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Der Störenfried und die Demokratie
"Eine erschütternde Umdrehung der Geschichte"

Der Philosoph Dieter Thomä hat sich mit verschiedenen Typen des Störenfrieds auseinandergesetzt - und stellt einen Wandel fest: Früher hätten Störenfriede für die Demokratie gekämpft. Heute hätten viele Störenfriede das Ziel, innerhalb von Demokratien den Nationalstaat gegen die Demokratie zu puschen. Das sei eine erschütternde Umdrehung der Geschichte, sagte er im DLF.

Dieter Thomä im Gespräch mit Michael Köhler |
    Der Schweizer Philosophieprofessor Dieter Thomä
    Der Schweizer Philosophieprofessor Dieter Thomä (picture alliance/dpa/Karlheinz Schindler)
    Michael Köhler: Im Schulunterricht ist der Störenfried unbeliebt. Er ist unbeliebt bei Lehrern und Schülern. Er stört den Frieden des Lernens, zugleich zeigt er, dass etwas nicht stimmt. Nicht stimmt mit ihm, mit dem Unterricht, dem Lehrer, den Andern, der Lernsituation. Abweichung, die als Störung verstanden wird, wird in störrischen, unfreien Regimen unterbunden. Und doch ist sie unverzichtbar, elementar. Keine Organisation ohne Störung.
    Auch die Demokratie lässt Störungen zu, fördert konstruktive Störung sogar, macht sie fruchtbar. Ordentliche Störung gehört zum System Demokratie.
    Der Philosoph Dieter Thomä hat dem Querulanten und der Randfigur in der Politik eine 700-seitige Studie gewidmet. Sie heißt "Puer Robustus". Ihn habe ich gefragt: Sie haben keine "Heldengeschichte" aber eine "Abenteuergeschichte" des "puer robustus" geschrieben. Warum ist der Störenfried ein demokratischer Aktivist, warum ist er sinnvoll und nötig?
    Dieter Thomä: Wir haben ja eine Gesellschaftsordnung, die nicht wie so ein geordnetes Service im Regal steht, sondern die gelebt wird. Und eine gelebte demokratische Ordnung, die hat geradezu eingebaut in ihr Modell, dass man sie ändern kann. Und dann gibt es die ordentlichen Wege. Früher wurde man für eine abweichende Meinung ins Gefängnis geworfen; heute heißt es Opposition. Das sind dann die geordneten Störungen sozusagen. Aber in der Demokratie gibt es und gab es immer auch noch Störungen, die einen Zacken schärfer waren, ziviler Ungehorsam, und den will die Demokratie auch. Jedenfalls steht der in den meisten demokratischen Verfassungen auch so drin. Und es ist ja nicht nur so, dass in der Politik Störenfriede durchaus ihre Rolle spielen. Wenn Sie da an die Schulklassen denken, wo alle brav waren und einer was auf die Finger bekam, dann hat man auf den auch immer ein bisschen ehrfurchtsvoll herübergeblickt, weil der sich was getraut hat.
    "Es gibt heute viele glatte Typen in der Politik und in der Wirtschaft auch"
    Köhler: Es gibt ja so Typen, ich will jetzt nicht nostalgisch wirken, aber die fehlen einem ja schon fast in der Politik. Das geht von so harten Knochen wie Ernst Benda über Heiner Geißler bis sonst wohin, die einem fast heute schon ein bisschen fehlen. Etwas anders gefragt: Ist die Störung keine Irritation, keine vorübergehende, sondern eher eine notwendige Gleichgewichtsstörung, etwas, was Sie fruchtbar lebendig macht und zukunftsfähig? Ist das Ihr Ansatz?
    Thomä: Es gibt heute viele glatte Typen in der Politik und in der Wirtschaft auch. Allen wird gesagt, ja, ihr müsst anecken und innovativ sein, und das lernen die so lange auswendig, bis sie alle unverwechselbar werden. Entsprechend haben wir inzwischen in der Demokratie so was wie eine Art Institutionalisierung und einen großen Konformismus, und das ist für die Demokratie selbst gefährlich, denn es ist eine Einladung an harte Knochen anderer Natur, die wir jetzt auch überall in Demokratien oder in vielen Demokratien haben, von Trump bis Le Pen. Insofern ist es, glaube ich, auch so, dass die Demokratie gut daran tut, das nicht nur als homöopathische Dosis in sich zu tragen, ach, wir dürfen auch mal abweichend sein, sondern sich sehr bewusst darüber zu sein, dass zur Demokratie nicht nur Institutionen gehören, sondern auch Willensbildungsprozesse, bei denen die Post abgehen kann.
    Köhler: Es gibt ja so was wie den Konformismus des Andersseins.
    Thomä: Klar!
    Köhler: Alle sind sich darin einig, anders sein zu können und zu wollen.
    Thomä: Ja, ja. Tocqueville hat es mal so beschrieben, dass er sagt, heute gehen die ganzen Individualisten einsam durch den Wald und kommen dann an der gleichen Stelle raus, und zwar dort, wo die Schecks geschrieben werden.
    "Es gibt tatsächlich fast nichts, was größer und erfüllender ist als eine schöne Anstrengung"
    Köhler: Wir gehen, Herr Thomä, ins Theater und in die Oper, weil wir es da häufig mit solchen tragischen Störern zu tun haben, oder Helden – von Antigone aus der sophoklesschen Antike über die Dramen der deutschen Klassik, über Faust oder Schillers Räuber, über Kohlhaas. Die Kleist-Figuren sind ja durch die Bank weg eigentlich tragische Störer, manchmal auch komödiantische. Was zeigt sich daran? Zeigt sich der Konflikt von Freiheit und Autonomie, von Ordnung und Abweichung?
    Thomä: Ich passe mich nicht unter die Menschen, hat ja Kleist mal geschrieben, und dann hat er der Marquise von O. den wunderbaren Satz zugedacht, dass sie durch eine schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht wird. Schöne Anstrengung – das klingt heute fast paradox, weil man ja lieber auf dem Sofa liegt und Chips isst. Aber es gibt tatsächlich fast nichts, was größer und erfüllender ist als eine schöne Anstrengung. Und diese schönen Anstrengungen, die sieht man dann in der Kunst und denkt dann an sein kleines Leben und will sich eine Scheibe davon abschneiden. Ich denke, es ist auch so ein Urgefühl, dass nicht alles glatt geht. Diese berühmte – entschuldigen Sie, dass ich mit Zitaten um mich werfe, aber es passt gerade so gut – Antwort von Adorno, als der "Spiegel"-Reporter ihn fragt, letzte Woche war doch die Welt noch in Ordnung, dann antwortet er, für mich nicht. Und dieses Gefühl, irgendwas stimmt nicht, irgendwas läuft nicht glatt, das ist ein sehr plausibles Gefühl und deshalb hat man innerlich auch so eine Bereitschaft, sich mit Figuren zu identifizieren, die nicht glatt sind.
    Köhler: Lassen Sie uns versuchen, das im weiteren Verlauf ein bisschen zu problematisieren. Sie haben es eben schon mal kurz angeschnitten, indem Sie Populisten oder Extreme oder extreme Abweichler genannt haben. Es gibt ja auch so was wie vielleicht unangenehme Störenfriede, die an der Demokratie selber leiden, am Liberalismus, am Individualismus und dann die Knute rausholen.
    Thomä: … oder die Waffe rausholen!
    Köhler: Oder die Waffe rausholen, richtig. Wo verläuft da die Grenze, wo der Störenfried unangenehm wird, wo er fast sogar zur Zerstörung neigt?
    Thomä: Der Störenfried ist erst mal nur ein Wort aus einer Schublade, in der sehr verschiedene Typen drin stecken – Leute, die wir charmant finden, und Leute, die wir furchtbar finden. Es gibt dann noch die Verschärfung von dem Störenfried meinetwegen zum Terroristen, für den der Ausdruck Störenfried schon fast zu lieblich ist. Das ist dann einfach ein Verbrecher. Aber selbst in dem normalen Spektrum von Störenfrieden gibt es tatsächlich auch sehr verschiedene Typen und da müssen wir jetzt anfangen zu sortieren und da kann man ruhig auch ein bisschen schulmeisterlich sein und sagen, ja welche schätzen wir denn, welche bringen die Gesellschaft voran und welche legen der Gesellschaft Knüppel in den Weg.
    Mehr gestörte Störung statt ordentlicher Störung
    Köhler: Sie haben da so vier Typen charakterisiert.
    Thomä: Ja, ich habe da so vier Typen, die kann ich Ihnen gerne zumuten. Es gibt den egozentrischen, den exzentrischen, den nomozentrischen und den massiven Störenfried. Da kriegen Sie alle Figuren, an die man nur denken kann, unter, weil der eine nur an sich denkt, der andere denkt über sich hinaus so ins Ungewisse hinein, der dritte will richtig eine andere Ordnung, ein Nomos, ein anderes Gesetz errichten, das er der bestehenden Ordnung entgegenhält, und der massive Störenfried ist dann der Fundamentalist oder auch der Faschist, der sich in der Masse versteckt und eigentlich eher ein gestörter Störer ist.
    Wir haben jetzt eigentlich, weil Sie vorhin die Demokratie angesprochen haben, einen interessanten Umschlag – interessant, vorsichtig ausgedrückt. Denn wenn wir jetzt die Störenfriede der Geschichte anschauen, ist es so, dass sich zunächst mal Störenfriede im Vordergrund gezeigt haben, die innerhalb von Nationalstaaten die Demokratie erkämpfen wollten. Das waren Leute, die wir geschätzt haben, die die Gesellschaft vorangebracht haben. Da kann man natürlich auch an Figuren wie Schiller denken. Und was haben wir jetzt heute? – Heute haben wir Demokratien und jetzt treten Störenfriede auf, die innerhalb von Demokratien den Nationalstaat gegen die Demokratie puschen wollen. Das ist eine ganz erschütternde Umdrehung der Geschichte, weil …
    Köhler: Das ist in Ihren Worten keine ordentliche Störung, sondern eine gestörte Störung?
    Thomä: Eine gestörte Störung deshalb, weil die, die dann da auftreten, nicht diese Eigenart aufweisen, die eigentlich die Störenfriede sonst immer aufweisen, nämlich dass sie irgendwie die Nase in den Wind halten und wissen, dass sie sich auf irgendwas Riskantes, Fragiles einlassen, dass sie auf was vorgreifen, auf was anderes, dessen sie sich nicht so gewiss sind, während die nationalistischen Störenfriede heute oder die populistischen Störenfriede auch eigentlich immer sich gut fühlen, wenn gleich links und gleich rechts von einem noch einer steht, der genauso schreit und genauso mit dem Kopf nickt wie man selbst. Dieses Gefühl des aufgehoben seins, das ist ja eigentlich genau das Gegenmodell von Störungen.
    Deshalb ist es eine gestörte Störung, weil man sich praktisch in der Masse verstecken kann, also auch in einer neuen Ordnung verstecken kann, genauer gesagt in einer Ordnung, die man neu durchsetzen will, wo man sich aber immer auf was Altes beruft, also "zuhause sein", dieser Schlachtruf von Le Pen, wir sind bei uns zuhause, wir wollen Frankreich für uns, uns gehört Frankreich nicht mehr. Dieses Absichern eines Ortes, eines Standplatzes, eines festen Grundes, das ist praktisch letzten Endes dann auch etwas, was immer mit Ausgrenzungen verbunden ist. Trump hat ja sogar zum Beispiel das Wort Volksfeind in den Mund genommen und damit die Presse gemeint, the enemy of the american people, bestimmte Teile der Presse. Das sind ja faschistische Vokabeln, das muss man ganz klar sagen.
    "Es gibt friedliche und unfriedliche Austauschmöglichkeiten"
    Köhler: Wir haben angefangen mit dem Typus des sinnvollen Störers. Wir haben gerade ein bisschen den weniger sinnvollen, den störenden Störer gewissermaßen charakterisiert. Ich finde ganz reizvoll, was Sie als Philosoph in die Waagschale werfen, dass Sie von einer Art, ich nenne das mal, sinnvollem Störenfried sprechen, der nicht draußen steht, sondern, Sie nennen das, eine Schwellenfigur sei. Wenn ich Lumenianer wäre, dann würde ich sagen, Störung ist die Negation des Systems innerhalb des Systems. Das spricht nicht von einer Grenze, sondern bewegt sich frei flottierend darin. Ist das so ungefähr gemeint?
    Thomä: Die Schwelle ist einfach ein Lieblingsbegriff von mir, auch weil sie so verdammt vernachlässigt wird von meinen philosophischen Kollegen und auch von den politikwissenschaftlichen, weil die immer von Grenzen sprechen, Grenzen einer Ordnung und so weiter. Und Grenzen, da gibt es den Schlagbaum und vielleicht den Zaun, die Mauer, auf jeden Fall eine Linie, wo ganz klar geregelt ist, jetzt geht der Schlagbaum hoch, jetzt geht er runter, dann darfst Du drüber, dann nicht und so weiter und so fort. Bei Schwellen ist es ein bisschen anders, denn die können unterschiedlich hoch sein. Das ist nicht irgendwie so ein klar geregelter Punkt. Man kann auch darauf verweilen. Auf einer Grenze steht man normalerweise nicht, aber auf einer Schwelle, da kann man sich dann überlegen, will ich rein, gehe ich wieder raus, unter welchen Bedingungen werde ich rein gebeten, was passt mir nicht an dem, was drin ist.
    Diese ganze Offenheit dieser Situation passt eigentlich extrem gut zu dem Gefühl, das Menschen sowieso haben, wenn sie aufwachsen, wenn sie irgendwo dazu kommen, denn es gibt praktisch so was wie eine innere Migration, wie ich das gerne nenne, in Gesellschaften, bei der millionenfach so was stattfindet wie ein Schwellenübertritt: Okay, jetzt gehöre ich dazu, jetzt mache ich mit, okay, jetzt fliege ich raus, jetzt werde ich ausgegrenzt, jetzt fühle ich mich auch nicht mehr wohl. Das heißt, es gibt ein großes, großes Verhandlungsmarathon in der modernen Gesellschaft. Das dauert jetzt schon ein paar Jahrhunderte und dauert hoffentlich noch ein paar Jahrhunderte mehr. Und dieses Verhandlungsmarathon findet an dieser Schwelle statt, an der es alle verschiedenen Kommunikationsformen und Kampfformen auch gibt. Es gibt da friedliche und unfriedliche Austauschmöglichkeiten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.