Früher galten synästhetische Fähigkeiten als krankhaft, wurden häufig verschwiegen. Aber heute sind sie in ihrer Besonderheit anerkannt, vor allem als Quelle für künstlerische Inspiration. Die Autorin, selber ausgeprägte Synästhetikerin, berichtet aus ihren persönlichen Erfahrungen. Auch über die Gefährdungen, die diese ererbte Gabe mit sich bringt, den Reichtum, den Humor, die Arbeit zwischen Kunst und Forschung.
Marleen Stoessel ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitete als Hochschuldozentin, Dramaturgin und Theaterregisseurin und schreibt unter anderem für Essay und Diskurs.
Diese Sendung wurde erstmals am 25. Dezember 2014 ausgestrahlt.
Was auf die einsame Insel mitnehmen, damit es nie langweilig wird? Wie wäre es mit „Die Dinge des Lebens“, dem Essay-, Hörspiel- und Featureprogramm für den Sommer? In 13 Kapiteln geht es hier um alle großen Lebens-Themen: um Kindheit, Liebe, Drogen, Familie, Sex, Reisen und zuletzt auch um den Tod. Um Anfänge und Abschiede. Und um alles, was dazwischen passiert. „Die Dinge des Lebens“ ist eine Sendereihe in Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur von Anfang Juli bis Ende September 2023.
Vor mir steht seit meinen Studienjahren und den Anfängen des Schreibens ein Gegenstand, den ich „Odradek“ nenne. Ein Rätselding, das aus Kafkas Erzählung Die Sorge des Hausvaters offenbar in meine Schreibewerkstatt hinübergewandert ist. Kafka beschreibt ihn als ein Ding, ein Wesen, das sich eher an vergessenen Orten aufhält, in staubigen Winkeln, an Treppengeländern, das plötzlich auftaucht und wieder verschwindet, das ohne Lungen und Atem zu sein scheint, ein bisschen verfilzt und zerlumpt, fadenscheinig und das man wie ein Kind anspricht. Fragt man dieses Ding, wie es heißt, so sagt es: „Odradek“, und wo es wohne: „Unbestimmter Wohnsitz“, und dabei lacht es. Möge es keiner weiter ausfragen und erklären wollen!
„Mein“ Odradek ist fraglos ein synästhetisches Gebilde: Es ist ein alter brauner Radiergummi, in dessen Mitte ein kleiner dunkelblauer Stahlnagel mit einem Messingköpfchen steckt, dahinter ist gleich einer kleinen Stütze eine Messingklammer wie für die Umschläge von Büchersendungen draufgeklemmt, und an diese Klammer sind verschiedene Garn- und Wollstücke aneinandergeknotet, die ich in großen Abständen immer mal wieder ersetze oder auch mit irgendwelchen Resten, die ich nicht wegwerfen will, ansetze. Ebenso die weißen oder grauen Flaumfederchen, die ebenfalls in der Metallklammer stecken. Der lange, x-fach verknotete Faden schleift hinterher - ich lege ihn immer in runde, schöne Wellen.
Dieses seltsame, fantastische Gebilde ist für mich der Inbegriff, das Inbild, die Figur des Schreibens: ein Weberschiffchen, der Nagelstift sein Kapitän auf dem Wellengeflecht des Meers, in den Federchen der Wind. Im synästhetischen Bündnis der Dinge ist es dies alles zugleich: Gestalt der Urarbeit des Flechtens und Webens, des Reihens der Buchstaben und Chiffren, des Knüpfens des Textes, der sich endlos und farbig in die Welt einschreibt und über sie hinaus, mit nachschlurfendem Faden, bis der lungenlose Atem im Namen der Dinge Ton wird und schwingt. Im Namen auch all des Vergessenen, das aus der gnadenlosen Logik des Habens und Siegens herausgefallen ist.
Synästhesie - ein Wort so luftig wie ein seidenes Gewebe, rötlich schimmernd, Y und I sticken etwas Gold und Gelb hinein. Es ist ein schönes, rhythmisch ausschwingendes Wort - selbst das für meine Ohren empfindliche Ä fügt sich mit einem bläulich-lila Streif harmonisch in das zarte Klanggebilde ein. Alle Vorsilben mit „Syn“ oder „Sym“ haben für mich diese gelb-rot-goldene Tönung. Eingedunkelt und kompakt gerundet erscheint sie in dem Wort „Symbol“. Härtere Kontur wiederum gewinnt die Silbe in dem Wort „Symmetrie“, dem alles Gewebeartige abhanden ist - auch der Goldton des Y hat sich im Doppel-M seiner Mitte förmlich eingedickt zu einem Braun-Orange, bevor die Wortform im anlautenden grünstichigen „tr“, der dritten, jetzt hart-gelben Silbe sich scharf abgrenzt, konturiert und dann auflöst.
Silben, Wörter, Namen, Buchstaben sind seit je Farb- und Klangereignisse für mich, manchmal stofflich fühlbar in Form, Haut, Textur und Gestalt. Ebenso Wochentage, die Monatsnamen, Jahreszeiten, sowie Zahlen und ihre Einheiten wie die Jahrhunderte oder Dekaden. Und immer auch Stimmen, Instrumente, manchmal auch Töne, einzelne Phrasen, Intervalle oder der Nachhall eines Musikstücks, bevor der Applaus das Klangbild zerbricht. Auch der Geschmackssinn ist betroffen - Nahrungsmittel, Getränke und Gerüche lösen stets mehr oder weniger starke Farb- und Formvorstellungen auf meiner inneren Leinwand aus, auch sie oft verbunden mit stofflich‑taktiler Qualität.
„Schwingung“ - dies ist für mich das Zauberwort, das den Sesam der synästhetischen Erfahrung öffnet, den fantastischen Schatz aufschließt, der aus dem „Mitempfinden“, dem identischen Zusammenfall, Zusammenklang verschiedener Sinne, ihrem Miteinanderschwingen geboren wird. Ein Schatz voller Poesie, eine eigene Welt voller Reichtümer, die keiner Drogen bedarf. Diese ererbte Gabe ist ein Geschenk, das mir lange Zeit nicht bewusst, sondern selbstverständlicher Begleiter jeglicher Wahrnehmung war.
Nehmen wir die Zahlen. Natürlich sind das Wesen, Wesenheiten, kleinere oder größere „Persönlichkeiten“ mit Farben und Charakter, mir mal mehr, mal minder sympathisch. Sie sind Realien, Realitäten, keine Abstraktionen - weshalb mir der alte philosophische Universalienstreit immer unverständlich blieb. Wie die Buchstaben, so sind auch die Zahlen ein Kosmos für sich, und manche teilen miteinander einzelne Farben und Tonwerte. Die 1 ist eine anthrazitfarbene, leicht aufgeraute, aufrechte Gestalt - schmucklos und sehr ernst, als spüre sie die Verantwortung als Anführerin der ihr folgenden Zahlenherde. Die 2, von sanftem Ocker mit einem Schimmer Rosé darin, schwimmt versonnen dahin wie eine Ente. Die 3 ist lilienfarben, sehr rein, sehr heilig, sonntäglich. Obwohl der Duft von Lilien mir Atemnot bereitet, wirkt in der 3 nur ihr milde strahlendes Blütenweiß. Die 4 - eine wichtige Lebenszahl und lange meine Lieblingszahl - ist tief blau, veilchenblau.
Meine absolute Lieblingszahl aber ist die 7. Wann sie die 4 ausgestochen hat oder ob sie schon immer, wie ich vermute, neben ihr herlief, weiß ich nicht. Die 7 ist grün. Wiesengrün. Paradiesisch grün. Metaphysisch grün. Auch wenn es mir eine Weile so schien - 4 und 7, Dunkelblau und Wiesengrün, sie konkurrieren nicht, so wenig wie die Veilchen konkurrieren mit der Wiese, in deren feuchten Gründen sie ihrer Entdeckung harren. Vom vierblättrigen Kleeblatt, dessen geheime Winkel Kinderwissen sind, zu schweigen.
Natürlich gibt es noch mehr Lieblingszahlen, die es auch nur sein können, weil einige andere es nicht sind. So habe ich ein schwieriges Verhältnis zur 8. Sie ist magentafarben - eine Farbe, die zu grellem Pink gesteigert, mir ein wirkliches Ärgernis ist. Ohne derartige Steigerung aber bewahrt die 8 eine gewisse Zurückhaltung, ihr blauroter Mischton hält auf Abstand.
Ebenso faszinierend wie unheimlich ist die 9. Fast schwarz - ist sie die Todeszahl. Tod und Vollendung. Schwarze Verhüllung. Transzendenz. Daher die Faszination. Ein Rest von Blau wirkt noch darin. In der 19 aber hat die 9 alles Transzendente verloren. Diesseitig, ohne jeden Farbenhof, unansehnlich in ihrem stumpfen Schwarz, erinnert sie nur noch an die physische Seite des Tods. Ein Abschied.
Wiederum eine Lieblingszahl ist die 12, mit einer weiteren Lieblingsfarbe: dem Goldbraun-Bronzeton. Die ocker-roséfarbene 2 hat sich hier gewissermaßen vergoldet, vergrößert, gewölbt und gerundet - statt des schwimmenden Entleins lagert hier majestätisch: ein Löwe! Zugleich ist bei der 12, mehr als bei den anderen Zahlen, der Unterschied wichtig, ob sie sich mir als Ziffer oder als Wort präsentiert. Im Klang sind beide gleich, als Ziffer jedoch erscheint mir die 12 nur goldbraun, wie ein gebackenes Brötchen. Als ausgeschriebenes Wort aber ist die zwölf der Löwe: dahingelagert mit seinem schweren Rumpf und dem mächtigen Kopf mit der Mähne - der sich um den Wortleib schmiegende Schweif mit der krausen Quaste läuft sinnfällig aus im grau-lila Buchstaben F. Zwölf: ein hoch sich wölbendes und zugleich in sich ruhendes Wort. Goldbraun, mähnenstolz, majestätisch, wunderschön. Von löwenhafter Evidenz.
Das alles mag auf den Nicht-Synästhetiker kindlich, gar infantil, mitunter kitschig wirken, vielleicht aber auch spielerisch, poetisch, manchmal auch onomatopoetisch, auf jeden Fall fantastisch und leicht verrückt. Da sich all diese verschiedenen Sinneseindrücke ungefragt, zwangsläufig einstellen und mir immer selbstverständlich waren, war mir ihre Besonderheit und, ja, auch ihre Verrücktheit über lange Jahre nicht oder nur halb bewusst. Vor allem betrachtete ich sie als Spiel, als poetische Kreativität, als Merkmal aller wahren Dichtung, in der ich auch ständig dafür die Bestätigung suchte und fand.
Für diese künstlerische Betrachtung der Anlage wird indessen ein Unterschied bedeutsam, über den sich die Forschung, genauer die Hirnforschung noch nicht einig ist. Anders als der amerikanische Pionier der Synästhesieforschung Richard E. Cytowicz unterscheidet der Hannoveraner Neurologe Hinderk Emrich zwei Formen der Synästhesie, die für ihre kreative Umbildung interessant sein können. Emrich unterscheidet die genuine Synästhesie, die relativ selten vorkommt, von einer weiter gefassten gefühlsmäßigen Synästhesie, welche die genuine wohl immer begleitet, nicht aber umgekehrt. Einleuchtend, sofern poetische oder künstlerische Kreativität ja keineswegs an eine primäre Synästhesie gebunden sein muss, diese aber sicher eine Quelle für die andere darstellt. Möglich, ja wahrscheinlich, dass dabei auch fließende Übergänge sind, so wie in einigen der Zahlenwesen, wie sie mir erscheinen.
Der entscheidende Unterschied zwischen der primären, genuinen Synästhesie und jener weiter gefassten Form liegt in der Tatsache, dass das Bild, die Farbe, der Klang, die der genuine Synästhet unwillkürlich mit dem Sinneseindruck verbindet und unwillentlich als deren Identität erlebt, nicht-metaphorisch sind, während der Dichter willentlich seine Assoziationen erzeugen und als Metaphern einsetzen kann. Das führt auf komplizierte und bisher nicht geklärte Sprach- und Bildentstehungsvorgänge, in denen sowohl onomatopoetische, also lautmalerische Eindrücke sich mit vollständig verwandelten, das heißt mimetisch nicht mehr nachvollziehbaren Vorstellungen verknüpfen. „Unsinnliche Ähnlichkeit“ nannte es der Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin, der vermutlich ein Synästhetiker war, so wie sein Vorbild Proust, oder wie Nabokov, der ausführlich in seinen Erinnerungen seine graphemische Synästhesie beschrieb. Oder wie die Dichter Else Lasker‑Schüler und Georg Trakl, vermutlich auch Goethe, um nur einige unserer großen Dichter zu nennen.
Wie sehr noch weiter gefasste Synästhesien unseren Alltag und die alltägliche Erfahrung prägen, machen nicht nur unsere Geschmacksknospen auf der Zunge deutlich, sondern ebenso die Assoziationen von Rot mit Wärme und Blau mit Kälte. Farbtöne erscheinen uns daher als warm oder kalt. Oder man denke an die räumliche Zuordnung von Tönen zu hoch und tief. Jede Musikkritik ist voller synästhetischer Allusionen - verständlich, weil Musik von allen Künsten am wenigsten verbalisierbar ist. Zugleich lehrt uns nichts mehr als die Musik, wie sehr uns Immaterielles zu berühren vermag.
Auch die Werbung hat sich längst jener unbewusst wirkenden Allgemeinsynästhesien angenommen, die uns ohne unser Wissen ständig manipulieren. Gezielt spielt sie mit jenen unbewussten Sinnesverknüpfungen, die für alle gelten - anders als die Eindrücke bei der genuin erlebten Synästhesie, die nicht übertragbar sind. Weshalb der Forscher Cytowicz, entgegen Emrich, auch nur die genuine Synästhesie als Faktum, sprich als hirnphysiologisch nachweisbares Faktum gelten lässt und ihren nicht-metaphorischen Charakter betont. Nur reiner Zufall ist es, wenn einem anderen die 7 auch grün erscheint.
Jeder Synästhetiker hat so seine eigene, völlig individuelle und darum nur schwer kommunizierbare Welt, was bei vielen eine mehr oder minder ausgeprägte Einsamkeit zur Folge hat, unter der sie mehr oder minder leiden. Leiden auch, weil bei dem Versuch einer Mitteilung ihrer Erfahrung sie oft auf Ablehnung, zumindest Unverständnis stoßen. Die fast unmögliche Mitteilbarkeit auf der einen Seite, das mangelnde Verständnis, wenn nicht Unverständnis und Kopfschütteln auf der anderen, ziehen eng die Grenzen solcher Einsamkeit. Zu früheren Zeiten wurden solche Mitteilungen schnell als Zeichen einer mentalen Krankheit gewertet - auch heute fühlen sich viele Synästhetiker als Außenseiter, empfinden ihr Anderssein, das immer auch ein Stigma ist. Amüsiert indessen erinnere ich mich der Verblüffung, die ein Freund einmal zeigte, als ich ihn nach der Farbe der 7 fragte. Als käme ich von einem anderen Stern, so fassungslos sah er mich an.
Kehrseite dieser Einsamkeit, dieser Erfahrung des Andersseins ist der innere Reichtum, mit dem diese Anlage belohnt. Über lange Jahre habe ich sie vor allem im Echo der Kunst, der Musik und der Literatur wahrgenommen, mich begeistert, wenn Beckett schreibt „Listen to the light now“ - „Höre dem Licht zu - horche auf das Licht - höre jetzt das Licht an“ - eine Wendung, die keine primär synästhetische zu sein braucht, sondern schon jene poetisch weitergetriebene, verwandelte sein mag, aber doch ihrem Ursprung der verknüpften Sinne noch nahe ist.
Wenn indes Rimbaud in seinem Gedicht Voyelles das E als weiß, das I als rot, das O als blau beschreibt, so hat das mit meinem Farberlebnis dieser Laute nichts zu tun. Einzig das in französischer Lautung als Ü gesprochene U ist auch bei mir grün, während das deutsche, nicht umlautende U von weichem Nebelgrau ist. Baudelaires Correspondancesstehen meiner Erfahrung näher, da sie keine konkreten, sprich individuellen Synästhesien mehr benennen, sondern lautmalerisch den Echoklang, die Korrespondenzen, die verwandten Beziehungen zwischen Mensch und Natur aufrufen, somit die eigenen Farbempfindungen nur wecken, nicht sie fixieren. Da jeder genuine Synästhetiker seine eigenen unablöslich mit dem Sinnesreiz verknüpften Vorstellungen hat, zögerte ich zunächst auch, die Berichte anderer Synästhetiker zu lesen. Ich wollte nicht hören: Die 7 ist rot. Nein, sie ist durch und durch grün. Und auch das A ist nicht rot, sondern von stählernem Schwarzblau.
Die Fixiertheit dieser Vorstellungen erklärt zugleich die übergroße Empfindlichkeit, die beispielsweise beim Schreiben am Werk ist, so wie beim Komponieren oder Malen auch. Jeder fremde Eingriff in Wortwahl, Laut und Rhythmus kann geradezu als Verletzung, als physischer Schmerz empfunden werden. Wie für jeden Künstler, können auch einem schreibenden Synästhetiker Textgestalt, Drucksatz und Schrifttype nicht gleichgültig sein, so wenig wie Cover und Farbe seiner Bücher, da sie untrennbarer Teil des Werkes sind.
„Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen“, so reimte einst der Synästhetiker und Humorist Christian Morgenstern. Hatte er nicht recht? O doch, so bin ich überzeugt, diese Behauptung hat auch für den Nicht-Synästheten ebensolche Evidenz wie für mich. Denn genauso hat der liebe Gott die Möwe geschaffen. Adam, der erste Onomatopoet, gab ihr auf Geheiß seines Schöpfers in allen Sprachen der Erde und der Vögel den Namen „Möwe“, was im Deutschen dann schlicht „Emma“ heißt. Natürlich war, ist der liebe Gott ein Synästhetiker, der aus einem erdfarbenen, staubfeinen Krümel Nichts die vielfarbige, vielstimmige Welt erschuf. Und der uns bei der Vertreibung aus dem Paradies den Humor mitgab, als unverzichtbares Elixier und geistige Waffe, die einzige, die unseres unvollkommenen Menschseins würdig ist.
Denn wir und der liebe Gott wissen auch: Es gibt noch eine andere Logik als 2 x 2 = 4. Man schaue nur mal genau hin: Sind das nicht zwei beigerosa Enten, die sich, einmal mit sich selber gekreuzt, als Veilchen wiederfinden? Und der Löwe, die Zwölf, hat drei Veilchen im Maul, und sechs Enten schwimmen friedlich um ihn herum auf der grünen paradiesischen Wiese. Verstanden? Aber man braucht es nicht zu verstehen. Man schließe nur die Augen und schaue! Formale Logik ist das eine - Schauen das andere! „Phänomenologische Meditation“ nennt man es auch. Und natürlich versteht sich der Synästhet auch mit den Kindern gut. Soll doch jedes Kleinkind wie die Katzenjungen noch synästhetisch veranlagt sein und diese kostbare Gabe nach sechs Monaten wieder verlieren. Fraglos der Grund für die graue, trostlose Erwachsenenwelt, in der ausschließlich gilt, dass 2 x 2 4 ist und dies die Grundlage allen Erfolgs, allen Gelderwerbs, allen Sinns.
Ich erinnere mich noch an mein erstes Schulzeugnis mit einer 1 im Rechnen, die dafür gegeben wurde, dass ich zu den Zahlen und Aufgaben so lustige Geschichten erzählte - zu einer Zeit also, als meine Gefährten ihre synästhetische Anlage schon längst wieder eingebüßt hatten. Während ich etwas später das schöne bauchige Wort „Gebürge“ mit ü statt mit i schrieb. Mein empörtes Beharren trug mir eine Ohrfeige der Lehrerin ein. Bis heute jedoch vermag ich nur in meiner Kinderschreibweise die echte schwangere Fülle zu erkennen, aus der das Gebürge, dieses goldbraune Wort, eine biblische Maus zu gebären vermag. Oder das Wort „Krise“. Als ich es erstmals in der Zeitung buchstabierte, fragte ich, wer die Krise sei. Nicht was. Die Antwort enttäuschte mich. Für mich war die Krise eine Hexe, die höhnisch lachend mit ihrem Besen über das Land fegt. Was mir aus der Kindheit gegen alle Enttäuschung blieb: das mit einer Wolke von graugelber Asche vorüberzischende Wort.
Cytowicz, der Fachmann, hatte herausgefunden, dass die synästhetischen Wahrnehmungen im limbischen System verankert sind, in jenem Gefühlszentrum des Gehirns, in dem unsere künstlerischen Anlagen und Wahrnehmungen gebildet und gesteuert werden. Diese Theorie ist umstritten. Evolutionsgeschichtlich gehört das limbische System zu den ältesten Teilen des menschlichen Gehirns. Was darüber spekulieren lässt, ob und wie sehr unsere Urahnen noch genuine Synästhetiker waren, so wie individualgeschichtlich das Kleinkind. Und wie weit auch Tiere, nicht nur die Katzenjungen, über diesen siebten Sinn verfügen mögen. Oder die „Savants“, deren Wahrnehmung und wundersame Gedächtnisleistungen die Hirnforschung bis heute so wenig enträtselt hat wie die Synästhesie.
Cytowicz hat darum den Synästhetikern auch eine Neigung zur Mystik nachgesagt. Ich weiß nicht, ob das für alle gilt. Sicher ist, dass sie nichts mit jener verschwommenen Esoterik der Räucherstäbchen zu tun hat, die mir nur Hustenreiz bereiten. Vielmehr erscheint mir diese Offenheit für mystische Erfahrung als Konsequenz eines Denkens, das die vorhandenen Verstandesgrenzen nicht nur kennt und respektiert, sondern sie zugleich lächelnd übersteigt. Denn in der synästhetischen Dimension offenbart sich exakt jenes Dritte, das die traditionelle, abendländische Logik seit Aristoteles ausschloss, so wie man das aus der Ordnung ausscherende Kind in die Ecke stellt und verbannt. A gleich A. A ist nicht gleich B. Ein Drittes gibt es nicht: Tertium non datur, so behauptet diese fantasielose Logik - tertium datur hingegen weiß es besser die Synästhesie.
Und noch viel mehr als nur ein Drittes, jenes tertium, ist ihr eigen. Was die Sinneslogik in scharfer eifersüchtiger Abgrenzung trennt: Das Sehen vom Hören, das Schmecken vom Tasten und Riechen - all dies fügt sich bei ihr zu neuer, anderer Identität, zu einer unendlich schwingenden Welt voller Wesenheiten, Realien des Geistes, des Traums und der Fantasie. Hat zwar jeder genuine Synästhet seine eigene Weltordnung, die nicht übertragbar, kaum mitteilbar und inkommensurabel ist, so treffen diese Siebensinnesgefährten sich doch, ob bewusst oder nicht, in der Erfahrung dieses tertium datur, das die Logik des Alltags verschiebt, buchstäblich ver-rückt - ja vielleicht auch in der Erfahrung eines mystisch zu nennenden tertium datur, welches das Tor öffnet zu einer anderen Welt.
In seiner jüngsten Inszenierung im Pariser Stammtheater, den „Bouffes du Nord" hat Peter Brook, der Groß- und Altmeister des Theaters, sich dem Thema der Synästhesie zugewandt. Zugleich knüpft der Titel der Aufführung The Valley of Astonishment an die alte persische Sufi-Legende, Attars Konferenz der Vögel an, die Brook vor mehreren Jahrzehnten mit seinem interkulturellen Ensemble erarbeitet und aufgeführt hat. Mit diesem aktuellen Ausflug in die Hirnforschung im Zeichen der sufischen Vogelreise hat Brook exakt die beiden Seiten der einen Medaille erfasst - jenen Nicht-Ort, wo Synästhesie, die wunderbaren Fähigkeiten des Gehirns und Mystik sich miteinander verbinden.
Inbegriff einer solchen Welt, der nicht die linear-kausale Hierarchie und Vertikalität unserer formalen Logik, sondern die horizontale, netzartig, ornamental und flächig sich ausbreitende Gesetzmäßigkeit entspricht, wo Analogien und Korrespondenzen Erfahrung und Denken prägen, wo Kette und Schuss die Koordinaten sind - Inbegriff und Bild dieser anderen Welt, Weltordnung stellt der echte alte orientalische Teppich dar: handgeknüpft, aus Pflanzenfarben geschaffen. Für mich seit je ein synästhetisches Ereignis, das Farbe und Form, Schrift und Klang auf einmal ist. Ein jedes Teppich-Bild ist hier eine Erzählung, stellt eine Komposition und immer auch ein kleines Abbild, einen Ausschnitt aus dem unendlichen Kosmos dar, in der ornamentalen Verschlingung jenem göttlich-kosmischen Gesetz folgend, in dem alles miteinander in Schwingung ist, sich als Schwingung fortsetzt, keiner territorialen Logik zugehörig, unausschöpflich, polyphon und vieldimensional. Stellen diese Teppiche zwar jeweils eigene landestypische Kompositionen dar, so reicht doch die Brücke, die sie sowohl sinnlich wie metaphorisch bilden, viel weiter als von Ost nach West, weil sie zugleich die Schwelle ist zu jener anderen Welt, in der die kriegerischen Grenzziehungen dieser Welt zunichte sind.
Der Synästhetiker - und ich spreche hier ebenso unerlaubt wie emphatisch im Namen meiner Gefährten - kann immer nur ein Weltbürger, ja Weltenbürger, ein Nomade dieser Welten und ihrer Grenzen, Grenzüberschreitungen sein. Nicht nur neue oder andere besondere Synapsen im Gehirn, sondern auch einen weiteren Blick, eine weiter gefasste Humanität mag man von ihnen erfahren - so wie es auf wunderbare Weise Brooks letzte Inszenierung gezeigt hat. Ja, es stimmt, wir „ticken“ etwas anders, sind anders, sind einsamer als viele, brauchen diese Einsamkeit aber auch als Schutz, um mit den stets ungefiltert einstürmenden Sinneseindrücken fertig zu werden.
Für jeden Synästhetiker sind die konkreten Vorstellungen andere, doch wortlos und verständig verbinden sich diese in ihrer Gesamterfahrung. Verbinden sich mit den traumhaften Erkundungen der Surrealisten ebenso wie mit Wahrträumen und hellsichtigen Erlebnissen, mit all den scheinbaren Zufällen und zufälligen Bezügen, die unser Unbewusstes weise herbeiführt - verbinden sich mit allem künstlerischen Tun, das über die Logik der Zwecke und Berechenbarkeiten hinausreicht. Je nach Art der Begabung schafft auch die synästhetische Anlage sich ihren eigenen Ausdruck. Was individuell so wenig mitteilbar scheint, vermittelt sich doch im Gemeinsamen dieser Anlage - als Erfahrung eines Anderen, Größeren, Weiteren, Farbigeren als es uns die Welt der puren Ratio und eng gesteckten Verstandesgrenzen zeigt. Auch Held Zettel in Shakespeares Traum hat es uns mitzuteilen versucht, so vergeblich wie wahr:
„The eye of man hath not heard, the ear of man hath not seen ...” Kein Zweifel, auch Shakespeare war, wer auch immer er war - ein Synästhetiker.