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Der starke Grund zusammen zu sein

Wir haben es bei dem vorliegenden Text, genannt "Der starke Grund zusammen zu sein. Erinnerung an die Erfindung des Volkes." von Peter Sloterdijk ganz offensichtlich mit einer Persiflage zu tun. Karrikiert wird die Rede eines zeitgenössischen deutschen Philosophieprofessors, der im Rahmen einer fiktiven Vorlesungsreihe, genannt "Berliner Lektionen", im Berliner Renaissance-Theater eine Rede über die Entstehung von Nationen und über die Bindekräfte vorträgt, die selbige zusammenhalten. Der gelehrte Redner berauscht sich in üppigen, blumigen Wortkaskaden an seinen mystischen, mit neuester medientheoretischer Terminologie aufgepeppten Spekulationen über das Da- und So-Sein der Nation in Geschichte und Gegenwart. Dabei amüsiert er sich, ganz postmodern, sichtlich selbst über die Virtuosität, mit der er eine überflüssige Begriffsgirlande nach der anderen verfertigt. "Seht her", scheint er seinem Publikum unablässig zuzurufen, "wie lustvoll und souverän ich mich über jeglichen konventionellen Zwang zur sinnvollen Aussage hinwegsetze. Ein Spießer, wen stört, daß ich von meinem Gegenstand keine Ahnung habe." Der unfreiwillig komische Effekt dieses Sprachkunstwerks entsteht durch den irren Kontrast zwischen der durch allerlei modische Theorieversatzstücke aufgeplusterten, weitschweifig leerlaufenden Rhetorik, mit der sich der Redner selbst inszeniert, und der fast unglaublichen Banalität der inhaltlichen Aussage, die sich aus all diesem ohren- und gehirnzellenbetäubenden Wortgeklingel mit einiger Mühe herauslesen läßt.

Richard Herzinger |
    Die zentrale These des ekstatisch vor sich hinblubbernden Spaß-Professors lautet, in seinen eigenen zusammenfassenden Worten: "Moderne Gesellschaften sind Erregungs-Gemeinschaften, die sich durch telekommunikativ, zuerst mehr schriftlich, dann mehr audiovisuell erzeugten Synchron-Stress in Form halten. Mit Hilfe synchronisierender Hysterien und homogenisierender Praktiken versetzen sie sich selbst fortwährend in jene Mindestspannung, die nötig ist, um das erneute Aufklaffen der Frage, ob die Revolution hier beendet sei oder eine Fortsetzung verlange, zu verhindern oder zu vertagen..."

    Und so weiter und so fort. Alles klar? Nein? So weit ich es beurteilen kann, schmückt der Professor mit derartigem Phrasenbombardement den Gemeinplatz aus, daß Gemeinschaften, also auch Nationen, immer "äußere und innere, reale und eingebildete Bedrohungen brauchen, um ein Wir-Gefühl zu erzeugen, und daß in modernen Zeiten die Massenkommunikationsmedien bei der Produktion solcher Schreckbilder eine gewisse Rolle spielen. Der anonyme Satiriker führt uns, durch den Mund seiner erfundenen Figur "Peter Sloterdijk", nunmehr vor, wie man sich über diese Selbstverständlichkeit auf sechzig Suhrkamp-Taschenbuchseiten in ein quasi-akademisches Delirium palavern kann. Daß die Entstehung und der Zusammenhalt von Nationen etwas mit realgeschichtlichen Erfahrungen, tiefsitzenden kulturellen Mustern, gewalttätigen Eroberungen, kontingenten politischen Entscheidungen und was dergleichen mehr an Faktoren in wissenschaftlichen Debatten eine Rolle spielt, zu tun haben soll, hält der gelehrte Schwadroneur allenfalls für ein Vourteil "traditioneller Historiker", das er durch sein philosophisches Schamanentum ein für allemal überwunden glaubt.

    Eine hübsche Persiflage also auf den unbändigen Rededrang unserer geisteswissenschaftlichen Intelligenz, der sich umgekehrt proportional zur ihrer abnehmenden Bedeutung verstärkt. Nur: Wie alle Satire ist das aller natürlich böswillig übertrieben und hat mit der Wirklichkeit unserer deutschen intellektuellen Landschaft kaum etwas zu tun. Oder doch?

    Nachbemerkung des Rezensenten: Ich wollte meine kurze Besprechung mit dem zuletzt verlesenen Satz gerade beenden, da traf ich einen Freund, der mich in große Verwirrung stürzte. Er behauptete nämlich steif und fest, der Auftritt Peter Sloterdijks im Berliner Renaissance-Theater habe wirklich stattgefunden, und Peter Sloterdijk sei keine erfundene Figur, sondern ein real existierender, dazu noch hochberühmter deutscher Philosoph und Kulturwissenschaftler. Er selbst, der Freund, sei nämlich bei diesem Ereignis dabei gewesen, habe die Rede gehört und den Redner in personam gesehen. Und nun dämmerte es mir dunkel: Stimmt ja, auch ich habe schon von Peter Sloterdijk gehört, habe dieses traumatische Erlebnis aber offenbar nachhaltig verdrängt. Und ja, auch gelesen habe ich mal irgend etwas von ihm, ich glaube, im "Spiegel" - ich erinnere mich noch, wie herzhaft ich über seine dort aufgestelltem, offenbar ernst gemeinte Behauptung gelacht habe, der Körper des modernen Menschen sei mit dem Chassis seines Autos identisch geworden. Oder so ähnlich. Fest steht jetzt aber, daß es die "Erregungs-Gemeinschaft", die sich "mit Hilfe synchronisierender Hysterien und homogenisierender Praktiken" in "Synchron-Stress versetzen und in Form halten" läßt, oder so ähnlich, tatsächlich gibt. Offenbar handelt es sich dabei um die umfangreiche Fan-Gemeinde des Theoriedadaisten, die, wie mein Freund bezeugt, ergriffen an den Lippen dieses ihres lebendigen audiovisuellen Lieblings-Erregers hing und sich lustvoll in jene charismatische Mindestspannung versetzen ließ, die sie offenbar unbedingt nötig hat, um nicht unwiederbringlich in der bodenlosen Leere ihres sinnbereinigten Daseins zu versinken.