japanische Kriegsgefangenschaft in einem Arbeitslager in Siam überlebt haben. Zuhause war an einer Zimmerwand eine Tafel mit den Namen seiner toten Kameraden angebracht und seine Erinnerungen haben schließlich seinen Sohn dazu gebracht, die Geschichte dieser Kriegsgefangenen aufzugreifen und in einen Roman zu packen. Eben jenes Lager mitten im Dschungel, in dem sein Vater und gut tausend weitere Australier gefangen gehalten und jeden Morgen zum Bau einer Eisenbahnstrecke getrieben wurden, steht im Mittelpunkt des Romans.
    Die Zustände sind katastrophal. Dauerregen durchweicht die primitiven Holzhütten. In der tropisch-feuchten Hitze leiden so gut wie alle Männer an irgendeiner Tropenkrankheit, sind von Geschwüren bedeckt, Cholera bricht aus. Die Arbeitsbedingungen sind unmenschlich. Ohne geeignetes Werkzeug müssen die völlig entkräfteten und bis auf die Knochen abgemagerten Gefangenen ein Gleisbett aus dem Dschungeln graben, hacken, sprengen. Mehr als eine Handvoll Reis pro Tag stehen ihnen die Japaner nicht zu. Für die sind die Australier unzivilisierte Barbaren, die ruhig krepieren dürfen. Die japanischen Offiziere töten ohne jegliches Mitgefühl. Stolz erzählt ein Colonel seinem Major vom Köpfen unschuldiger Kriegsgefangener.
    "Ich stellte mich hinter den Gefangenen, fand mein Gleichgewicht und musterte aufmerksam seinen Hals ... Sein Hals war schmutzig und grau, so wie die Erde, auf die man pisst. Doch sobald ich ihn durchtrennt hatte, leuchteten die Farben wieder lebendig - das Rot des Bluts, das Weiß der Knochen, das Rosa der Muskeln, das Gelb des Fetts. Das Leben! Diese Farben waren das Leben selbst ... Für den Mann fühlte ich nichts mehr. Ehrlich gesagt, verachtete ich ihn dafür, sich so stumm in sein Schicksal ergeben zu haben, und ich fragte mich, warum er sich nicht gewehrt hatte ... Darf ich Ihnen etwas verraten? Es hat immer genug Gefangene gegeben. Sobald einige Wochen verstrichen waren, ohne dass ich jemand geköpft hatte, machte ich mich auf die Suche nach einem geeigneten Hals. Ich ließ den Mann sein Grab ausheben."
    Richard Flanagan erspart uns keine der Grausamkeiten. Man muss beim Lesen bisweilen eine Pause machen, weil die detaillierten und drastischen Beschreibungen einem den Atem stocken lassen. Gemildert werden die Lagerszenen durch die verzweifelten Versuche des australischen Lagerarztes Dorrigo Evans, Hauptfigur des Romans, mit äußerst bescheidenen Mitteln - Medikamente sind absolute Mangelware -, so vielen Kameraden wie möglich das Leben zu retten.
    "Er hat die Armut besiegt, um Arzt zu werden, und in diesem Sklavenarbeitslager im Dschungel wird er zufällig zum Sprecher von 1000 Kriegsgefangenen und ist davon selbst überrascht, fühlt sich wie ein Betrüger. Und doch versteht er, dass er so handeln muss, als wäre er fähig, diese Männer zu führen und sie zu retten, denn am Ende ist die Illusion alles an Hoffnung, was ihnen bleibt, und er versteht, dass, um zu überleben, die Illusion wichtiger ist als die Wirklichkeit. Die selbst übernommene Last und diese Selbsterkenntnis bringt ihn dazu, diese Rolle zu akzeptieren und sie für den Rest seines Lebens zu spielen."
    Dorrigo Evans Gegenüber ist ein amphetaminabhängiger japanischer Offizier, stolz, überheblich, dünkelhaft, dem japanischer Kaiser bedingungslos ergeben. Dessen Befehlen ist alles andere unterzuordnen, auch die eigene Person. Das Individuum hat keinerlei Wert, ein Kriegsgefangener erst recht nicht. Brutale Misshandlungen sind an der Tagesordnung. Und doch sind für Richard Flanagan die japanischen Soldaten keine Bestien, bewundert er ihre Kultur, die ihm sein Vater nahegebracht hat.
    "Wir alle tragen in uns ein Talent zum Mörder. Wenn man seinem Feind lange genug ins Gesicht schaut, dann sieht man sich in ihm widergespiegelt. Ich fand das verstörend vertraut. Für mich war wichtig, dass das Buch nicht nur die Rolle des Opfers herausstrich. Wer vorgibt, dass nur er selbst oder die eigenen Leute gelitten haben, und daraus dann eine moralische Überlegenheit ableitet und glaubt, dass diejenigen, die das Leiden verursacht haben, weniger wert sind als man selbst, der hat sich schon der Sünde schuldig gemacht, die vor allem dafür verantwortlich ist, dass man glaubt, einige Menschen sind wertvoller als andere. Niemand von uns ist wertvoller als irgendjemand sonst. Diese Mächte des Bösen sind kein Kennzeichen einer bestimmten Nation, sondern typisch für die gesamte Menschheit. Wir müssen begreifen, dass in einer bestimmten Situation jeder von uns solche schrecklichen Verbrechen begehen könnte."
    Richard Flanagan ist bei seinen Recherchen auch nach Japan gefahren, um mit alten Wachen aus dem Gefangenenlager seines Vaters zu sprechen. Er ist dort auf ein nach Kriegsende sattsam bekanntes Phänomen gestoßen. Die kleinen Kriegsverbrecher hat man gehängt, die großen sind entkommen.
    "Es war mir wichtig mich, das zu zeigen, denn ich denke, das belegt, dass der Wunsch nach Rache, eine sehr reales und sehr verständliches Gefühl, niemals die Richtigen trifft, selbst wenn man sich das wünscht, weil wir wiederum die Machtlosen zum Sündenbock machen und sie als Opfertiere nehmen. Diejenigen, die tatsächlich schuld sind, entkommen stets aus Neue."
    Der Roman wäre unerträglich schwer, wenn Richard Flanagan nur die Geschichte der Kriegsgefangenschaft erzählt hätte. Sein Hauptprotagonist Dorrigo Evans wird nach dem Krieg durch eine Fernsehdokumentation zum nationalen Helden, zum Kriegsheroen, doch er ist privat alles andere als ein Held. Bereits vor seinem Eintritt in die Armee beginnt er eine verrückte Liebschaft, eine Amour fou mit der Frau eines Onkels, während gleichzeitig die Vorbereitungen für seine Hochzeit mit einer Frau aus besseren Kreisen laufen. Er wird sie heiraten, gegen alle vernünftige Einsicht. Doch die Erinnerung an diese große Liebe wird ihn immer begleiten, aus ihm einen unglücklichen Mann machen, der zwar eine glänzende Nachkriegskarriere hinlegt, aber eine Affäre nach der anderen hat. Er betäubt sich mit Sex, weil er seine Frau nicht liebt und die Frau, die er wirklich liebte, verlassen hat. Für Richard Flanagan wäre sein Roman ohne diese unerfüllte Liebe unvollständig geblieben:
    "Wenn man Dunkles beschreiben will, dann muss man das Dunkle mit diesem Licht, der Hoffnung konfrontieren und für mich ist der größte Ausdruck von Hoffnung die Liebe. Deswegen war eine Liebesgeschichte notwendig und ich begriff, als ich den Roman abgeschlossen hatte, dass es überhaupt kein Roman über den Krieg ist, sondern über die vielen Formen der Liebe, wie die Liebe existiert, wie amoralisch sie ist und wie Liebe nicht zurückgezahlt wird. Liebe ist oftmals destruktiv und schrecklich, aber nichtsdestotrotz sie ist schließlich unsere Essenz, das, was uns vorantreibt."
    Der Krieg und die Liebe haben aus Dorrigo Evans einen Mann gemacht, der zwar funktioniert, seine gesellschaftlichen und auch familiären Pflichten erfüllt, aber eine tiefe innere Leere verspürt.
    Es ist das wortgewaltige, facettenreiche Porträt eines Mannes, der selbstlos und aufopfernd half, als es nötig war und versagte, als es um die wahre Liebe ging. Es ist Richard Flanagans große Kunst, ihn uns so sympathisch zu machen, dass wir seiner Lebensgeschichte gebannt lauschen. Ein tief beeindruckender Roman.