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Der smarte Hausherr und der melancholische Klassiker

Es liegt ja auch nahe, diesen Anti-Helden den Regeln einer Versuchsanordnung zu unterwerfen - der Autor selber nahm das Stück nach der Uraufführung immer wieder in die Werkstatt zurück und kreierte neue Varianten; und auch grundsätzlich kommt es Tschechow-Kennern über weite Strecken vor wie aus zweiter Hand. Allerhand Motive und Marotten des titelgebenden Protagonisten etwa sind aus früheren Stücken des Dramatikers halbwegs bekannt - und gleich die komplette Konstruktion im Kern des Personals folgt beinahe blaupausengenau den "Vaterlosen", dem spät erst entdeckten und unter dem Titel "Platonow" uraufgeführten Erstlingsstück des Schülers Anton Pawlowitsch. "Iwanow" wird dann allerdings 1887 sozusagen zu dessen Hard-Core-Version - dieser "Greis von 30 Jahren", ehedem voller Visionen und Rosinen im Kopf und ein Himmelsstürmer der Gefühle, ist hier nicht (wie "Platonow") vor allem geschwächt von all der weiblichen Liebe und Lust, die er noch immer zu erwecken vermag; Iwanow verletzt (bei aller chronischen Untätigkeit, und als sei er manisch-depressiv) in heftigen Wutausbrüchen nahezu jeden in näherer Nachbarschaft - und wird gar knallhart zum Täter an der, die ihm am treuesten war.

Von Michael Laages |
    Noch da allerdings ist er voller Magie - Sarah, der Frau an seiner Seite, die seinetwegen vom jüdischen zu seinem Glauben übertrat und so das eigene Elternhaus verriet und verstoßen wurde, muss er nur offenbaren, dass sie bald sterben wird: prompt entfernt Tschechow sie tatsächlich aus dem Spiel. Und springt ein Jahr vorwärts zur geplanten neuerlichen Eheschließung Iwanows mit der kindlichen Tochter des besten Freundes. Da steigt allerdings auch diesem Charmebolzen die eigene Widerlichkeit über die Hutschnur - doch auch der Versuch, sich zu erschießen, geht (im Wortsinn) daneben. Wie bei Platonow, dem Vaterlosen, Jahre zuvor.

    So hin und her riss diese Titelfigur stets die Bearbeiter wie das Publikum, dass das Stück wie nicht zu Ende gedacht wirkt: oder eben wie ganz und gar und mehr als aller Tschechow sonst "wie von heute", also wie aus nicht mehr zur Gänze erklärbarer, aller einfachen Wahrheit entledigter Zeit. Hier setzt Matthias Hartmanns Bochumer Experiment an - und hier entwickelt es über etwas mehr als zwei pausenlose Stunden erstaunlich viel Energie.

    Um möglichst viel Distanz bemüht es sich etwa, um jede gemütliche Einfühlung zu vermeiden: wenn die Akteure die Akte ansagen, zuweilen auch ein paar Regie-Anweisungen hinzu fügen und obendrein so oft, als sei’s ein epischer Brecht, das was sie tun dem Publikum auch noch so deutlich zeigen und erklären, als sei’s von jemand anderem gespielt; wenn ab und zu mal jemand wie zur Demonstration und jenseits aller "Interpretation" wirklich überhaupt nicht dem Bild der Rolle entspricht; wenn die beiden ulkigen Party-Musiker erstens deutlich hörbar zum Ruhrpott-Heimspiel mit russisch-touristischem Dekor antreten, im übrigen aber zweitens mit immer der gleichen Langeweile glänzen; wenn schließlich gar Iwanow zum großen Selbsterkenntnis-Monolog ansetzt in einer Art virtuellem Dialog mit dem trickreich aus "echter" und vorproduzierter Video-Projektion zusammen gesetztem anderen Ich. Und dann spricht dieses andere Ich auch noch Texte des medialen Mode-Satyrs Peter Sloterdijk!


    Da kommt selbst Michael Maertens ein wenig ins Schwimmen, dieser große Komiker und Virtuose charmantester Brüche, seit dem Bochumer Beginn Matthias Hartmanns Lieblings-Protagonist, zuletzt aber auch der wilde Menschenfeind und Gegenwartsverächter in Claus Peymanns Berliner Blick auf Peter Handkes "Untertagblues". Zum grundsätzlichen Lebensekel dieses Winners aber, der ein im Grunde ein Loser ist, passt der Klarlack im vertrauten Maertens-Profil natürlich fabelhaft; und auch der verzweifelt heitere, sich selbst erniedrigende Ernst der todgeweihten Sarah ist bei Johanna Gastdorf gut aufgehoben, dieser wundersamen Hartmann-Muse seit hannoverscher Zeit. Wie überhaupt auch dieser Abend wieder einer ist, dessen größte Kraft im Ensemble liegt, im Zusammen-Sein: wo am wichtigsten immer alle sind.

    Ab und zu nur meldet sich die gute alte Skepsis zu Wort - und fragt, ob denn wohl all diese pfiffig montierten Verwirrungs- und Erklärungsmuster tatsächlich zusammen passen und dieser wünschenswerte Zusammen-Klang der Inszenierung dann eben auch eine Art gemeinsamer Grundidee überzuhelfen vermag. Sicher - das ist nicht ganz sicher.

    Aber das war es auch nicht immer in den dennoch meisterhaften Produktionen, die seit vielen Jahren hier zu Lande immer nur als Gastspiele auf Festivals gefragt sind und die Elizabeth Le Compte mit wechselndem Personal in der Theater-Garage der New Yorker "Wooster Group" erarbeitet. Hartmanns "Iwanow" folgt unübersehbar diesem Vor-Bild - als Versuch, auf dem vertrauten Obst-und-Gemüse-Acker des Stadttheaters ein ziemlich exotisches Pflänzchen zu setzen. Und das mag nun als blankes Epigonentum denunzieren wer will, und die Erfahrung sagt ja auch (und zu Recht), dass sich im Stadttheater gar nicht so produzieren lässt als sei hier ein "freie Gruppe" am Werk. Trotzdem - die Mühe, die Last und die Lust, die derlei Experiment in hochklassigen Ensembles wie diesem dann eben offenkundig doch frei zu setzen vermag, ist schon allein das Abenteuer wert.