Die Kreuzigungsszene, die Grünewald für den Isenheimer Altar gemalt hat, zeigt Christus im Moment des Sterbens. Der Sohn Gottes ist hier nur noch menschlicher Körper, ein geschundener, gequälter Körper mit tiefen eiternden Wunden. Der Kopf ist zur Seite gekippt, ungewöhnlich groß ist die Dornenkrone, die diesen Christus weiter verletzt. Der Schmerz verzerrt das Gesicht, der wie zum Schrei geöffnete Mund ist schon blau gefärbt.
Die außergewöhnlich drastische und brutale Darstellung der Leiden Christi hat schon viele Künstler fasziniert. Die Bilder gehören "zum Stärksten, was mir je vor Augen gekommen", schrieb zum Beispiel Thomas Mann 1918 in sein Tagebuch. Und Otto Dix übernahm Grünewalds drastische Körperdarstellung in seinem Triptychon "Der Krieg", das die Gräuel des Ersten Weltkriegs thematisiert.
Als Adel Abdessemed den Isenheimer Altar zum ersten Mal sah, war er gerade aus Algerien geflohen – vor den Gräuel des Bürgerkriegs und islamistischen Terrors der 90er-Jahre. Auch der Direktor der Kunstakademie, an der er studierte, wurde ermordet. Er habe Algerien in einem Moment verlassen, als die Hoffnung ermordet wurde, sagt Adel Abdessemed. Auch deshalb habe ihn Grünewalds Kreuzigungsszene so stark beeindruckt.
"Das war 1995, erzählt er, es war ein nebeliger Tag, es schneite. Ich kam per Autostopp hier an und fühlte mich wie unsichtbar. Dann bin ich sehr lange vor dem Isenheimer Altar geblieben und sehr beunruhigt wieder gegangen. Selten hat mich ein Kunstwerk emotional so stark berührt."
Jahre später wurde der gekreuzigte Christus von Grünewald nun zum Vorbild für vier fast identische Plastiken von Adel Abdessemed: Über 1,80 Meter große Christus-Figuren in ziemlich genau derselben Haltung wie auf dem Gemälde von Grünewald: Mit nach oben gespreizten Fingern, hängendem Kopf und schreiendem Mund.
Geformt hat Abdessemed diesen leidenden Körper aus Stacheldraht, wie ihn auch die USA im Gefangenenlager Guantanamo verwenden: Rostfreier dicker Metalldraht mit messerscharfen Dornen und Widerhaken. Die Stacheln, die den Christus-Körper bei Grünewald verletzen, sie sind hier der Körper selbst, beziehungsweise: Vier Körper. Adel Abdessemed hat Grünewalds leidenden Christus-Körper multipliziert und profanisiert. "Décor" hat er die Installation genannt.
"Als ich mit dieser Arbeit anfing, habe ich erst mal an einen einzelnen Christus gedacht. Einen dem von Grünewald maximal ähnlichen Christus, bestehend aus einem einzigen Dorn. Dann habe ich diesen Christus vervielfacht, aber ich konnte nicht bei Dreien aufhören. Das hätte zu viel Bedeutung suggeriert – die drei monotheistischen Religionen oder die Dreifaltigkeit zum Beispiel. Als ich dann den vierten gemacht hatte war mir klar: Das ist es! Der vierte ist dekorativ. Also habe ich die Arbeit "Décor" genannt."
"Décor" klingt auf Französisch allerdings auch genauso wie "des corps" – also Körper. Im Musée Unterlinden hängen die vier Stacheldraht-Körper jetzt an der Wand direkt neben dem Isenheimer Altar. Die Gegenüberstellung von Grünewalds kunsthistorischer Ikone mit Abdessemeds noch ganz frischem zeitgenössischem Werk ist zweifellos ein Wagnis – aber es funktioniert: Adel Abdessemeds Plastiken halten die unmittelbare Nachbarschaft von Grünewalds Meisterwerk nicht nur aus, sie sind genauso expressiv: Abdessemeds Geflecht aus Stacheldraht ist grausam und schön zugleich, und wie bei Grünewald drückt sich insbesondere in der Darstellung des zum Schrei geöffneten Mundes der ganze existenzielle Schmerz des Menschseins aus.
"Was mich bei Grünewald interessiert hat, ist der Schrei", sagt Adel Abdessemed. "Der Schrei des Christus von Grünewald ist ein historischer Schrei, man kennt ihn in all seiner Schuldhaftigkeit und seinem Schmerz. Meinen Schrei aber kennt man noch nicht."
Die außergewöhnlich drastische und brutale Darstellung der Leiden Christi hat schon viele Künstler fasziniert. Die Bilder gehören "zum Stärksten, was mir je vor Augen gekommen", schrieb zum Beispiel Thomas Mann 1918 in sein Tagebuch. Und Otto Dix übernahm Grünewalds drastische Körperdarstellung in seinem Triptychon "Der Krieg", das die Gräuel des Ersten Weltkriegs thematisiert.
Als Adel Abdessemed den Isenheimer Altar zum ersten Mal sah, war er gerade aus Algerien geflohen – vor den Gräuel des Bürgerkriegs und islamistischen Terrors der 90er-Jahre. Auch der Direktor der Kunstakademie, an der er studierte, wurde ermordet. Er habe Algerien in einem Moment verlassen, als die Hoffnung ermordet wurde, sagt Adel Abdessemed. Auch deshalb habe ihn Grünewalds Kreuzigungsszene so stark beeindruckt.
"Das war 1995, erzählt er, es war ein nebeliger Tag, es schneite. Ich kam per Autostopp hier an und fühlte mich wie unsichtbar. Dann bin ich sehr lange vor dem Isenheimer Altar geblieben und sehr beunruhigt wieder gegangen. Selten hat mich ein Kunstwerk emotional so stark berührt."
Jahre später wurde der gekreuzigte Christus von Grünewald nun zum Vorbild für vier fast identische Plastiken von Adel Abdessemed: Über 1,80 Meter große Christus-Figuren in ziemlich genau derselben Haltung wie auf dem Gemälde von Grünewald: Mit nach oben gespreizten Fingern, hängendem Kopf und schreiendem Mund.
Geformt hat Abdessemed diesen leidenden Körper aus Stacheldraht, wie ihn auch die USA im Gefangenenlager Guantanamo verwenden: Rostfreier dicker Metalldraht mit messerscharfen Dornen und Widerhaken. Die Stacheln, die den Christus-Körper bei Grünewald verletzen, sie sind hier der Körper selbst, beziehungsweise: Vier Körper. Adel Abdessemed hat Grünewalds leidenden Christus-Körper multipliziert und profanisiert. "Décor" hat er die Installation genannt.
"Als ich mit dieser Arbeit anfing, habe ich erst mal an einen einzelnen Christus gedacht. Einen dem von Grünewald maximal ähnlichen Christus, bestehend aus einem einzigen Dorn. Dann habe ich diesen Christus vervielfacht, aber ich konnte nicht bei Dreien aufhören. Das hätte zu viel Bedeutung suggeriert – die drei monotheistischen Religionen oder die Dreifaltigkeit zum Beispiel. Als ich dann den vierten gemacht hatte war mir klar: Das ist es! Der vierte ist dekorativ. Also habe ich die Arbeit "Décor" genannt."
"Décor" klingt auf Französisch allerdings auch genauso wie "des corps" – also Körper. Im Musée Unterlinden hängen die vier Stacheldraht-Körper jetzt an der Wand direkt neben dem Isenheimer Altar. Die Gegenüberstellung von Grünewalds kunsthistorischer Ikone mit Abdessemeds noch ganz frischem zeitgenössischem Werk ist zweifellos ein Wagnis – aber es funktioniert: Adel Abdessemeds Plastiken halten die unmittelbare Nachbarschaft von Grünewalds Meisterwerk nicht nur aus, sie sind genauso expressiv: Abdessemeds Geflecht aus Stacheldraht ist grausam und schön zugleich, und wie bei Grünewald drückt sich insbesondere in der Darstellung des zum Schrei geöffneten Mundes der ganze existenzielle Schmerz des Menschseins aus.
"Was mich bei Grünewald interessiert hat, ist der Schrei", sagt Adel Abdessemed. "Der Schrei des Christus von Grünewald ist ein historischer Schrei, man kennt ihn in all seiner Schuldhaftigkeit und seinem Schmerz. Meinen Schrei aber kennt man noch nicht."