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Der Schwimmer

Als Katalin im Spätherbst 1956 ihren Mann verlässt und ohne ein Abschiedswort aus Ungarn weggeht, da gerät für Kálmán und die beiden Kinder Kata und Isti die Welt aus den Fugen, während alles um sie herum zur gleichen Zeit erstarrt. Lähmung überzieht nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands das Land, als Kálmán Haus und Hof verkauft und mit Kata und Isti von einem Verwandten zum anderen zieht und bleibt, so lange es sich einrichten lässt, erst in Budapest bei Tante Manci, dann im Osten des Landes bei Cousine Zsófi, weiter bei Zoltán, Ági und Virág am Plattensee und schließlich bei Großmutter Anna im Nordosten, kurz vor der nächsten Grenze. Zsuzsa Bánk erzählt in ihrem Debütroman Der Schwimmer, für den ihr nicht ohne Grund der Aspekte-Literaturpreis verliehen wurde, von der Stimmung in einem Land, das aus der Zeit herausgefallen ist, und sie tut dies anhand der Geschichte von Kálmán und seinen beiden Kindern, die aufgrund des Verlusts, den sie erfahren haben, und der Bewegung, in die ihr Leben dadurch geraten ist, ganz besonders empfindsam sind für die Atmosphäre des Stillstands ringsum. Eine Atmosphäre, die die 1965 in Frankfurt am Main geborenen Autorin gut kennt, weil sie schon als Kind oft mit ihren Eltern bei der Familie in Ungarn war:

Katharina Narbutovic |
    Was ich schreiben wollte, war eben über die Stimmung in diesem Land, die ich auch in den späten Sechzigern und in den Siebzigern selbst wahrgenommen habe. Es war eine Stimmung des Stillstands, des Wartens, der absoluten Bewegungslosigkeit, das fand ich immer erstaunlich, es geschah im Grunde nichts. Alles stand still, und man lebte ein sehr langsames Leben. Und es ist eine Stimmung der Traurigkeit, der Melancholie, der Sehnsucht auch. Ich denke, als Kind nimmt man gerade solche Stimmungen wahr. Das war wirklich wie ein Eintauchen in eine merkwürdige, starre Welt.

    Zsuzsa Bánk schreibt über eine Welt, die sie kennt, aber sie breitet weder die Geschichte ihrer Kindheit noch die Geschichte ihrer Familie aus. Das unterscheidet ihren Roman Der Schwimmer merklich von vielen Debüts der letzten Jahre, denn er geht über die kleine Welt der privaten Geschichte weit hinaus. Zsuzsa Bánk zielt auf eine andere Ebene. Ihre Kapitel bauen sich aus einer Kette von mehr oder weniger kurzen Passagen auf, die sprachlich dicht gearbeitet sind und die es ermöglichen, die unterschiedlichsten Blickwinkel, Charaktere und Lebensgeschichten ins Buch zu holen. Am Ende steht das Mosaik einer Zeit, die nicht die ihre ist, steht eine ganze Lebenswelt: die Welt eines Dioramas, eines Lebens in der Zeitlosigkeit, mit Figuren, die im Spannungsfeld von Stillstand und Bewegung stehen und die es bedrückt, nicht aus ihrer Schaukastenwelt ausbrechen zu können.

    Am schlimmsten ist Katalins Weggang für den Vater und für Isti. Beide leiden darunter, zurückgelassen worden zu sein, beide können ihren Schmerz nicht artikulieren, beide ziehen sich in ihre Welt zurück. Und beide sind sie Schwimmer. Bánk:

    Das Schwimmen ist eine bestimmte Art, zumindest dort in dieser Zeit sich irgendwie zu bewegen. Also, diese Bewegungslosigkeit und Starre irgendwie aufzubrechen. Und es ist auch eine Möglichkeit, sich zu entfernen. Man kann an diesem See, wenn man die Dinge nicht erträgt, einfach ins Wasser springen und wegschwimmen, aber es ist kein Sich-Befreien. Das ist eine Möglichkeit des Innehaltens, also kurz den Dingen zu entkommen. Und eine andere Möglichkeit, sich zu bewegen, oder überhaupt den Dingen zu entkommen, die gibt es nicht. Also, in diesem Leben, das da gelebt wird, gerade von diesem Vater Kálmán und den Kindern, ist ein Glück oder eine Intensitätssteigerung eigentlich kaum möglich. Das erfahren Vater und Sohn eigentlich nur im Wasser.

    Vater und Sohn sind zwei Varianten eines ähnlichen Typs, doch sie haben eine unterschiedliche Art, mit ihrem Schmerz umzugehen. Der Vater schleppt die Kinder wie ein Anhängsel mit durch sein Leben, überlässt sie sich selbst, wird hart und verständnislos, taucht weg aus dem Alltag und hängt stundenlang seinen Gedanken nach. Auch Isti reagiert auf Verletzungen, indem er sich in seine Welt zurückzieht, doch er ist so zart und feinfühlig, dass er sich dabei immer mehr in seiner Traumwelt verliert und anfängt Dinge zu hören, die keinen Laut von sich geben, oder in einer Sprache zu reden, die nur er versteht. Kata leidet gleichfalls unter dem Weggang ihrer Mutter, doch die Angst, als nächstes auch noch Isti zu verlieren, legt sich über diesen Schmerz. Kata versucht, ihren kleinen Bruder so gut es geht vor der Katastrophe zu bewahren und wird notgedrungen zur Vernünftigen in der Familie. Und sie ist die einzige, die die Außenwelt und die Menschen um sich herum wahrnimmt, sie ist der Resonanzboden für die vielen Geschichten und Biographien, sie ist die Ich-Erzählerin des Buchs.

    Zsuzsa Bánk hat für Kata eine Mischung aus Kinderperspektive und Sicht der bereits erwachsenen jungen Frau gewählt. Und es ist vor allem dieser Filter der kindlichen Wahrnehmung, der Blick des Kindes, der so manches wundersame Detail registriert, Charaktere mit zwei, drei Strichen entstehen lässt und den Figuren eine kleine Verschrobenheit verleiht. Überhaupt bevorzugt Zsuzsa Bánk die leichte Andeutung, die der Phantasie des Lesers Raum läßt, es wird nichts groß erklärt, es wird nicht psychologisiert, die Figuren sind wie sie sind. Bánk:

    Diese ganzen verschrobenen Figuren und die ganzen Absonderlichkeiten, das, ich glaube, das gefiel mir auch in Ungarn immer so gut, dass alle irgendwie mitgeschleppt wurden. Also, es gab da keine Ausgrenzung. Und ich habe versucht, das so im Buch auch einzubauen. Die Menschen entfernen sich nicht von ihrem Schicksal, sie leben mit ihrem Schicksal, sie kehren diesem Schicksal, das sie haben, nicht den Rücken.

    Die gescheiterten Hoffnungen, die gebremsten Gefühle, die zerbrochenen Lebensläufe, sie haben sich als Schleier von Melancholie über alles gelegt. Die tragische Erfahrung des gescheiterten politischen Aufbruchs zieht sich in Zsuzsa Bánks Roman hinein bis in jede Familie und färbt die Stimmung ringsum. Jahreszahlen oder Ortsnamen sind im Roman "Der Schwimmer" nur selten genannt, das Buch könnte auch an einem anderen Ort angesiedelt sein, in einem ähnlichen Land. Und so ist es nur konsequent, dass der Roman mit der Niederschlagung des Prager Frühlings endet - und mit dem Tod von Isti. Bánk:

    Es ist kein politisches Buch, aber es spielt vor diesem politischen Hintergrund. Und ich wusste von Anfang an, ich möchte das zeitlich auch so ansiedeln, dass es in diese Zeit der völligen Bewegungslosigkeit fällt. Und das sind für mich die beiden historischen Eckpfeiler. Es fängt an mit einer großen politischen Enttäuschung, mit einer entsetzlichen Katastrophe, und es endet auch wieder mit einer entsetzlichen politischen Katastrophe. Also, dieser Aufbruchsversuch am Anfang scheitert kläglich, und ganz am Ende ist es wieder so. Die Geschichte der Erzählerin ist umgeben von politischen Hoffnungslosigkeiten und dem Versuch, etwas zu bewegen, etwas zu verändern, und dieser Versuch scheitert beide Male ganz entsetzlich. Und für diese Stimmung, die ich beschreiben wollte, diese Stimmung der Bewegungslosigkeit und des Verharrens, war es für mich ganz wichtig, diese beiden historischen Eckpfeiler zu setzen.