Es sei dies wohl die dynamischste Zeit für den Nuklearsektor seit den 1950er- und 60er-Jahren, so William Magwood, Generaldirektor der Nuklear-Agentur der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD-NEA) mit Sitz in Paris:
„Wir konnten in den vergangenen Jahren in so ziemlich allen Teilen der Welt ein weit verbreitetes Interesse an Nukleartechnologien feststellen.“
Ländervergleich: China liegt vorne
Interesse meldeten auch Entwicklungsländer an, in Afrika und im Nahen Osten. „Einige dieser Länder haben feste Pläne für den Bau, andere eher Ambitionen.“
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China ist das Land, das am stärksten auf Kernkraftwerke setzt. 2020 sah der Plan vor, in den kommenden acht bis zehn Jahren 44 neue Reaktoren in Betrieb zu nehmen. Auf den Plätzen 2 und 3 folgen Russland und Indien, so hält es das Statistische Bundesamt fest. Aber auch in Ägypten beispielsweise oder in der Türkei wird gebaut.
Und Europa? Europa ist gespalten: Während in Deutschland die drei letzten Atomkraftwerke Ende 2022 vom Netz gehen und sich Österreich vehement gegen den Nuklearstrom ausspricht, bauen Finnland, Großbritannien und Frankreich weiter aus, Polen plant sein erstes Kernkraftwerk, Schweden hat seinen Ausstiegsbeschluss von 1980 bereits vor elf Jahren widerrufen, Belgien denkt darüber nach, seine alten Anlagen länger laufen zu lassen.
Niederlande wollen zwei neue AKWs bauen
In den Niederlanden hat die neue Regierung beschlossen, dass fast 50 Jahre alte Kernkraftwerk Borssele länger laufen zu lassen und zwei neue AKW zu bauen. Und selbst in Italien laufen erste, zaghafte Debatten pro Kernkraft. Auch europaweit ist also die bereits totgeglaubte Atomkraft wieder auf dem Vormarsch. Thijs Vandenbussche vom „European Policy Center“ in Brüssel sieht dafür drei Gründe. Es gehe um Versorgungssicherheit, das Klima und die Kosten.
„Wenn es um die Frage geht, ob wir zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Green Deal der EU eine Renaissance der Kernenergie erleben könnten, dann hängt das wirklich vom Blickwinkel ab. Der CO2-Fußabdruck der Kernenergie ist natürlich sehr gering. Wir sprechen hier über den Bau des Kernkraftwerks, und danach gibt es im Grunde genommen so gut wie keine Treibhausgasemissionen mehr. Der Klimawandel ist der einfache Teil der Geschichte. Doch dann wird es komplexer, wenn wir uns Dinge anschauen wie Versorgungssicherheit und Preis.“
Was die Versorgungssicherheit angeht, hängt Europa stark von Erdöl- und Gaslieferungen ab. Auch Kohle wird importiert. Beim Atomstrom sei man zwar weniger stark von Brennstofflieferungen aus dem Ausland abhängig, zumal sich die Energiequelle in größerem Umfang speichern lasse, so Thijs Vandenbussche. Doch beim Bau und bei der Wartung der Anlagen kämen Russland oder China erneut ins Spiel. Und dann sei da noch die Sache mit der Termintreue, also der Einhaltung von terminlichen Absprachen, erläutert Mycle Schneider, unabhängiger Berater für Energie- und Atompolitik. Er erstellt mit einem Expertenteam den jährlichen „World Nuclear Industry Status Report“, der die Lage dieser Industrie aus Sicht ihrer Gegner darstellt.
Immense Kostensteigerungen beim EPR-Projekt
Das Paradebeispiel für die Probleme: der EPR, der Europäische Druckwasserreaktor, eine französisch-deutsche Entwicklung nach der Reaktorhavarie von Tschernobyl 1986:
„Der erste Reaktor ist in Finnland 2005 in Bau gegangen. Sollte 2009 Betrieb aufnehmen, ist immer noch nicht in Betrieb. Der französische Reaktor folgte 2007, ist auch noch nicht in Betrieb, sollte bereits 2012 in Betrieb sein, jetzt frühestens 2023. Also, ein industrielles Desaster.“
Auch die Frage rund um die Kosten ist komplex. Beispiel: das Kernkraftwerk „Hinkley Point“ im Südwesten von England. Dort werden zwei EPR-Blöcke errichtet. Für „Hinkley Point“ ging man bei den Kosten anfangs von rund drei Milliarden Euro aus. Mittlerweile rechnet die federführende „Électricité de France“ mit mindestens 29 Milliarden Euro – aber es könnten durchaus 40 Milliarden werden. Das Projekt steht mit seinen immensen Kostensteigerungen keineswegs allein. Ein Team vom „Massachussetts Institute of Technologie“ hat berechnet, dass die Kosten von US-Kernkraftwerken im Schnitt 240 Prozent höher ausfallen als errechnet.
Thijs Vandenbussche vom „European Policy Center“: „Wir sehen also, dass der Bau von Kernkraftwerken recht kostspielig sein kann und dass diese Kosten oft unterschätzt werden, manchmal sogar sehr stark. Wenn man mit dem Bau eines Atomkraftwerks beginnt, weiß man zwar, wo man anfängt, aber man ist sich nicht ganz sicher, wo und wann man aufhört.“
Es fehlt hochgradig spezialisiertes Personal
Berater Mycle Schneider führt einen weiteren Punkt aus: „Die Leute stellen mir oft die Frage: Warum sollte man nicht in der Lage sein, heute so schnell Atomkraftwerke zu bauen, wie man das in den 70er- und 80er-Jahren gemacht hat? Wir leben nicht mehr in den 70er- oder 80er-Jahren.“
Die hochgradig spezialisierten Arbeiter, Techniker, Ingenieure und Manager, die damals als Team von einem Standort zum nächsten geschickt wurden, gebe es nicht mehr. So sei beispielsweise in Flamanville die Sprachverwirrung so groß gewesen, dass die Atomaufsichtsbehörden einschritten. Die Vorarbeiter hätten sich nicht mit den Arbeitern verständigen können. Für Mycle Schneider ist die Debatte um die Renaissance der Kernenergie eine Farce.
„Die internationale Atomindustrie ist weltweit seit vielen Jahren rückläufig. Wir haben also, es ist eigentlich egal, welchen Indikator man sich anschaut, die historischen Höchststände vor Jahrzehnten gehabt.“
1976 sei der Bau von 44 neuen Anlagen begonnen worden, 2020 seien es fünf gewesen. „Davon vier in China und einer in der Türkei. Schaut man sich die Anzahl der Reaktoren, die als im Bau in der Statistik stehen, an, dann war die Höchstzahl 1979 mit 234 Anlagen.“
Von 234 Anlagen gingen nur 186 ans Netz
Von diesen 234 Anlagen gingen jedoch nur 186 ans Netz, die anderen wurden aufgegeben. In diese Industrie sei viel Geld in Bauruinen geflossen, so Schneider. Desaströs sei auch eine andere Bilanz der Nuklearbranche:
„Schaut man sich den Anteil der Atomstromproduktion in der globalen kommerziellen Stromproduktion an, dann war der Höchststand 1996 mit etwa 17,5 Prozent. 2020 sind davon noch knapp über zehn Prozent übriggeblieben.“
Doch während der Selbstkostenpreis pro Kilowattstunde Solar- oder Windstrom in den vergangenen Jahren immer weiter gesunken ist, erweisen sich Gas und Kohle als Preistreiber. Weil Regierungen jedoch für den Klimaschutz auf Elektrifizierung setzen, steigt der Bedarf an Strom und damit letztlich auch, solange Speicherkapazitäten fehlen, der Bedarf an Kraftwerken, die übernehmen, wenn Sonne und Wind nicht ausreichend liefern. Das hat die Diskussionen um die Kernenergie in vielen Ländern neu entfacht. In Europa kommt dabei Rückendeckung aus Brüssel.
In einem fast 400seitigen Bericht hatte die gemeinsame Forschungsstelle der EU-Kommission vor kurzem festgestellt, dass angesichts des Sicherheitsniveaus in Europa „keine wissenschaftlich fundierten Beweise dafür gefunden wurden, dass die Kernenergie der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt mehr schadet als andere Stromerzeugungstechnologien, die bereits in der Taxonomie als Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels aufgeführt sind.“
Streit um die Taxonomie tobt seit Monaten
Außerdem, so die Forschungsstelle, gebe es einen breiten wissenschaftlichen und technischen Konsens, dass sich die Abfälle sicher lagern ließen, was in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit anders wahrgenommen wird. Und so tobt seit Monaten in der EU ein Streit um die Taxonomie: um einheitliche Standards, die die EU-Kommission für nachhaltige Geldanlagen schaffen will mit dem erklärten Ziel, verstärkt Geldströme in sogenannte „grüne“ Technologien zu leiten, um 2050 Klimaneutralität zu erreichen.
Thijs Vandenbussche: „Mit der Taxonomie wollte die Europäische Union klarstellen, was eine grüne Technologie ist und was nicht. In ihr gibt es drei zulässige Bezeichnungen. Es gibt grüne Technologien, Basistechnologien und Übergangstechnologien. Bei der Energieerzeugung gibt es eine Reihe offensichtlicher Einordnungen, so zählen die Erneuerbaren relativ eindeutig zu den grünen Technologien. Bei Gas und Kernenergie jedoch gibt es eine heftige Debatte darüber, was wo zuzuordnen ist.“
So hat die neue deutsche Regierung in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, angesichts des Kohle- und Atomausstiegs Gas als Übergangstechnologie halten zu wollen, als Lückenfüller, wenn Windräder und Photovoltaik nicht genügend liefern. Das aber dürfte auch den Neubau von Gaskraftwerken nach sich ziehen.
Gas ist als Übergangstechnologie umstritten
„Gas als fossiler Brennstoff lässt sich natürlich schwerlich als grüne Technologie bezeichnen. Er ist mit CO2-Emissionen verbunden, und wenn die Europäische Union bis 2050 CO2-neutral werden möchte, ist der Zeitplan für Gas als Übergangskraftstoff wirklich kurz. Doch man braucht immer einen Investitionshorizont. Auch über die Kernenergie haben die europäischen Institutionen noch keine Entscheidung getroffen. Einige Länder, z. B. Frankreich, wollen diese Technologie als umweltfreundlich einstufen.“
Andere Länder wie Österreich, Luxemburg oder Deutschland wehren sich jedoch mit Händen und Füßen gegen die französischen Pläne. Und weil Technologien, die bei der Klassifizierung durchfallen, Probleme bei der Finanzierung bekommen dürften, wundert es nicht, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron alles daransetzt, für den Atomstrom ein grünes Label durchzusetzen. Anfang Oktober rief er daher ein neues Zeitalter der Atomkraft aus und bezeichnete den Nuklearstrom aus „Chance“ für das Klima.
Er setzt dabei auf eine – wie viele glauben – neue Technologie: die SMR, kleine Modulare Reaktoren – Anlagen, die bis zu 300 MW Strom produzieren anstelle der 1000 bis 1600 eines klassischen Atomkraftwerks. International werden derzeit mehr als 130 SMR-Konzepte entwickelt: von wassergekühlten Reaktoren bis hin zu Anlagen, in denen der Kernbrennstoff als geschmolzenes Salz zirkuliert.
Modulare Reaktoren als Alternative
Christoph Pistner vom Öko-Institut Freiburg sieht das kritisch: „Die Idee von SMR ist überhaupt nicht neu. Tatsächlich gehen diese Entwicklungen eigentlich zurück bereits auf die Frühzeit der Kernenergie. Also auch in den 50er-, 60er-Jahren gab es Entwicklungen zu mobilen Kernreaktoren, die tatsächlich zum Beispiel gedacht waren für den Antrieb von Schiffen oder gar von Flugzeugen.“
Auch in den 80er-Jahren seien die SMR wieder in der Diskussion gewesen. Die Ansätze seien jedoch immer wieder mangels Wirtschaftlichkeit gescheitert. Heute seien sie eben als „Retter“ des Klimas wieder da – und als Retter der Nuklearbranche.
„Die SMR haben wahrscheinlich drei große Vorteile. Einmal sind sie kleiner, was bedeutet, dass die Projektrisiken drastisch geringer sind als bei einem großen Leichtwasserreaktor.“ Erläutert dagegen William Magwood von der „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“. „Sie können in einer Fabrik gebaut werden. Das ist eine völlig andere Art, über Reaktoren nachzudenken. Vor einiger Zeit hat jemand auf einer Konferenz gesagt, dass das, was wir in der Nuklearbranche heute tun, mit dem Bau eines Flughafens vergleichbar ist. Und was wir tun müssen, ist Flugzeuge zu bauen.“
Sicherheit als großer Vorteil der "Fließbandfertigung"
Die „Fließbandfertigung“ soll die mangelnde Wirtschaftlichkeit überwinden. Die Idee: Reaktoren mit einem festgelegten Design und eingespielten Lieferketten in einer zentralen Fabrik zu fertigen und nicht mehr individuell auf einer riesigen Baustelle auf freiem Feld. Und anstatt über zehn und mehr Jahre mit milliardenschweren Anfangsinvestitionen ein großes Kernkraftwerk zu errichten, werden viele kleinere Module eingesetzt. Die werden aus der Fabrik vor Ort geschafft, dort installiert und ans Netz gebracht - so dass schnell Geld verdient und schnell - je nach Bedarf - das nächste Modul hinzufügt werden kann.
„Für mich persönlich ist jedoch die Sicherheit der größte Vorteil: Bei vielen der neuen Technologien kann es einfach keine großen Atomunfälle geben, nicht nur, weil sie klein sind, sondern auch wegen ihres Designs.“
Die SMR, die Kleinen Modularen Reaktoren, sollen gezielt einfacher und unter Einsatz unterschiedlicher „passiver“ Sicherheitssysteme gebaut werden, die keine motorgetriebenen Pumpen oder Ventile brauchen. Deshalb sehen die Entwickler mancher SMR-Konzepte den Verzicht auf Notfallschutzplanungen vor: Man brauche sie nicht. Christoph Pistner vom Ökoinstitut Freiburg ist skeptisch. Unter anderem, weil etliche der konzipierten Anlagen dann eben doch nicht so klein sind.
Je kleiner die Anlage, destor mehr werden gebraucht
„Wenn wir über eine Anlage mit 300 Megawatt elektrischer Leistung reden, hat die auch ein sehr hohes radiologisches Inventar. Wenn es hier zu schweren Unfällen kommen würde und das freigesetzt werden würde, reden wir eben auch von signifikanten Unfällen.“
Und: Je kleiner eine Anlage ist, desto mehr braucht man davon. Heute produzieren rund 400 Reaktoren elf Prozent der globalen Stromproduktion. Wollte man allein sie durch SMR ersetzen, bedeutet das – je nach installierter Leistung – den Bau von Tausenden, vielleicht zehntausend SMR. Damit stiegen die Sicherheitsrisiken.
Und auch die der Proliferation, der Weitergabe von Technologien, Know-how oder spaltbarem Material für den Bau von Atombomben: „Man wird die Anlagen vielleicht an abgelegenen Standorten stehen haben, wo natürlich auch eine Überwachung unter Umständen schwieriger oder aufwändiger ist. Das heißt, auch hier werden sich einfach neue mögliche Risiken ergeben und neue Fragen einfach stellen, wie man dann diese Anlagen auch überwacht und schützt.“
SMR-Anlagen gegen terroristische Anschläge schützen
Hinzu komme das terroristische Bedrohungspotential: „Wenn wir eben diese Anlagen in der sehr, sehr großen Stückzahl weitverbreitet haben würden, dann werden wir eben auch sehr, sehr viele Standorte haben, womöglich auch dicht an besiedelten Gebieten oder dicht an Industriezentren, wo man die Energie benötigen würde. Und auch hier wird man dann sehr genau schauen müssen: Wie gut sind diese Anlagen auch gegebenenfalls gegen terroristische Anschläge geschützt?“
Die „Internationale Atomenergie Organisation“ in Wien sieht hier jedoch kein grundsätzliches Problem, hält es für lösbar. Trotz der Fragen laufe die Entwicklung der SMR derzeit recht dynamisch. So auch das Urteil von William Magwood von der Nuklearagentur der OECD.
„Ich würde sagen, Nordamerika geht heute da eindeutig vorweg. Vor allem Kanada ist sehr offensiv, dort ist einer der großen Energieversorger dabei, einen kleinen modularen Reaktor zu bauen. Auch in den Vereinigten Staaten interessiert man sich nicht sehr für die großen Reaktoren, sondern für die SMR. Die Regierung finanziert mehrere Demonstrationsprojekte und neue Technologien.“
SMR-Bau in Rumänien angekündigt
Unter anderem haben Joe Biden und der rumänische Präsident Klaus Iohannis auf der Cop-26-Klimakonferenz in Glasgow den Bau eines SMR in Rumänien angekündigt. Der Haken aus Sicht der Nuklearagentur der OECD dürften dagegen die nationalen Aufsichtsbehörden sein, betont William Magwood. Sie seien auf das neue Konzept nicht vorbereitet: Lizenzen müssten koordiniert und international erteilt werden – ein Novum in der Branche.
„Es dürfte – wie in der Flugzeugindustrie – ein globalisierter Ansatz für die Zulassung dieser Anlagen erforderlich sein. Ich denke also, dass dies ein Hindernis für die schnelle Verbreitung dieser Technologien sein wird. Wenn man bedenkt, wie schnell wir fortschrittliche kohlenstoffarme Technologien entwickeln müssen, um die Herausforderung der Dekarbonisierung zu meistern, brauchen wir einen besseren Ansatz für die Lizenzierung.“
Doch zurück zur Taxonomie. Am 22. Dezember, so hat es die EU-Kommission verkündet, soll die Entscheidung bekannt gegeben werden – zu Atom und Gas soll ein zusätzlicher Vorschlag vorgelegt werden. In Kraft treten sollen die Regeln am 1. Januar.