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Der Staat in der Corona-Pandemie
Staatsrechtler Augsberg: Mehr Beteiligung des Bundestags wäre wichtig

Das Verfassungssystem habe sich in der Corona-Pandemie durchaus bewährt, sagte Staatsrechtler Steffen Augsberg im Dlf. Wichtig wäre es aber, wenn wichtige Entscheidungen im Bundestag diskutiert und auch dort getroffen würden. Nach gut einem Jahr in der Krisensituation sei dies inzwischen möglich.

Steffen Augsberg im Gespräch mit Gudula Geuther |
Steffen Augsberg,Staatsrechtler und Mitglied des Ethikrats blickt in die Kamera
Bei der Beteiligung des Parlaments könnte man mehr "proaktiv" vorgehen in der derzeitigen Pandemie-Situation, so der Staatsrechtler Steffen Augsberg (Imago)
Seine Expertise hat dem Staatsrechtler Steffen Augsberg unter anderem eine Berufung in den Deutschen Ethikrat beschert. Im Interview der Woche spricht er sich dafür aus, dass Grundrechts-Einschränkungen wegen der COVID-19-Pandemie vorab im Deutschen Bundestag diskutiert werden sollten. Wesentlichen Entscheidungen müssten in Form von paralamtarischen Gesetzen getroffen werden, so formuliere es das Bundesverfassungsgericht.
Es sei "unglücklich", dass solche Entscheidungen in der Coronakrise zunächst auf der Ebene der Exekutive, in Beratungen zwischen dem Bundeskanzleramt und den Ministerpräsidentenbüros, verabschiedet und dann erst im Bundestag vorgestellt würden. "Da leuchtet es ein, dass natürlich für die Bundestagsabgeordneten selbst, aber auch für uns als Bürger der Eindruck entstehen kann, hier wird man eigentlich nicht mehr ernst genommen als Parlamentarier, sondern das ist nur noch eine Pflichtübung, die im Prinzip keinen politischen Einfluss mehr signalisiert", sagte Augsberg.
Der Rechtswissenschaftler an der Justus-Liebig-Universität Gießen fordert zudem mehr gesetzliche Regelungen zur Festlegung der Impf-Reihenfolge. Der Ethikrat habe nur über die ersten Phasen der Corona-Impfkampagne entschieden. "Im Moment ist ja absehbar, dass wir auch in der nächsten Phase der Impfungen für die, die nicht in die ersten drei Priorisierungsstufen der Impfverordnung fallen, wieder überlegen müssen: Wer ist dann wann dran? Und jedenfalls das sollte doch jetzt bitteschön im Parlament diskutiert werden", meinte Augsberg. Dafür sei jetzt auch noch Zeit.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Gudula Geuther: Fast ein Jahr, nachdem die Covid-19-Pandemie Deutschland mit Macht erreicht hat, wird immer klarer: Das Ende ist noch nicht absehbar. Gleichzeitig sind die Strukturen der staatlichen Krisenbewältigung immer noch verschwommen und zum Teil umstritten. Wir wollen das einordnen mit einem, dessen Sachverstand als Experte im Ethikrat gefragt ist und der gleichzeitig das Krisenmanagement jenseits der parteipolitischen Bewertung als Staatsrechtslehrer von außen betrachtet. Herr Prof. Augsberg, man hat den Eindruck, dass trotz immer noch großer Zustimmung der Bevölkerung zu den Maßnahmen die allgemeine Genervtheit steigt. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann vergleicht das mit Kriegsmüdigkeit. Was folgt daraus für den politischen Umgang mit der Pandemie?
Steffen Augsberg: Ich glaube, das ist ein Problem, was natürlich eng damit zusammenhängt, dass wir einfach jetzt schon so lange in dieser Pandemie-Bekämpfung drinstecken, und dass es ja auch ein offensichtlicher Widerspruch ist, dass derzeit einerseits die Zahlen runtergehen und andererseits eine gewisse Durchhalterhetorik in der Politik sich breitmacht. Das hängt – das wissen wir – mit der Furcht vor Mutationen und der Furcht, dass wir das Erreichte wieder verlieren könnten, zusammen. Aber es muss natürlich trotzdem noch besser erklärt werden. Und da haben wir, glaube ich, auch tatsächlich gewisse Schwierigkeiten derzeit in der Politik.

Lockdown-Entscheidungsfindung: "unglückliche Sitation"

Geuther: Sie sagen: besser erklären. Der Ort dafür ist klassischerweise in der Demokratie ja vorrangig der Bundestag. Da hat in dieser Woche viel stattgefunden, am Donnerstag die Regierungserklärung der Kanzlerin zur erneuten Lockdown-Verlängerung. Am Freitag wurde zum ersten Mal über das Gesetz diskutiert, mit dem die epidemische Notlage verlängert werden soll. Und trotzdem lautet die Hauptkritik der Opposition, der Bundestag wird viel zu wenig einbezogen. Zu Recht?
Augsberg: Ja. Das muss man wohl leider so grosso modo bejahen. Es ist eine etwas unglückliche, auch in der symbolischen Wirkung unglückliche Situation, dass die Entscheidung erst auf Ebene der Exekutive, also zwischen Bundeskanzleramt und den Ministerpräsidentenbüros getroffen werden und dann das im Bundestag vorgestellt wird. Da leuchtet es ein, dass natürlich für die Bundestagsabgeordneten selbst, aber auch für uns als Bürger der Eindruck entstehen kann, hier wird man eigentlich nicht mehr ernst genommen als Parlamentarier, sondern das ist nur noch eine Pflichtübung, die im Prinzip keinen politischen Einfluss mehr signalisiert.
Peter Altmaier (CDU), Bundesminister für Wirtschaft und Energie, hält bei der Plenarsitzung im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zum Jahreswirtschaftsbericht. Die Hauptthemen der 206. Sitzung der 19. Legislaturperiode sind der Jahreswirtschaftsbericht, ein Gesetzentwurf zur höheren IT-Sicherheit bei kritischer Infrastruktur, die Verordnung zur Aufstellung von Wahlbewerbern unter Corona-Bedingungen und eine Aktuelle Stunde zur Schuldenbremse.
Altmaier (CDU): "Öffnungsschritte kommen, sobald sie gesundheitspolitisch vertretbar sind"
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) äußerte im Dlf Verständnis für Kritik an den Corona-Beschlüssen, verteidigte sie aber.
Geuther: Da gibt es ja verschiedene Antworten drauf. Sie sagen jetzt, es wird zuerst innerhalb der Exekutive entschieden und dann im Bundestag erklärt. Es gibt ja Teile der Opposition, unter anderem die FDP, die eben verlangen, dass Angela Merkel ihre Vorstellungen vor dem Treffen mit den Ministerpräsidenten zur Diskussion stellt. Ist das denn in der Konstellation überhaupt sinnvoll, wenn Sie danach erst anfängt, nur moderierend – sie hat ja selber keine Entscheidungsgewalt eigentlich in diesen Gremien – dann mit den Ministerpräsidenten zu sprechen?
Augsberg: Na ja, also, über die Entscheidungsgewalt der Kanzlerin in den Gremien kann man sich natürlich streiten. Ich vermute schon, dass sie da einen sehr, sehr starken Einfluss auch hat. Und so wird das ja auch irgendwie dann kolportiert, wenn es heißt, dass wir uns leider von Seiten des Kanzleramts mit bestimmten Vorstellungen doch nicht durchsetzen konnten. Also, da wird offensichtlich um manches gerungen. Aber ich glaube, die bloß moderierende Position würde die Funktion von Frau Merkel dann auch irgendwie etwas unterbewerten.
Aber was wir doch eigentlich uns vorstellen, ist, dass bestimmte Ideen und Vorschläge erst einmal präsentiert werden, geprüft werden, entsprechend auch Gegenvorschläge vorgestellt werden können. Und der Ort dafür ist in der Demokratie typischerweise das Parlament. Das funktioniert zugegebenermaßen unter den Bedingungen einer besonderen Herausforderung, insbesondere der besonderen Dynamik der Krise nicht ganz so wie normalerweise. Aber wir sind ja nun mittlerweile seit einem Jahr in der Krisensituation. Also, wir können nicht mehr ernsthaft behaupten, dass wir jeden Tag, jede Woche mit völlig neuen, unbekannten Herausforderungen zu tun haben, sondern manches kann man tatsächlich auch längerfristig vorbereiten. Und vieles, das scheint mir ganz zentral zu sein, müssten wir eben auch proaktiv angehen.

"Also, manches wirkt etwas unausgegoren"

Geuther: Und proaktiv angehen kann natürlich auch heißen, dass der Bundestag noch eine ganz andere Rolle bekäme: Nämlich, dass zuerst die Exekutive entscheidet und dann der Bundestag gefragt ist, ist ja eigentlich nicht die in der Demokratie vorgesehene Reihenfolge. Normalerweise wäre es ja so und in Ansätzen ist es ja auch so, dass der Bundestag Gesetze erlässt, der Exekutive den Rahmen gibt, den die dann ausfüllen muss. Das hat der Bundestag ja auch im November noch mal versucht mit einer Gradwanderung. Einerseits mit Vorgaben für die Länder, andererseits sollen die aber noch flexibel reagieren können. Wie sinnvoll ist denn das, zu versuchen, hier direkt über Gesetz einzugreifen?
Augsberg: Also, das eine ist die gesetzliche Steuerungswirkung. Und das andere ist vor allen Dingen die Öffentlichkeitswirkung, die damit erreicht wird. Dass etwas im Parlament diskutiert wird. Wir sind ja nicht zugegen, wenn die Ministerpräsidenten und Frau Merkel entsprechend ihre Vorschläge diskutieren und unterschiedliche Überlegungen präsentieren. Wir wären aber sehr wohl dabei, wenn das im Parlament geschähe. Und ich glaube, das wäre ganz wichtig. Und das andere ist tatsächlich die genuine Funktion des Gesetzgebers. Und hier hat man natürlich eine verfassungsrechtlich vorgegebene zentrale Stellung des Gesetzes. Die wesentlichen Entscheidungen, formuliert es das Bundesverfassungsgericht, die müssen im parlamentarischen Gesetz getroffen werden. Und wir haben an dieser Stelle, glaube ich, auch kein grundlegendes Problem, weil wir natürlich gesetzliche Grundlagen für die entsprechenden Regelungen haben.
Wir haben aber ein gewisses Problem, dass wir nicht genau erkennen können, wie eigentlich Flexibilität und Detailliertheit hier zueinander stehen. Also, manches wirkt etwas unausgegoren. Manche Generalklausel-hafte Formulierung wird weitergetragen in anderen Kontexten, etwa im Paragraph 28a Infektionsschutzgesetz haben wir ja dann sehr detaillierte Vorgaben, die aber, sobald das irgendwie in Kraft getreten war, schon wieder, ich will nicht sagen, umgangen wurden, aber doch jedenfalls nicht irgendwie beim Worte genommen wurden, als es etwa um diese 15-km-Regel ging, die so explizit jedenfalls nicht im Gesetz drinsteht.
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Geuther: Das ist ja gerade auch immer wieder die Frage, die auch im Bundestag diskutiert wird. Es wird zum Teil eben dem Bundestag auch die Möglichkeit abgesprochen, hier regelnd tätig zu werden, weil er nicht flexibel genug reagieren könnte. Stimmt das eigentlich? Das ist ja auch eine Frage der Schnelligkeit, in der der Bundestag zusammentreten kann und reagieren kann auf die aktuellen Notwendigkeiten.
Augsberg: Na ja, das ist der Sinn letztlich der Rechtsverordnung der untergesetzlichen Rechtssetzung insgesamt, dass man damit eine zusätzliche Dynamik und Flexibilität auch ermöglicht. Und insofern ist es auch richtig, dass man sagt, eigentlich muss natürlich der Gesetzgeber nicht alles regeln, sondern er muss nur den zentralen Rahmen setzen. Und innerhalb dessen gibt es dann entsprechende konkretisierende Vorschriften durch die Exekutive. Aber dass wir jetzt in der aktuellen Situation so akut immer handeln müssen, so wenig Zeit haben, so sehr gedrängt sind durch tatsächliche Ereignisse, dass das im Bundestag nicht mehr besprochen werden könnte, das halte ich doch für eine starke Zuspitzung. Und die ist auch vor allen Dingen dann natürlich gegeben, wenn man sagt, wir reagieren tatsächlich nur. In dem Moment, in dem ich versuche, schon etwas längerfristig das Ganze anzugehen, strategisch es anzugehen, zu überlegen, was denn mögliche Varianten sein könnten des zukünftigen Handelns, dann entzerrt sich das deutlich, was den zeitlichen Druck angeht.

"Verfassungssystem hat sich in der Krise bewährt"

Geuther: Machen wir es mal ein bisschen konkreter. Sie haben schon die wesentlichen Normen angesprochen. Im Infektionsschutzgesetz hat der Gesetzgeber ja eben erst im November die Latte der Reaktionsmöglichkeiten reingeschrieben. Wirklich von Maskentragen bis Ausgangssperre. Und hat dafür verschiedene Kriterien angelegt. Und zumindest sehr vage beschrieben, in welcher Stufenfolge die Länder das einsetzen können. Und wir haben auch gesehen, Beispiel VGH Mannheim vor Kurzem, der anhand dieser Kriterien gesagt hat: Nein, für eine landesweite Ausgangssperre gibt es einfach keinen Grund mehr. Das heißt, das funktioniert also?
Augsberg: Ich glaube allgemein, dass unser Verfassungssystem sich in der Krise durchaus bewährt hat. Wir sehen natürlich, je länger sie andauert und je intensiver damit auch die Belastungen für die einzelnen Bürger werden, dass man tatsächlich natürlich noch mal genauer hinschauen muss. Aber im Allgemeinen haben wir sowohl, was das Zusammenspiel von Exekutive und Legislative, aber auch die Kontrolle durch die Judikative angeht, keinen dramatischen Funktionsausfall oder ein völliges Verfehlen der entsprechenden verfassungsrechtlichen Grundordnung zu verzeichnen. Aber wir müssen natürlich trotzdem aufpassen.
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Geuther: Ja. Und dann noch mal die Frage, wie weit so ein Gesetz funktionieren kann, wie sinnvoll so eine Vorfestlegung sein kann. Wir haben jetzt in dieser selben Norm, über die wir jetzt sprechen, auch gestufte Maßnahmen bei einer 7-Tages-Inzidenz von 50 und 35. Das weckt erst mal Erwartungen. Jetzt wurde gerade entschieden, ab einer 7-Tages-Inzidenz von 35 soll gelockert werden. Heißt das, es steht zu viel und zu wenig im Gesetz?
Augsberg: Ja, wahrscheinlich ist das eine ganz gute Umschreibung. Es ist in der Tat so, dass der Versuch, das präziser zu fassen mit dem dritten Bevölkerungsschutzgesetz natürlich insofern auf Schwierigkeiten stößt, weil man dann bestimmte Maßnahmen auflistet und denen bestimmte Kriterien an die Seite stellt. Und dann kommt doch eine Situation, bei der man meint, dass man sie nicht in diesem Rahmen regeln kann und davon dann wieder abweicht. Das sendet auch ein unglückliches Signal, weil damit ja eigentlich der Versuch, dem Bundestag mehr Bestimmungsmacht zu geben, letztlich sofort wieder fehlgeschlagen ist. Und insbesondere die Inzidenz ist natürlich auch ein Beispiel dafür, dass wir die Parameter, die wir ansetzen, in vielerlei Hinsicht verändert haben im Verlauf der Krise. Und das ist zum Teil gut nachvollziehbar oder jedenfalls erklärbar, dass man sagt, wir lernen dazu und passen dementsprechend auch die Kriterien an, an denen wir uns da orientieren.
Aber es ist teilweise, glaube ich, auch etwas willkürlich oder jedenfalls schlechter erklärt als man sich das wünschen würde. Etwa bei der Inzidenz ging es ja ursprünglich um die Belastung oder die Nachvollziehbarkeit durch die Gesundheitsämter. Davon sind wir weit weg. Jetzt ist das gewissermaßen zentrale Kennziffer geworden, ohne dass so richtig erkennbar ist, jedenfalls für mich nicht erkennbar ist, warum wir genau diese Umstellung jetzt vorgenommen haben und uns nicht zum Beispiel konzentrieren auf die Belastung in den Krankenhäusern, die entsprechenden Belastungssituationen für besonders gefährdete Personen oder ähnliches.

Impf-Priorisierung: Noch Zeit für Diskussion im Parlament

Geuther: Dasselbe Problem, nämlich dass man versuchen muss, mit abstrakten Kriterien zu agieren und sich damit auch Flexibilität nimmt, die stellt sich auch bei der Impf-Priorisierung. Dazu hatte sich ja auch der Ethikrat geäußert mit der klaren Aufforderung, dass das gesellschaftlich breit diskutiert werden müsse. Ist der Ort für diese breite Diskussion auch der Bundestag?
Augsberg: Ja, das wäre sicherlich auch wünschenswert. Das ist eine Situation, die wir in der akuten Notsituation bzw. umgekehrt sogar Glückssituation, dass wir schneller als erwartet Impfstoffe bekommen haben, möglicherweise nicht in idealer Weise zu verwirklichen war. Ich habe gewisse Zweifel, dass man das doch noch etwas intensiver hätte machen können als es geschehen ist. Aber da gab es sicherlich einen größeren Zeitdruck. Aber im Moment ist ja absehbar, dass wir das wieder brauchen werden, dass wir also auch in der nächsten Phase der Impfungen für die, die nicht in die ersten drei Priorisierungsstufen der Impfverordnung fallen, wieder überlegen müssen: Wer ist dann wann dran? Und jedenfalls das sollte doch jetzt bitteschön im Parlament diskutiert werden. Dafür ist jetzt auch noch Zeit.
Geuther: Das wird ja zum Teil auch gemacht in Ansätzen. Es gibt jetzt schon Impfziele, die sollen mit dem am Freitag diskutierten Gesetz auch konkreter gefasst werden. Allerdings ist das immer noch viel unkonkreter als das, was Sie als Ethikrat dazu gesagt haben. Was bringt das dann?
Augsberg: Na ja, es bringt zunächst mal eine Diskussion. Es ist sicherlich immer hilfreich, dass überhaupt das in das Parlament hineingetragen wird, damit vielleicht auch noch mal Aufmerksamkeit für dessen spezifische Rolle geschaffen wird. Uns ging es in dem gemeinsamen Positionspapier von Leopoldina, Ständiger Impfkommission und Ethikrat tatsächlich ja nur um diese erste Phase der Impfungen. Wir sehen aber, dass das natürlich ein langfristiger Prozess ist, und dass da jetzt Dutzende von Millionen von Menschen auch eine Impfung haben wollen. Und dafür haben wir noch keine hinreichenden Kriterien. Die haben wir auch nicht geliefert. War zugegebenermaßen nicht unsere Aufgabe, aber die stehen noch aus. Und darüber müssen wir jetzt auch gesellschaftlich nachdenken, was wir da eigentlich haben wollen.
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Geuther: Ja, es gibt ja auch innerhalb der Gruppen, die jetzt schon benannt sind, Regelungsbedarf. Erst mal sind diese Gruppen riesengroß. Die höchste Kategorie hat neun Millionen Menschen. Die zweite sechs Millionen. Das müsste eigentlich näher geregelt werden und wird in den Ländern teilweise unterschiedlich gehandhabt. Und dann gibt es Menschen, die einfach durchs Raster fallen, zum Beispiel Schwerbehinderte, die selbstständig nicht in einer Werkstatt leben, die berichten, dass sie noch nicht mal Ansprechpartner finden.
Augsberg: Ja, wir haben sicherlich in vielerlei Hinsicht Nachbesserungsbedarf. Ich glaube, dass wir sehen müssen, dass bei einem solchen Unterfangen natürlich Fehler passieren würden. Deshalb ist es unglücklich zu sagen, es ist alles im Großen und Ganzen richtig gelaufen. Natürlich passieren da Fehler. Und, wenn Menschen durchs Raster fallen, wie Sie das formulieren, dann müssen wir Sorge dafür tragen, dass es Kontrollverfahren gibt. Dann müssen wir zum Beispiel über gerichtliche Verfahren, die ja auch schon stattgefunden haben, uns Gedanken darüber machen, wie das nachgebessert werden kann. Dann muss auch in der Verordnung nachgebessert werden, was jetzt ja auch erfolgt ist. Und dann kann man sich darüber streiten, ob das schon weit gehend genug ist, was man noch machen kann. Der andere Punkt, den Sie ansprechen, der sicherlich von ganz großer Bedeutung ist, ist wie man denn innerhalb dieser großen Gruppen eigentlich die Aufteilung vornimmt. Da gibt es unterschiedliche Modelle. Aus verfassungsrechtlicher Sicht glaube ich nicht, dass es da ein "das einzig Wahre und Richtige" gibt. Die Verordnung selbst schlägt ja vor, gestaffelt nach Jahrgängen das zu machen. Das ist sicherlich ein gangbarer Weg. Aber es gibt vermutlich auch andere. Man muss eben da vor allen Dingen darauf achten, dass es nicht tatsächlich zu Ausgrenzung, zu Diskriminierungen kommt.

Gewaltenteilung zwischen Parlament und Exekutive stärken

Geuther: Innerhalb dieser großen Frage, wer regelt was, Kompetenzen, Gesetz, noch mal eine ganz grundsätzliche Frage. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus fordert, die Regel für die Beteiligung des Bundestages in Extremsituationen insgesamt neu zu fassen. Das geht also in Richtung neue Notstandsverfassung. Ist das angezeigt und sinnvoll?
Augsberg: Na ja, das Notstandsrecht ist eine Großbaustelle des Verfassungsrechts in dem Sinne, dass wir da bestimmte Regelungen haben, die aber sehr eingeschränkte Relevanz nur haben und insoweit natürlich jetzt gerade in so einer Krisensituation sich als weitgehend irrelevant erwiesen haben. Ob man da ran möchte, habe ich gewisse Zweifel. Denn ich glaube eben, dass das Verfassungsrecht im Wesentlichsten sich den Herausforderungen durchaus gewachsen gezeigt hat. Und vielleicht müsste man gerade, wenn man der größten Fraktion im Bundestag vorsteht, dann auch einfach selber ein bisschen aktiv sein und nicht auf Verfassungsänderungen oder Rechtsänderungen pochen. Vielleicht etwas mehr Engagement vonseiten der Regierungsfraktion. Das wäre ja auch eine Möglichkeit, das Ganze besser in Gang zu setzen.
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Nach der Corona-Pandemie benötige der Föderalismus Reformen, sagte der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ralph Brinkhaus, im Dlf.
Geuther: Also, selber sich bemühen, dass aus der Mitte des Bundestages Gesetze kommen?
Augsberg: So ist es. Ich glaube, das ist ein Problem natürlich der großen Koalition, aber insgesamt unserer sogenannten Kanzlerdemokratie, dass wir sehr stark darauf fixiert sind, dass die Abgeordneten des Bundestages den Bundeskanzler, die Bundeskanzlerin wählen und dann auch die Regierung stützen, und dass damit dieses Gewaltenteilungsphänomen, dass eigentlich ja zwischen den Institutionen auch eine Konkurrenz besteht, relativ wenig präsent ist. Es wäre aber wünschenswert, dass wir das stärken. Und gerade in der Situation wie der aktuellen Krise zeigt sich das ja noch mal in besonderer Deutlichkeit, wie wichtig das wäre.

"Wer zentralstaatlich alles organisiert, macht einen Fehler für alle"

Geuther: Und das haben wir ja zum Teil derzeit auf anderer Ebene sozusagen unfreiwillig, nämlich über den Föderalismus. Der ist ein Zankapfel, seit die Pandemie Deutschland im vergangenen März endgültig erreicht hat. Für die einen folgt daraus eine Kakophonie, für die anderen ein fruchtbares Labor. Jetzt scheint sich auch so eine gewisse Föderalismusmüdigkeit breitzumachen. Wie sehen Sie das?
Augsberg: Ich glaube, der Föderalismus ist eine große Chance für uns an dieser Stelle, dass wir zentralstaatlichen Modellen auch etwas entgegensetzen können. Wer zentralstaatlich alles organisiert, macht einen Fehler für alle. Macht auch alles für alle richtig, wenn es gut läuft, aber ist in einer viel stärkeren Verantwortung an der Stelle. Im Föderalismus kann man Dinge ausprobieren, kann aber natürlich auch auf unterschiedliche einfach faktische Situationen differenziert reagieren. Das scheint mir ausgesprochen sinnvoll zu sein. Und im Übrigen ist es natürlich auch in der Krise so, dass wir sagen, es gibt unterschiedliche politische Ausrichtungen. Es gibt nicht nur die eine richtige Antwort. Wir müssen aufpassen, dass wir uns irgendwie in eine Logik der Alternativlosigkeit hineinmanövrieren und dann sagen, das muss jetzt nur noch umgesetzt werden. Dafür haben wir keine Politik. Dann können wir die Regierungsarbeit direkt durch Experten machen lassen. Das ist dann aber kein demokratisches System mehr.
Politologe: "Wir haben kein Föderalismusproblem"
Der Föderalismus sei besser als sein Ruf, sagte der Politologe Frank Decker im Dlf. Er ermögliche einen Wettbewerb um bessere Problemlösungen in der Corona-Pandemie.
Geuther: Stichwort Experten. Sie hören das Interview der Woche mit Steffen Augsberg, Professor für öffentliches Recht an der Universität Gießen und Mitglied des Ethikrates. Der Ethikrat ist ja eines der Expertengremien, die in diesen Tagen besonders gehört werden, neben Einzelpersonen, die Bund und Länder beraten. Kritiker bemängeln jetzt, dass die Beratung, auch die Auswahl von Experten oft intransparent sei, dass auch nicht alle relevanten Stimmen gehört würden. Haben Sie Verständnis für diese Kritik?
Augsberg: Ja, das ist zwangsläufig der Fall, wenn man Experten heranzieht, dass man natürlich bestimmte Experten heranzieht und nicht alle hören kann. Deshalb ist die Kritik im Ausgangspunkt völlig berechtigt. Man muss dann, glaube ich, genau schauen, wie diejenigen, die gehört werden, eigentlich selber arbeiten. Auch, wie die zusammengesetzt sind, welche Stimmen insoweit dort vertreten sind. Es spielt auch eine Rolle, dass man natürlich nicht das eine Expertengremium hat, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen sich zu Wort melden. Aber in der Tat, das steckt immer darin. Wer sich einen Sachverständigen aussucht, hofft, dass der in seinem Sinne argumentiert. Und das ist prinzipiell bei Experten allgemein ein Problem. Ein bisschen kann man natürlich entgegenwirken oder hofft dem entgegenzuwirken mit einer spezifischen institutionellen oder persönlichen Unabhängigkeit.
Geuther: Es geht ja nicht nur um die bloße Beratung. Solche Gremien bekommen ja auch eine neue institutionelle Bedeutung. Im Gesetz, das am Freitag im Bundestag diskutiert wurde, steht zum Beispiel: Die nationale Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, soll die Auswirkungen der Anti-Corona-Maßnahmen bewerten. Ist das ein ganz normaler Prozess? Oder passiert da etwas Neues? Wird da vielleicht auch politische Verantwortung ausgelagert?
Augsberg: Es ist sicherlich reizvoll für Politik, dass man Dinge delegiert, irgendwie dann auch in den Bereich des nicht Politischen oder in diesem Falle des Wissenschaftlichen hineingibt und damit Verantwortung abgibt. Ich glaube, das ist in der Sache etwas, was wir genau beobachten müssen, ob das in einem inakzeptablen Maße erfolgt. Zunächst mal ist es natürlich auch sinnvoll, dass man einfach wissenschaftliche Expertise mit hineinnimmt. Aufpassen muss man allerdings dann, das haben Sie ja angedeutet, welche Expertise das ist. Ob sie einseitig ist, sowohl was die fachliche Ausrichtung angeht, aber vielleicht auch, was die spezifischen, sagen wir mal, ideologischen Grundprämissen angeht.

Ethikrat zeigt politische Handlungskorridore für Entscheidungen auf

Geuther: Diese Einbindung, die da stattfindet, das betrifft ja auch den Ethikrat, was macht das mit so einem Gremium? Nehmen wir als Beispiel die vielbeachtete Stellungnahme, die Sie jetzt abgegeben haben zum Umgang mit Freiheitsrechten von Geimpften. Wenn Sie wissen, dass Sie damit Weichen für politische Entscheidungen stellen, verändert sich Beratung oder Ergebnis?
Augsberg: Weniger mit Blick auf jetzt die Weichenstellung in der Politik, sondern ich glaube, vor allen Dingen hat sich das Tempo und die Herangehensweise verändert. Wir haben insgesamt als Selbstverständnis, wenn ich das so weit auch für die Kolleginnen und Kollegen sagen darf, schon, dass wir natürlich nicht politische Entscheidungen treffen, sondern dass wir sie allenfalls vorbereiten oder Handlungskorridore aufzeigen, innerhalb derer dann die Politik natürlich festlegen muss, was eigentlich aus ihrer Sicht das Richtige ist. Und das machen wir typischerweise mit einem relativ langen Atem, mit relativ langen Stellungnahmen, die dann publiziert werden. Und jetzt erhöht sich die Schlagzahl, in der Pandemie, weil auch eine Reihe von ganz konkreten praktischen Fragen an uns herangetragen worden sind. Wir haben uns, glaube ich, bemüht, trotzdem den gewissermaßen üblichen deliberativen Diskurs beizubehalten. Aber es verändert sich natürlich das Ganze, wenn man es innerhalb ziemlich kurzer Zeit formulieren muss. Und die mediale Aufmerksamkeit hat sich natürlich auch verändert. Insofern hat es auch eine andere Belastungssituation für eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen zur Folge, dass man das auch anders darstellen, irgendwie auch entsprechend präsentieren muss. Aber ich glaube nicht, dass wir sehr verändert haben, was unsere Position zur Politik oder gar zu den Institutionen, die wir jetzt zentral beraten, Bundesregierung und Bundestag, angeht.

"Solidarität kann in unterschiedliche Richtungen gedacht werden"

Geuther: Das, was als Ergebnis rauskam, ist differenziert, hat verschiedene Elemente. Aber eine allgemeine Tendenz geht schon eher dahin zu sagen, unter dem Schlagwort, auch: Solidarität, dass im Zweifel Geimpfte nicht mehr Rechte haben sollen als Nicht-Geimpfte? Dieses Schlagwort von der Solidarität, wie weit trägt das auch in der verfassungsrechtlichen Hinsicht für Sie?
Augsberg: Der Ethikrat ist ein bewusst pluralistisch zusammengesetztes Gremium. Also haben wir eine Vielzahl von Meinungen. Und ich gehöre an dieser Stelle zu denen, die relativ skeptisch sind, was das Solidaritätsargument angeht, jedenfalls in dieser speziellen Verwendung. Solidarität kann ja in unterschiedliche Richtungen gedacht werden. Und Solidarität kann meines Erachtens sehr gut auch darin bestehen, dass diejenigen, die noch keine Impfung erhalten haben, denjenigen, die bereits geimpft sind, es gönnen, dass sie mehr an Freiheiten zurückerhalten. Auch das ist ein solidarisches Verhalten. Es ist allerdings keine verfassungsrechtliche Position, über die wir hier sprechen. Es ist nichts entsprechend durch Recht Erzwingbares, sondern das ist letztlich eine moralische Forderung.
Geuther: Die zentrale Aussage erst mal in dieser Ad-hoc-Empfehlung ist ja die Aussage: Derzeit ist die Sicherheit, dass Geimpfte nicht für andere ansteckend sind, nicht groß genug. Der Ethikrat selbst geht dabei von einer Halbierung des Risikos aus. Reicht das nicht? Oder ab wann reicht es? Wie viel Sicherheit muss hier sein?
Augsberg: Wir gehen davon aus, dass derzeit das noch nicht ausreicht. Das heißt nicht, dass derzeit wir schon sicher wüssten, dass es 50 Prozent sind. Das würde, glaube ich, die normative Einschätzung noch mal verändern. Es gibt erste Anzeichen dafür und es gibt Analogieschlüsse, die in die Richtung deuten, dass es 50 Prozent Reduktion sein könnten. Aber genau wissen wir das noch nicht. Und darauf basiert das. Und das ist gewissermaßen dann so der Bereich dessen, wo man eine Überschneidung der Auffassung hat. In der Tat würde ich persönlich zum Beispiel meinen, dass wenn wir sicher wissen, dass eine 50-prozentige Reduktion besteht, wir darauf auch reagieren müssen. Das heißt dann, dass die Gefährlichkeit, die ja ohnehin individuell betrachtet relativ gering ist, noch mal um die Hälfte reduziert ist. Da zu sagen, das ist normativ irrelevant, würde mir, also auch aus grundrechtlicher Perspektive betrachtet, nicht einleuchten.
Geuther: Noch mal größer und allgemeiner gefragt. Ich habe den Eindruck, dass wir in den letzten Jahren insgesamt eine gesellschaftliche Entwicklung, auch, was die innere Sicherheit betrifft, haben, hin zu mehr Bedürfnis nach Sicherheit. Glauben Sie, dass die Pandemie noch mal mehr die Gesellschaft in diese Richtung drängt?
Augsberg: Das wäre sehr bedauerlich, glaube ich. Wir sind insgesamt natürlich jedenfalls in Teilbereichen stark auf Vorsorge orientiert. Das ist ein umweltrechtliches Prinzip, das etwa im Gentechnikrecht ja eine gewisse Karriere gemacht hat. Wenn wir das jetzt aber auf weitere Bereiche der Gesellschaft ausdehnen, also schon jetzt im Bereich der Pandemiebekämpfung nicht mehr Gefahrenabwehr betreiben, sondern nur noch mögliche Risiken irgendwie frühzeitigst ausschließen wollen, dann laufen wir da wirklich in Gefahr, dass wir zahlreiche, auch intensive Grundrechtsbeeinträchtigungen auf Dauer stellen. Und, wenn wir das für andere Bereiche uns dann gewissermaßen weiterdenken, es wird ja teilweise schon angedacht, dass man das jetzt auch im Klimaschutz doch bitteschön machen sollte, dann können wir da wirklich massive, dauerhafte Freiheitsverluste sehen. Und das ist etwas, was wir frühzeitig thematisieren und aus meiner Sicht auch frühzeitig kritisieren sollten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.