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Der Slogan hieß immer: "Das Volk will"

Als "Berufsoptimist" freut sich Volker Perthes, Direkter der Stiftung Wissenschaft und Politik, über 100 Millionen Menschen, die nach dem arabischen Frühling freier leben - und hofft auf eine weitere positive Entwicklung.

Volker Perthes im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: "Fürs Land, fürs Land" – der Refrain im Song von Rapper Hamada Ben Amor, er wurde im Verlauf des vergangenen Jahres nicht nur von Demonstranten gesungen, sondern bald auch von den vielen Unzufriedenen in Ägypten, in Bahrain, in Libyen und im Jemen.

    Am Telefon jetzt der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, guten Morgen, Volker Perthes.

    Volker Perthes: Guten Morgen, Herr Barenberg!

    Barenberg: Am 17. Dezember im vergangenen Jahr hat sich der 26-jährige Obsthändler Sidi Bouzid aus Protest mit Benzin übergossen, in Tunesien, und angezündet. Auch der Rapper Hamada Ben Amor ist in diesem Alter und auf den Aufnahmen vom Tahrir-Platz in Kairo und von den Kämpfen gegen Gaddafis Truppen in Libyen haben wir viele junge Männer gesehen und auch Frauen. Ist der arabische Frühling vor allem und in allererster Linie ein Aufstand der Jugend?

    Perthes: Er ist durchaus in erster Linie von einer Generation getragen worden und das ist die Generation der ungefähr 25-, oder 20- bis 35-Jährigen, also 15 Jahrgänge, die besonders geburtenstark sind, aber in den meisten arabischen Ländern auch besonders wenig Chancen gehabt haben. Sie haben weniger Chancen gehabt, einen Job zu bekommen, sie haben weniger Chancen gehabt, sich politisch zu beteiligen als die Generation, die älter ist als sie, aber auch als die Generation, die jünger ist als sie und die irgendwann es leichter haben werden, Jobs zu bekommen. Das ist die Generation, die die Aufstände und Revolten im Wesentlichen getragen hat, ja.

    Barenberg: Wenn wir uns die Region einmal vor Augen führen, Tunesien, Jemen, Bahrain, Ägypten, das sind ja alles sehr unterschiedliche Länder mit sehr unterschiedlichen Verhältnissen. Aber es gibt offenbar Gemeinsamkeiten?

    Perthes: Ja, eine ganze Menge. Und die sind von den Protestbewegungen auch sehr deutlich ausgedrückt worden in den Slogans, die fast überall die gleichen waren. Das war der eine Slogan, der immer hieß mit bestimmten lokalen Eigenheiten: Das Volk will. Das Volk will den Sturz des Regimes, das Volk will das Ende der Korruption, das Volk will Freiheit, das Volk will Gerechtigkeit. Das ist, wenn Sie so wollen, eine Wiederinbesitznahme des Staates durch die Bevölkerung, das ist eine Erklärung, dass nicht mehr die alten Regime, die autoritären Regime, die ja alle irgendwie autoritär waren, egal ob sie monarchisch oder republikanisch strukturiert waren, dass diese alten Regime das Volk und die Nation nicht mehr repräsentieren. In gewisser Weise kennen wir das ja von 20 Jahren vorher, als es in der damaligen DDR hieß: Wir sind das Volk.

    Barenberg: Vollständig sind diese alten autoritären Regime ja noch nicht überall abgeschüttelt. An die Stelle getreten ist eine neue Instabilität, eine neue Unsicherheit, Ungewissheit. Damit musste man ja auch rechnen, das war zu erwarten. Aber ist das ein Problem, eine Gefahr?

    Perthes: Ja, selbstverständlich. Die Revolution ist, oder die Revolution und Revolten sind noch nicht abgeschlossen. Aber ich glaube, da sollte man auch ein wenig strategische Geduld anlegen. Wenn wir sagen, die arabische Welt erlebt heute ihre historische Stunde, dann haben wir in diesem Jahr 2011 davon vielleicht die ersten fünf Minuten erlebt und wir müssen bei aller Ungeduld, auch wenn wir die Verhältnisse heute vergleichen mit denen vor genau einem Jahr, feststellen, dass heute mehr als 100 Millionen Menschen – und das ist ja eine ganze Menge –, mehr als 100 Millionen Menschen in der arabischen Welt freier leben, als das vor einem Jahr der Fall gewesen ist. Das hätten wir beide, wenn wir uns vor einem Jahr unterhalten hätten, wahrscheinlich nicht erwartet.

    Barenberg: Schauen wir nach Tunesien, schauen wir nach Ägypten: Dort hat es Wahlen gegeben beziehungsweise in Ägypten finden sie gerade noch statt. Und überall tritt auch das Erwartbare, das Erwartete ein, nämlich ein Sieg im Wesentlichen und große Erfolge bei den Wahlen der islamischen, der islamistischen Parteien. Das sorgt bei uns immer wieder für Diskussionen und die Frage, welchen Einfluss werden diese islamischen Parteien gewinnen auf die neuen Verhältnisse, die dort im Entstehen begriffen sind?

    Perthes: Ja, was Sie beschreiben, ist richtig. Der politische Islam scheint politisch der Sieger zu sein in vielen der Länder, wo jetzt Wahlen schon stattgefunden haben oder vielleicht in Zukunft stattfinden werden. Das gilt nicht nur für Ägypten und Tunesien, das gilt auch – das ist bei uns weniger beachtet worden – in Marokko, wo freiere Wahlen stattgefunden haben, und selbst in Kuwait. Hier spielen zwei Dinge eine Rolle: Zum einen sind die Parteien des politischen Islam, insbesondere das, was wir einen moderaten politischen Islam nennen können wie die Muslimbrüder, eben in der Vergangenheit in der Opposition gewesen, standen unter der Repression der Regime und haben dadurch zusammen mit einigen anderen liberalen Kräften, die im Exil waren, einen Glaubwürdigkeitsvorsprung vor vielen anderen Gruppen und Gruppierungen. Und zum Zweiten scheinen sie sozusagen einen Vorsprung in Sachen Moral zu haben. Man billigt ihnen zu, moralischer zu sein als die verkommenen, korrupten Regime. Denn viele der, nicht nur der jungen Leute, sondern vieler derer, die die Aufstände, Revolten unterstützt haben, haben als Hauptkritik an den alten Regimen nicht nur die politischen Verhältnisse, den Autoritarismus angeführt, sondern die moralische Verkommenheit der Regime und auch fast aller Institutionen bis hin zu den juristischen, den universitären und selbst den religiösen offiziellen Institutionen.

    Barenberg: Müssen, Herr Perthes, die Islamisten auf der anderen Seite jetzt auch liefern, haben sie etwas anzubieten, was zeitgemäß ist, was eben auf die Bedürfnisse, auf die offenen Fragen Antworten findet?

    Perthes: Ja, ich glaube, genau dieses Dilemma, was Sie beschrieben haben, ist das, was letztlich historisch auch positiv ist: Sie haben bislang noch wenig anzubieten, sie haben auch gar keine Erfahrung im Regieren, wo sollen sie die gewonnen haben, und sie werden jetzt getestet. Sie müssen zeigen in Tunesien, wo sie die Regierung übernommen haben in einer Koalitionsregierung, in Ägypten, wo sie sicherlich Verantwortung übernehmen werden, sie müssen zeigen, dass sie mit den Schwierigkeiten besser umgehen können, in denen sich ihre Länder befinden, als die Vorgängerregime. Sie müssen konkret zeigen, dass sie wissen, was man tut, um die Wirtschaft zu beleben, um ausländische und inländische Investitionen heranzuziehen, um Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, sie müssen Aussagen haben zu Tourismusförderung, zur Außenpolitik. All das haben sie bisher nicht gehabt. Das wird der große Test sein, auch der Test dafür, ob es demnächst Demonstrationen von hunderttausend gegen ihre Herrschaft gibt oder ob sie bei den nächsten Wahlen verlieren.

    Barenberg: Inwieweit kann in dieser Entwicklung, bei diesem Prozess die Türkei ein Vorbild sein? Immer wieder, wenn man über dieses Thema spricht, wird ja sozusagen die AKP von Tayyip Erdogan als quasi ein Vorbild, als eine Partei des gemäßigten Islam, die trotzdem sozusagen die Aspekte der westlichen Zivilisation aufgenommen hat, genannt. Trifft das zu?

    Perthes: Ja, das Interessante ist: Die Türkei ist sozusagen das Vorbild für fast alle Akteure in der arabischen Welt. Auf der einen Seite für die moderaten Islamisten, die gerne so etwas sein möchten wie die AKP und gerne auch ihren Wählern und dem Ausland zeigen wollen, dass sie so etwas sind wie die AKP. Aber es gibt auch andere gesellschaftliche Kräfte. Ich sage mal, die Generäle in Ägypten und Teile der säkularen Bürokratie, die sich auch gerne an der Türkei orientieren, aber an anderen historischen Phasen und an anderen Akteuren in der Türkei, etwa an den Generälen, die 1980 in der Türkei die Macht übernommen haben und dann ganz langsam die Schranken geöffnet haben zu einer parlamentarischen Regierung. Aber es ist richtig, dass das leuchtende Beispiel, wenn Sie so wollen, für viele der politischen Parteien die AKP ist. Nicht so sehr, weil sie aus islamischen Wurzeln kommt, sondern weil sie einfach erfolgreich ist, weil sie es geschafft hat, in den Jahren seit 2003 ein erhebliches Wirtschaftswachstum in der Türkei auf den Weg zu bringen und gleichzeitig mit einer im Grunde konservativen Gesellschaft es geschafft hat, ihr Land in die Globalisierung zu katapultieren. Das ist etwas, was gut ankommt, wo man sagt, wenn wir das auch könnten, dann hätten wir wahrscheinlich viele der Probleme, wegen derer Leute auch auf die Straße gegangen sind in Ägypten, Tunesien oder anderen Ländern, überwunden.

    Barenberg: In Ägypten kämpft die Freiheitsbewegung noch mit der Macht des Militärs, ebenso in Libyen, da sind die Machtverhältnisse auch noch nicht ganz geklärt. Im Jemen ist die Revolution unvollendet, Syrien steht auf der Kippe zum Bürgerkrieg. Sind Sie in einer ersten Zwischenbilanz nach diesem Jahr eher optimistisch oder eher pessimistisch, was die Zukunft angeht?

    Perthes: Ich bin ja gewissermaßen Berufsoptimist. Ich glaube, wenn wir es nicht schaffen, die positiven Elemente in Situationen zu sehen, dann fällt uns auch keine gute Politik ein, um die Hoffnung ein Stück weit realer zu machen, dass sich etwas Positives entwickelt. Wenn wir nur die negativen Entwicklungen sehen, dann danken wir wahrscheinlich auch politisch ab und sagen, da kann man sowieso nichts machen. Also, ich glaube, wie ich eingangs gesagt habe, dass 100 Millionen Menschen heute freier leben als vor einem Jahr, das ist Grund genug, optimistisch zu sein und dieser Region gegenüber auch mit einer offenen Politik als ein offenes Europa sich gegenüberzustellen und nicht nur aus Angst Barrikaden hochzuziehen.

    Barenberg: Volker Perthes, der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Danke schön für das Gespräch!

    Perthes: Herzlichen Dank auch!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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