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Der Skandal um Argentiniens Madres

Die "Mütter des Platzes der Mairevolution" in Argentinien gelten als unanfechtbare moralische Instanz im Land der ehemaligen Militärdiktatur. Viele Mütter der Opfer haben mutig Aufklärung verlangt. Nun sind diese Hüterinnen der Moral selbst ins Zwielicht geraten.

Von Peter B. Schumann | 18.06.2011
    Jeden Donnerstag Nachmittag demonstrieren sie – nun schon seit 34 Jahren – eine halbe Stunde lang auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast: die Mütter von der Plaza de Mayo. Sie wollen auch heute noch die Argentinier alarmieren für "die Ideale der Verschwundenen, die weiterleben!"

    Diese Frauen haben die Schrecken der Militärdiktatur erlitten und zahllose Angehörige verloren. Sie waren die Ersten und gehörten zu den Wenigen, die öffentlich Widerstand leisteten. Dafür wurden sie verfolgt, einige von ihnen sogar ermordet. Ihr Mut war beispielhaft für ähnliche Organisationen in Lateinamerika und anderen Teilen der Welt. In der späteren Demokratie forderten sie unaufhörlich die Bestrafung der Mörder, nachdem Präsident Menem Anfang der 90er-Jahre ihnen einen Freibrief ausgestellt hatte. Doch bei ihrer wöchentlichen Manifestation vor zwei Tagen waren ganze andere Töne auf der Plaza de Mayo zu hören.

    "Gestern hat die Justiz sämtliche Domizile der Madres durchsucht. Wir haben der Polizei alle Türen geöffnet. Die Unterlagen, die sie benötigten, nahmen sie an sich, denn sie benötigen sie, um die Verfluchten für immer hinter Gitter zu bringen."

    Hebe de Bonafini, die 82-jährige Vorsitzende der Organisation, meinte diesmal nicht die Verbrecher der Diktatur, sondern Kriminelle in ihren eigenen Reihen. Denn die Madres und vor allem die kämpferische Hebe de Bonafini sind in einen Korruptionsskandal bisher unbekannten Ausmaßes verwickelt. Sergio Schoklender – einer ihrer engsten Vertrauten und der Bevollmächtigte der Stiftung für Wohnungsbau – soll zusammen mit seinem Bruder Pablo einen Teil dieser öffentlichen Gelder veruntreut und damit private Geschäfte sowie ein Luxusleben finanziert haben. Wie war das möglich? Osvaldo Bayer, Schriftsteller und Menschenrechtler:

    "Die Madres haben vor Jahren eine eigene Universität geschaffen und auch eine Buchhandlung, einen Verlag, einen Radiosender usw. In der Universität hat Sergio Schoklender angefangen, zu arbeiten. Eines Tages legte er Hebe de Bonafini einen großen Plan vor, um Wohnungen für die Ärmsten zu bauen, die kein Dach über dem Kopf haben. Hebe war davon begeistert, und Schoklender begann in großem Stil, mit Geldern der Regierung den Wohnungsbau aufzuziehen."

    Das war vor acht Jahren. Damals wurde Nestór Kirchner Staatspräsident und profilierte sich vor allem durch sein Engagement für die Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur. Großzügig unterstützten er und später auch seine Nachfolgerin Cristiana de Kirchner die Organisation der Madres. In dieser Zeit sollen rund 130 Millionen Euro in das Bauprogramm mit dem Titel Gemeinsame Träume geflossen sein. Dafür wurden – nach offiziellen Daten – in den Elendsviertel im Großraum Buenos Aires und in verschiedenen Provinzen 4.800 Wohnungen, sechs Krankenhäuser, zwei Gesundheitszentren und eine Kindertagesstätte gebaut.
    Ein gigantisches Programm, durchgeführt im Auftrag der Madres von Sergio Schoklender mit Hilfe von 21 Firmen. Einige von ihnen benutzte er, um Millionenbeträge auf die Seite zu schaffen und sich dafür vier luxuriöse Anwesen, ein Flugzeug, fünf Yachten und zwei teure Sportwagen zu kaufen. Jahrelang ging der Betrug gut, bis der durch eine Anfrage im Parlament aufflog. Und seither fragen die Medien: Wieso kannte Hebe de Bonafini weder die Geschäfte von Sergio Schoklender noch dessen Luxusleben? Osvaldo Bayer:

    "Hebe hat betont, dass sie davon absolut nichts wusste. Und das glauben wir ihr auch. Denn die Madres sind sehr einfache Menschen, die keine Ahnung von Geschäften und vom Wohnungsbau haben. Es mag ihr Fehler gewesen sein, sich überhaupt auf so etwas eingelassen zu haben, anstatt sich auf ihren Kampf um die Menschenrechte zu beschränken und nur an die Regierung zu appellieren, Wohnungen für Obdachlose zu bauen."

    Die übergroße Nähe der Madres und vor allem Hebe de Bonafinis zur Regierung der Kirchners benutzt die konservativen Opposition in dieser Zeit des Wahlkampfs, um ihr jetzt unbequeme Fragen zu stellen. Zitate aus der Tageszeitung La Nación:

    "Ist Schoklender nur die Spitze eines Eisbergs von Korruption, in die viele 'Schoklenders' in Regierungsfunktion verwickelt sind? Weshalb hat das verantwortliche Planungsministerium seine Kontrollfunktion nicht ausgeübt? Hat es allzu blind der Menschenrechtsorganisation vertraut?"

    Welche Folgen dies für die Regierung und den Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Oktober haben wird, ist völlig offen. Zunächst richtet sich die öffentliche Kritik vor allem auf Hebe de Bonafini, die unermüdliche Vorsitzende der Madres. So entschieden sie einst für Schoklender eingetreten ist, so radikal hat sie nun den Bruch mit ihm und seiner "Bande" – wie sie sagt – vollzogen.

    "Das ist in erster Linie der Verrat Schoklenders. Die Stiftung hat damit nichts zu tun. Das ist ein Problem von Verrätern und Dieben. Das ist etwas ganz Anderes. Für mich ist wichtig, dass alles weiterläuft. Wir besitzen genügend Rücklagen, um alle Leute auf den Baustellen zu bezahlen. Wir haben reinen Tisch gemacht und die Verantwortlichen entlassen. Wer ins Gefängnis gehört, den schicken wir dorthin. Wir werden für alles aufkommen, was nötig ist."

    An der Integrität von Hebe de Bonafini und den Müttern von der Plaza de Mayo ist nicht zu zweifeln. Sie werden zusammen mit der Justiz für Aufklärung sorgen. Aber der Schatten Schoklenders wird auf dieser moralischen Instanz, dem Gewissen Argentiniens haften bleiben.