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Der Sinn des Gebens

Evolution bedeutet ständiger Kampf ums Überleben und um die Verbreitung der eigenen Gene. Gerne bedienen sich deshalb Egoisten der Sprache der Evolutionslehre, um ihr Verhalten zu begründen oder zu rechtfertigen. Aggression und Gier scheinen Produkte unserer biologischen Entwicklung, während Freundlichkeit und Freigiebigkeit biologisch wenig Sinn machen und dem Bereich der Kultur zugerechnet werden.

Rezension: Michael Lange |
    Mit dieser einseitigen Sichtweise räumt Stefan Klein gründlich auf. Zunächst erklärt er, wie das gemeinsame Jagen und anschließende Teilen der Beute in der Sippe die Grundlage bildete für den Erfolg der Menschheit. Nur gemeinsam waren unsere Vorfahren in der Lage, große Tiere wie Büffel oder Mammuts, zu erlegen, gegen die der einzelne Jäger keine Chance hatte. Es gab zwar auch den Wettbewerb der Jäger untereinander um Status oder Frauen, wichtiger aber war der gemeinsame Erfolg der Gruppe, denn er entschied über das Überleben.

    Stefan Klein vergleicht den Wettbewerb unter den Menschen mit einem Fußballteam. Es gibt zwar einen internen Streit um Stammplätze und Führungspositionen innerhalb der Mannschaft, über den Erfolg und die Karriere jedes einzelnen Spielers entscheidet aber letztlich das Zusammenspiel, der Teamgeist. Wer dazu nicht fähig ist, hat keine guten Karten und schadet letztlich sich selbst. So sind Altruismus und Freigiebigkeit ebenso Produkte der Evolution wie Egoismus und Gier. Der Ursprung des menschlichen Miteinanders liegt also nicht in der Kultur oder in der Religion, die unsere Natur bändigen muss, sondern ist ebenso Teil unserer Biologie wie der Wettstreit. Das Miteinander gehört ebenso zum Leben wie das Gegeneinander.

    Wer die Evolution zur Schlacht "Gen und Gen" oder sogar "Genträger gegen Genträger" stilisiert, kommt zu falschen Schlüssen. Soziale Lebewesen müssen kooperieren, um Erfolg zu haben, und sogar Gene müssen ihre Rolle im Zusammenspiel der Zelle finden. Erbanlagen, die sich auf Kosten anderer Gene verbreiten, fliegen langfristig gesehen aus dem Genom, denn sie schaden ihrem Organismus. Die gleichen Kräfte sieht Stefan Klein auf gesellschaftlicher Ebene am Werke. Denn unser Streben nach geregeltem Miteinander ist ein Grund für den Gerechtigkeitssinn. Die Menschheit strebt nach Normen, die das Miteinander der Individuen regeln und niemanden bevorzugen oder benachteiligen. Die Gruppen, die so zusammengeschweißt werden, werden in jüngster Zeit immer größer. Eine klare Abgrenzung von Sippen oder Nationen ist letztlich kontraproduktiv, wenn es um die Zukunft der Menschheit geht. Wir brauchen unsere kooperative Seite, um unseren Lebensraum zu erhalten und dem Klimawandel wirksam zu begegnen.

    So schlägt Stefan Klein die Brücke von der Genetik und der Neurobiologie über die Evolutionslehre und Kultur bis zu Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften. Er hat viele interessante Informationen aus verschiedenen Bereichen der Wissenschaft zusammengetragen, die zum großen Teil nicht neu sind. In der für ihn typischen, leicht verständlichen, aber auch stark vereinfachten Darstellung gewinnen sie neue Überzeugungskraft. Nach der Lektüre dieses Buches vergeht der Spaß am Egoismus, denn es bleibt kein Zweifel: Wer selbstsüchtig handelt, schadet letztlich sich selbst.

    Stefan Klein: Der Sinn des Gebens. Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit dem Egoismus nicht weiterkommen
    ISBN: 978-3-10-039614-3
    S.Fischer-Verlag, 336 Seiten, 18,95 Euro