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Der Schweizer Pfarrer und Poet Kurt Marti
"Den Himmel auf Erden anzetteln“

Kurt Marti hat angeeckt. Er war ein Querdenker, der viele genervt hat. Und doch gehört der 1921 geborene Marti neben und nach Dürrenmatt und Frisch zu den Großen der Schweizer Literatur. Die Bücher des Theologen waren Bestseller, auch wenn seine "engagierte Lyrik" heute etwas platt und alt wirkt. Von gestern ist sie deshalb aber noch lange nicht.

Von Burkhard Reinartz |
    unser vater
    der du bist die mutter
    die du bist der sohn
    der kommt
    um anzuzetteln
    den himmel auf erden
    dein name werde geheiligt
    dein name möge kein hauptwort bleiben
    dein name werde bewegung
    dein name werde in jeder zeit konjugierbar
    dein name werde tätigkeitswort
    bis wir loslassen lernen
    bis wir erlöst werden können
    damit im verwehen des wahns komme dein reich
    in der liebe zum nächsten
    in der liebe zum feind
    geschehe dein wille -
    durch uns.
    Mit seiner unorthodoxen Variation des "Vater Unser" und der provokanten Losung "Den Himmel anzetteln auf Erden" zeigt sich Kurt Marti als das, was er sein Leben lang gewesen ist: ein sanfter Aufrührer. Der "Dichter, Zeitzeuge und Gottesmann", wie ihn die Neue Zürcher Zeitung einmal nannte, gehört neben und nach Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch zu den Großen der Schweizer Literatur.
    Kurt Marti wird am 31. Januar 1921 in Bern geboren.
    Kurt Marti:
    "Ich wuchs in kleinbürgerlicher Geborgenheit auf. Weder war mein Elternhaus besonders musisch noch christlich. Vater praktizierte als freiberuflicher Notar, betätigte sich nebenberuflich als liberaler Politiker und brachte es bis zum Präsident des Berner Stadtparlaments. Mit Liebe und Ängstlichkeit umsorgte mich die Mutter. Die Schule durchlief ich ohne Probleme, auf der Gymnasialstufe begann ich gegen alle Engstirnigkeit zu opponieren, was der Rektor auf eine besonders heftige Pubertät zurückführte. Als 12jähriger erlebte ich Hitlers Machtergreifung am Radioapparat, wurde allmählich politisiert und begann die Ereignisse der Schweizer Innenpolitik zu verfolgen."
    Mit 20 Jahren dient Kurt Marti als Gebirgsjäger im Berner Oberland.
    Marti:
    "Der Dienst mit der Waffe war damals kein Problem für mich. Wir hielten es für selbstverständlich, die Waffe zu gebrauchen, falls Hitler die Schweiz überfallen würde."
    Unorthodoxer Umgang mit Bibel-Texten
    Nach dem Abitur beginnt Marti ein Jura-Studium. 1942 wechselt er zur evangelischen Theologie. Vor allem Karl Barths politisch-prophetische Theologie weckt sein Interesse, weniger die Aussicht, als Pfarrer zu arbeiten. Wie unorthodox er zum Beispiel mit dem Schöpfungsbericht der Bibel umgeht, zeigt sich in einem seiner poetisch-literarischen Texte, dem "Oratorium für den Planeten des Lebens":
    Vielleicht: eine stille Mitte im Orkan der Materie.
    Und - in der stillen Mitte der Materie Gottes Weisheit
    Und die Weisheit hatte eine Vision: irgendwo im gewaltigen All
    eine kleine Oase des Lebens,
    wo Gespräch und Liebe erblühen.
    Der Theologe Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und kennt sich mit moderner Lyrik bestens aus. Er sagt: "Mir scheint, dass Kurt Marti ein spielerischer, auch ein humorvoller Zeitgenosse gewesen ist."
    Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD - Berlin Februar 2016 
    Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD. (Deutschlandfunk/ Andreas Schoelzel)
    Und weiter: "Als Pastor hat man ja selber ein hohes Interesse daran, dass die Arbeit und der Umgang mit dem Wort nicht zu bierernst und zu professionell wird. Das ist die Gefahr dieses Berufes. Und da sind natürlich solche Formen von Lyrik wie Kurt Marti sie ausprobiert hat, ein wunderbares Instrument, um auch in die Distanz zu kommen."
    "Zuerst zeugte ich leibliche, dann literarische Kinder"
    1947 geht Marti für ein Jahr nach Paris - und zwar als Seelsorger für Kriegsgefangene, im Auftrag des Ökumenischen Rates der Kirchen. 1950 heiratet er Hanni Morgenthaler. Fast 60 Jahre lang verbindet ihn bis zu ihrem Tod eine sein Leben prägende Liebe mit der "elfenhaft leichten Langenthalerin". Erst spät, nach der Geburt von vier Kindern, beginnt der Pfarrer, Ende der 50er Jahre regelmäßig Gedichte zu schreiben. Mehr als 20 Jahre wirkt er an der Berner Nydeggkirche. Bis zu seiner Pensionierung. Danach widmet er sich ausschließlich der Literatur und arbeitet als freier Schriftsteller.
    Marti: "Zuerst zeugte ich leibliche, dann literarische Kinder. Anstatt eine midlife-crisis zu haben, begann ich zu schreiben."
    Jazz als "lebendige Kraftquelle"
    Seine frühen Inspirationsquellen sind Hölderlin, Jean Paul, Stefan George, Georg Trakl, Hans Arp und Arno Schmidt. Auch die Musik prägt Kurt Martis künstlerischen Ausdruck. In seinen Erinnerungen nennt er den Jazz eine "lebendige Kraftquelle", die ihn zeitlebens begleitet hat:
    "Als während des letzten Weltkrieges die Radiostationen Europas auch die Schweiz mit zackiger Marschmusik und ablenkenden Schnulzen belagerten, schnappten wir jeden Fetzen Jazz aus angelsächsischen Ländern auf wie Sphärenmusik aus einer anderen Welt. Melancholie und Aufsässigkeit gehen im Jazz eine vitale Mischung ein, die sowohl Ventil wie Sprengstoff sein kann."
    Im Laufe seines Lebens hat Marti zwanzig Gedichtbände veröffentlicht sowie etliche Essays und Kolumnen. Zuletzt, im Jahr 2010 die gesammelten Erinnerungen und Essays in dem 1.400 Seiten starken Band "Notizen und Details". Er beginnt seine literarische Arbeit mit Gedichten, die sich an Dadaismus, Surrealismus und konkreter Poesie orientieren.
    Mit dem Lyrikband "Boulevard Bikini" debütiert Marti im Jahr 1959. Später schreibt er in Berner Umgangssprache und holt mit dem Band "Rosa Loui" die traditionelle Mundartdichtung aus ihrem spießigen Umfeld heraus. In seinen Texten gelingt es ihm, Spiel und Sprachwitz mit Tiefgang zu verbinden.
    Wo kämen wir hin, wenn alle sagten,
    wo kämen wir hin, und keiner ginge,
    um zu sehen, wohin wir kämen,
    wenn wir gingen.
    sie örtern
    wir örtern
    gott vergeblich mit wörtern
    doch er ist
    der geist und lässt sich nicht örtern
    er ist das wort
    und lässt sich nicht
    wörtern
    zimmerer / zimmern / die balken /
    und dann/ den zimmerer / an den balken /
    und dann / den gebälkten / zimmerer steil in den wind
    richtbaum / aus flatterndem atem /
    richtbaum / aus zuckendem fleisch /
    richtbaum / schreiend über / den firsten der welt.
    Bereits in den 50er-Jahren wendet sich Kurt Marti im Stil eines Erich Kästner gegen alles "unechte und unglaubwürdige" im religiösen Vollzug.
    Glocken dröhnen ihren vollsten Ton
    und Fotografen stehen knipsend krumm.
    Es braust der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn,
    Ein Pfarrer kommt, mit ihm das Christentum.
    Im Dome knien die Damen schulternackt,
    noch im Gebet kokett und photogen.
    Indes die Herren, konjunkturbefrackt,
    diskret nach ihren Armbanduhren sehn.
    Sanft wie das Kino surrt die Liturgie,
    zum Fest von Kapital und Eleganz.
    Nur einer flüstert leise: Blasphemie!
    Der Herr. Allein. Ihn überhört man ganz.
    Nestbeschmutzer - Querdenker - Grüner
    Johann Hinrich Claussen: "Kurt Marti gehört zu den Schweizer Nestbeschmutzern wie Dürrenmatt ja auch, also Autoren, die aus der Enge des Schweizerischen weit hinaus gedacht haben. Das war natürlich in diesen polararisierten, zementierten 50er, 60er, 70er Jahren etwas ganz außergewöhnliches, mutiges, nicht-konformes."
    1959 erscheinen zuerst in der Schweiz, später auch in Deutschland die "Republikanischen Gedichte", in denen Kurt Marti die politische Situation der Schweiz kritisiert.
    kleiner mann gibt acht
    was man mir dir macht
    sei nicht dümmer
    als man gerade muss
    zahlen muss man immer
    meist zahlst du zum schluss
    atomreaktor würlingen
    hinter dem wald
    im märchengeländ
    statt einer blume
    den geigerzähler
    im knopfloch
    hinter dem wald
    im ätherischen teich
    der physiker
    tausendundzweite nacht
    hinter dem waldschatten
    nebst füchsen und hasen
    die zukunft
    hinter dem wald...
    Kurt Marti war kein politischer Agitator, sondern ein unbequemer Querdenker, ein Grüner, bevor es grüne Parteien gab. 1972 wird ihm vom Berner Regierungsrat der Lehrstuhl für Predigtlehre verweigert, weil die Regierenden ihn für einen verkappten Marxisten halten.
    Johann Hinrich Claussen: "Mit Marxismus hat das gar nichts zu tun, sondern das war einfach ein freier Geist, der eben bestimmte Machtverhältnisse hinterfragt hat. Das hat er sich herausgenommen - und dass man ihm den Predigtlehrstuhl verweigert hat, das ist heute überhaupt nicht mehr nachzuvollziehen und war auch schon damals ein Skandal."
    machtverhältnis
    die ohne macht
    machen
    die mächtigen
    was
    machten
    die mächtigen
    machten
    die ohne macht
    nicht
    was die mächtigen
    machen?
    mächtiger sind
    als die mächtigen
    die ohne macht
    Engagierte Lyrik
    Johann Hinrich Claussen: "Was wir heute gar nicht mehr kennen, ist dieses Erfolgsgenre "Engagierte Lyrik". In den 70er Jahren waren das Bestseller. Erich Fried und Dorothee Sölle fallen einem da ein. Da gehört natürlich Kurt Marti mit hinzu, als Theologe noch mit einer eigenen Prägung und Färbung. Und das gehört natürlich zu diesem ganzen Kulturumbruch der 60er und 70er Jahre, der immer auch eine literarische Seite hatte. Ich finde als Angehöriger einer nächsten, beziehungsweise übernächsten Generation: Mich sprechen diese Gedichte selten an, auch wenn ich mit vielen politischen Anliegen konform gehe, aber die Benutzung von Lyrik zur Steigerung von einem bestimmten kritischen Engagement, das ist mir literarisch unergiebig, oft genug zu platt und zu einfach. Da werden Verse zu Slogans."
    Auch wenn der Theologe Johann Hinrich Claussen die politischen Werkphasen Kurt Martis kritisch sieht: Außer Frage steht, dass es dem Pfarrer und Poeten gelungen ist, religiöse Lyrik aus dem gesellschaftlichen Abseits zu holen:
    "Bei seiner religiösen Lyrik bewundere ich den Versuch, jenseits von damals üblicher Kirchen- und Dogmensprache Wesentliches des christlichen Glaubens auszudrücken - und zwar so, dass es auch immer piekst und stört, nicht gemütlich ist, dass es immer auch verbunden ist mit einem Engagement für diese Welt. Zuweilen stört mich auch an der religiösen Lyrik eine Übermacht der Botschaft, so dass Verse dann viel zu selten ins Schweben kommen, weil immer schon klar ist, was sie am Ende ausdrücken wollen."
    KÖRPERKIRCHE
    die kirche des geistes
    sind unsere körper
    (schrieb der epileptiker
    einst nach korinth)
    darum dann:
    umarmungen küsse
    und heilige mähler
    erst später:
    kirchen aus stein
    Spannungsvolles Verhältnis zur Kirche
    Johann Hinrich Claussen: "Sein Verhältnis zur Kirche selbst ist ein spannungsvolles. So gehört es sich für einen guten Protestanten. Er ist natürlich als Pastor und Theologe immer ein Teil dieser Kirche gewesen, und doch stört er sich am Amtlichen, am Institutionellen und stört sich an der ständigen Verbündetheit mit den Mächten des eigenen Landes; und da ist es in der Schweiz nicht viel anders gewesen als in der Bundesrepublik dieser Zeit."
    Marti: "Gott liebt das Monopol nicht! Es hätte ihm nicht gefallen, wenn alle Menschen Christen geworden wären."
    Johann Hinrich Claussen: "Das klingt ganz wunderbar, wenn Kurt Marti sagt, Gott liebt das Monopol nicht, sondern die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit. Das ist gut protestantisch, gut reformatorisch. Dagegen gibt es gar nichts auszusetzen, im Gegenteil."
    Marti kultiviert die Aufmerksamkeit für das Wunder des Alltags, für "das Unten", wie er es nennt. Das findet seine Ergänzung in der "Wachheit nach oben." Ich bin ein "nach oben Offener", hat er einmal über sich gesagt und diese Offenheit literarisch in so manche provokante Paradoxien gegossen. Zum Beispiel, wenn er einen Psalm umdichtet:
    aus untiefen
    rufe ich
    gott
    nach mir
    Das Reden von Gott in Kurt Martis Dichtung ist geprägt von seinen Erfahrungen in der Berner Stadtpfarrei. Er spürt die Grenzen der liturgischen Sprache mit ihrer Formelhaftigkeit und ihren Klischees, die oft als Worthülsen empfunden werden.
    "Leichenreden"
    Um mit diesem Dilemma umzugehen, erfindet Marti im Jahr 1969 die sogenannten "Leichenreden". Bei besonders bewegenden Todesfällen verarbeitet er die dabei gemachten Erfahrungen in einem neuen Sprachgewand. Das Beerdigungsritual in der Berner Nydeggkirche beginnt traditionell mit dem Satz: "Gott hat es gefallen". Gegen dieses Ritual der Unbarmherzigkeit protestiert Marti literarisch:
    dem herrn unserem gott
    hat es ganz und gar nicht gefallen
    dass gustav e. lips
    durch einen verkehrsunfall starb

    erstens war er zu jung
    zweitens seiner frau ein zärtlicher mann
    drittens zwei kindern ein lustiger vater
    viertens den freunden ein guter freund
    fünftens erfüllt von vielen ideen

    was soll jetzt ohne ihn werden?
    was ist seine frau ohne ihn?
    wer spielt mit den kindern?
    wer ersetzt einen freund?
    wer hat die neuen ideen?

    dem herrn unserem gott
    hat es ganz und gar nicht gefallen
    dass einige von euch dachten
    es habe ihm solches gefallen

    im namen dessen der tote erweckte
    im namen des toten der auferstand:
    wir protestieren gegen den tod gustav e. lips

    Kurt Marti, Leichenreden
    Marti protestiert nicht nur gegen den Tod. Auch von einer unorthodoxen Variante der Auferstehung ist bei ihm die Rede:
    "Ein Glaube, der auf das eigene Weiterleben nach dem Tod fokussiert ist, bleibt heillos egozentriert. Ist der Wunsch, ewig zu leben, nicht ohnehin der menschliche Urfrevel, so sein zu wollen wie Gott, der allein Ewige?"
    ihr fragt
    was ist die auferstehung der toten?
    ich weiß es nicht

    ihr fragt
    wann ist die auferstehung der toten?
    ich weiß es nicht

    ihr fragt
    gibt’s
    eine auferstehung der toten?
    ich weiß es nicht

    ihr fragt
    gibt’s
    keine auferstehung der toten?
    ich weiß es nicht

    ich weiß
    nur
    wonach ihr nicht fragt:
    die auferstehung derer die leben

    ich weiß
    nur
    wozu Er uns ruft:
    zur auferstehung heute und jetzt
    Johann Hinrich Claussen: "Ein Spiel auch mit diesem Wort, um das Wunder der Auferstehung weg zu nehmen von einer mirakulösen Erscheinung vor 2000 Jahren und es hinzudeuten als eine Lebenskraft, die hier und jetzt befreit. Da steht er für eine breite protestantische Zeitströmung, die ihr gutes Recht hat."
    Marti: "Das Wort 'Jenseitsvorstellungen' - ein Bluff! Wenn es nämlich ein Jenseits gibt, dann ist es auch jenseits unserer Vorstellungen. Gott ist unser Jenseits. Das zu glauben genügt - und alles weitere bleibt ihm überlassen."
    Kurt Marti betrachtet die Ewigkeit nicht einfach als Zeit ohne Ende. Er versteht sie als eine Kategorie jenseits der Zeit, die der menschliche Verstand gar nicht denken kann.
    "Wir sind Zeitlinge"
    "Wir sind Zeitlinge", schreibt Marti. Für ihn existiert im Ewigen keine gerichtete Zeit mit einem Vorher und einem Nachher. Erlebbar wird Ewigkeit im Sinne der Mystiker allerdings in gnadenvollen Augenblicken innerhalb der Zeit, wenn sich Raum und Zeit in einem "ewigen Jetzt" auflösen. Trotz Martis Nähe zu dieser Erfahrungswelt möchte ihn der evangelische Theologe Johann Hinrich Claussen nicht in die Schublade Mystik stecken, die ihm zu vage erscheint.
    Claussen: "Es geht hier um eine ganz eigentümliche Frömmigkeit, die nach Nähe sucht, aber sich immer auch reibt an der Ferne Gottes, an den versteinerten Formen, in denen dieser Glaube überliefert worden ist, und die eben anders als eine vielleicht weltflüchtige Mystik eben auch hoch interessiert bleibt an dem Geschehen auf dieser Welt."
    Ein zentraler Fokus in Martis religiöser Lyrik ist das literarische Umkreisen der Chiffre Gott.
    und ALSO wurde das wort GOTT
    zum letzten der wörter
    zum ausgebeutetsten aller begriffe
    zur geräumten metapher -
    zum proleten der sprache
    großer gott klein
    großer gott:
    uns näher
    als haut
    oder halsschlagader
    kleiner als herzmuskel
    zwerchfell oft:
    zu nahe
    zu klein – wozu
    dich suchen?
    wir: deine verstecke
    Claussen: "'Wir Gottesverstecke': Ich finde, das ist eine wunderbare lyrische Wünschelrute, mit der man sich auf die Suche nach Gott machen kann."
    "Das Leben wird Leerlauf"
    Wenige Jahre vor seinem Tod, klagt Kurt Marti in einem Interview mit Matthias Hui: "Ich habe das Gefühl, ich wäre überfällig mit meinen mehr als 92 Jahren. Es wäre längst Zeit, dass ich hätte sterben dürfen. So habe ich das Gefühl, dass der liebe Gott mich vergessen hat. Das Leben wird Leerlauf. Ich spüre das sehr stark. Deshalb hoffe ich jeden Abend beim Einschlafen – es ist mein Nachtgebet - ich würde am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen. Leider funktioniert mein Herz noch so gut, dass diese Hoffnung ein wenig irreal ist."
    Vier Jahre später erfüllt sich seine Hoffnung. Am 11. Februar 2017 stirbt Kurt Marti im Alter von 96 Jahren in Bern.
    Johann Hinrich Claussen: "Was bleiben wird von ihm, ist zweierlei zu tun, was heute oft als Gegensatz empfunden wird: nämlich nach einer zeitgemäßen Frömmigkeit zu suchen und zugleich nach einem politischen Engagement, das sich was traut, das mutig ist und das sich trotzdem aus tieferen, alten Wurzeln speist."
    Kurt Marti sah sein gesamtes dichterisches und theologisches Sprechen als Versuch, "der Sprache ihre Würde zurück zu geben" und "zärtlich und genau" zu sein:
    "Zärtlichkeit heiß für mich: das Lebendige auch in seinen unauffälligen Formen und Äußerungen wichtig zu nehmen. Insofern ist Lyrik die Sprachform der Zärtlichkeit: ein Haar, ein Blick, ein Blatt werden in ihr unendlich wichtig, werden Epiphanien des Lebens überhaupt."
    deine wehrlosigkeit
    deine erstickbarkeit
    o gott des lebendigen atems
    warum ach hast du
    dich selbst und alles was lebt
    auf atmen aufgebaut?
    eine welt aus hauch nur -
    wie leicht
    haucht sie aus
    Literatur:
    • Kurt Marti: Der Traum, geboren zu sein, Ausgewählte Gedichte, Nagel & Kimche im Hanser Verlag München 2003
    • Kurt Marti: Leichenreden, Nagel & Kimche Zürich 2001
    • Grenzverkehr – Beiträge zum Werk Kurt Martis, Herausgeben von Pierre Bühler und Andreas Mautz, Wallstein Verlag Göttingen 2016