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Der Stress der digitalen Arbeitswelt
"Wir leben in einem System, das sich nur durch Steigerung erhält"

Einer der beliebtesten Neujahrsvorsätze ist "Weniger Stress im neuen Jahr". Doch woher kommt unser Stress? In Zeiten der ständigen Erreichbarkeit und der digitalen Arbeitswelt ist nicht das Tempo unseres Lebens der Verursacher, sondern die Tatsache, dass unsere To-do-Listen explodieren, sagte Soziologe Hartmut Rosa im Dlf.

Hartmut Rosa im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Ein Mann sitzt abends in einem Büro an einem vollen Schreibtisch und arbeitet in Berlin.
    Schnell noch die Mails checken: Die ständige Erreichbarkeit bringt Vorteile aber auch enorme Nachteile mit sich (picture-alliance / dpa / Wolfram Steinberg)
    Sandra Schulz: Am Abend die Zeitung des nächsten Tages lesen, dann noch eben in die Mails gucken, und dann eben auch noch schnell antworten, dann ist es gemacht. Für viele Arbeitnehmer löst sich ja die Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit auf, seitdem digitale Endgeräte, Smartphones und Tablets klein und auch schick genug sind, überallhin mitgenommen zu werden. Ist das gut oder schlecht? Bis auf Weiteres ist die Antwort auf diese Frage nicht gefunden, vor allem die Gewerkschaften drängen darauf, die Arbeitnehmer vor ständiger Erreichbarkeit und der dazugehörigen Erwartungshaltungen mancher Chefs zu schützen. Ende des Jahres hatte der Porsche-Betriebsratschef Uwe Hück die Diskussion mit der Forderung gewürzt, dienstliche Mails nach Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub löschen zu lassen. Über Gefahren, aber auch Verheißungen dieser jetzt neueren Arbeitswelt wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Professor Hartmut Rosa – Zeitdiagnose und Moderneanalyse, Zeitsoziologie und Beschleunigungstheorie nennt er unter anderem auf seiner Webseite der Friedrich-Schiller-Universität in Jena als Arbeitsschwerpunkte und ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
    Hartmut Rosa: Hallo, guten Morgen!
    Schulz: Wenn wir konkret starten vielleicht mit diesem Vorschlag von Uwe Hück, nach Feierabend oder im Urlaub, am Wochenende werden die Arbeitnehmer auf Mail-Zwangsdiät gesetzt. Ist das eine gute Idee?
    Rosa: Ich glaube, nicht unbedingt und nicht in allen Hinsichten, weil das natürlich an manchen Orten dann auch wieder massiv den Druck erhöht, weil gelegentlich hat man es einfach mit Arbeitsabläufen oder -zusammenhängen zu tun, wo man nur eine kleine Auskunft, eine ganz kleine Information oder so bräuchte, und dann sich selbst da zu beschränken und zu sagen, das mache ich auf gar keinen Fall, schafft neue Irrationalitäten, über die sich dann ganz bestimmt, wenn die umgesetzt werden, Menschen auch ärgern, und manchmal eben nicht nur die Chefs. Ich glaube, der Druck geht gar nicht immer von den Chefs aus, sondern häufig einfach von den lang verketteten Arbeitsabläufen per se, wo man dann auch selbst das Gefühl hat als Arbeitnehmer, man würde gern eine Sache zu Ende bringen oder man sieht ein, dass man sie zu Ende bringen muss, weil die sonst anderswo Probleme verursachen. Deshalb fürchte ich, dass so was unter Umständen durchaus helfen kann und Sinn machen kann, aber es wird nicht alle Probleme lösen.
    Zu einfach gedacht
    Schulz: Also das ist aus Ihrer Sicht gar nicht schlimm, jetzt vielleicht mal in Anführungszeichen gesprochen, sich abends auf der Couch noch mal in ein Portal einzudaddeln und da dann noch eine Mail zu schreiben?
    Rosa: Doch, es ist – ich will überhaupt nicht leugnen, weil es scheint ja offensichtlich, dass da ein Problem besteht, dass wir uns Strukturen geschaffen haben, auch Arbeitsstrukturen, in denen einfach alle Lebensbereiche sozusagen ununterbrochen auf uns eindringen. Also zu jeder Zeit hat man potenziell eben eine Anruf oder eine Bitte oder eine Anforderung, aus der Arbeitswelt und auch aus der Familienwelt, aus der Freizeitwelt. Da haben wir tatsächlich ein Problem geschaffen, für das wir auch insgesamt doch mal eine Lösung suchen müssen. Ich will nur sagen, dass es mir zu einfach scheint, zu denken, der Druck wird immer nur von den Chefs per se ausgelöst, weil man wirklich ganz häufig sieht, wenn man sich das genau anguckt in Arbeitszusammenhängen. Also, es gilt vielleicht tatsächlich nicht so sehr für Großbetriebe wie Porsche, wo das eine gute Idee sein kann. Aber in vielen Zusammenhängen haben wirklich Arbeitnehmer das Gefühl, ich muss da jetzt ins Geschäft und eine Arbeit zu Ende bringen. Das kann zum Beispiel im Pflegedienst sein: Wenn da jemand ausfällt, haben natürlich Menschen das Gefühl, ich muss das jetzt aber machen. Und so geht es in ganz vielen Zusammenhängen. Manchmal auch an der Supermarktkasse zum Beispiel, dass jemand eigentlich frei hat, aber er weiß, oh Mann, die alte Kollegin ist frei geworden, und bei der anderen steht gerade eine Hochzeit oder eine Reise an, und wenn ich die jetzt hängen lasse, kriegen die große Probleme, sodass man sehen muss, die Probleme, die wir haben, die sind überhaupt nicht klein zu reden. Die haben wir sozusagen in der Gesamtstruktur geschaffen.
    Schulz: Herr Rosa, ist es denn neu, oder ist es eine neue Qualität, denn das Leben hat ja auch vor zehn oder 20 oder 30 Jahren nie stillgestanden. Es ist ja da auch schon immer 24 Stunden am Tag weitergegangen.
    Rosa: Ja, es war tatsächlich so, und die Soziologen haben lange Zeit gedacht, moderne Gesellschaft funktioniert nur so, dass die Dinge feste Zeitfenster hatten. Man musste, sagen wir mal, zwischen acht und 17 Uhr arbeiten, und in der Zeit konnte man gar nichts anderes machen. Ich konnte mich da nicht um eine Tante oder ein Kind oder einen Einkauf kümmern. Aber nach 17 Uhr war die Berufswelt komplett abgeschaltet. Da hatte die gar nichts mehr mit meinem Leben zu tun. Und heute ist es eben tatsächlich so, dass wir praktisch alle Sphären zu jeder Zeit bedienen können. Das hat manchmal auch Vorteile, dass ich auch während des Berufsalltags schnell einen Telefonanruf erledigen kann für die Familie oder eben was surfen oder eine WhatsApp schreiben oder sonst etwas tun. Aber es hat eben auch den Nachteil, dass wir eben immer erreichbar sind und dass damit die technischen Möglichkeiten bestehen, auch die Arbeitswelt am Wochenende, am Feierabend, überall hin mitzunehmen.
    Entschleunigung und Entspannung
    Schulz: Und das geht aber, das haben Sie ja eben schon gesagt, gar nicht unbedingt von den Chefinnen und Chefs aus, sondern den Stress machen sich viele Arbeitnehmer auch selbst und sind da ja auch ganz stark widersprüchlich. Ich habe jetzt noch mal geschaut: Zum Jahresanfang steht der Vorsatz "Weniger Stress im neuen Jahr" auf Platz eins der guten Vorsätze. Woran hapert es dann?
    Rosa: Das ist genau das Paradoxon, mit dem ich beschäftigt bin oder das mich interessiert, dass die zeitliche Strukturlogik unseres Lebens sich offensichtlich unseren guten Vorsätzen und unserem Willen völlig entzieht, weil Sie haben ganz recht. Dieser Vorsatz, nächstes Jahr mache ich ein bisschen langsamer, lasse ich es ein bisschen langsamer angehen oder entschleunige ich oder entspanne ich mehr oder lade ich mir weniger auf, der scheint komplett immun zu sein, oder unsere Praxis scheint komplett immun zu sein gegenüber diesem Vorsatz. Und deshalb meine ich, das Problem liegt tiefer. Da kann es helfen, so eine einfach Zeitregelung wie "Nach Feierabend gibt es keinen Kontakt mehr" einzuführen. Aber die Grundlogik ist die, die ich Steigerungslogik der Gesellschaft nenne. Wir leben da in einem System, das sich nur durch Steigerung erhalten kann. Wenn wir nicht jedes Jahr schneller, effizienter arbeiten und leben und auch mehr produzieren, besser produzieren, mehr konsumieren, mehr verteilen, können wir das, was wir haben, nicht erhalten. Unsere Arbeitsplätze, unsere Firmen, unseren Sozialstaat und so weiter.
    Schulz: Haben wir da aber nicht, Herr Rosa, Entschuldigung, dass ich da einhake, aber haben wir da nicht auch, zumindest auch den gegenläufigen Trend, dass jetzt eine IG Metall sich stark macht für eine 28-Stunde-Woche, was ja nahe dran ist an einer Teilzeitstelle, dann mit besserer Bezahlung. Aber gibt es da nicht auch beide Trends? Es wird ja auch immer gesagt, die Generation, die jetzt als Berufstätige neu an den Start geht, die lege viel größeren Wert drauf, sich das auch selbst und souverän zu gestalten.
    Rosa: Das ist ganz interessant zu beobachten. Es gibt tatsächlich diese beiden Seiten, einerseits, dass gerade auch Spitzenleute, Nachwuchskräfte gar nicht in die Toppositionen wollen, weil sie sagen, wir wollen auch leben, und nicht nur arbeiten. Da klagen tatsächlich ganz viele Unternehmen drüber. Und, Sie haben recht, auch bei den Gewerkschaften gibt es da jetzt wieder eine Bewegung hin, die dann nicht mehr unbedingt sagt, "wir für mehr", was auch mal ein Slogan war, sondern tatsächlich unter Umständen "wir für weniger", weniger Arbeitszeit. Momentan bewegt sich das allerdings noch auf der Ebene der Neujahrsvorsätze, also der Wünsche, die wir zwar an das Leben haben, aber noch nicht unbedingt der Praxis, die wir leben. Weil diese Wettbewerbslogik ja eine globale ist, und die setzt sich um in unser Leben im Sinne von permanenten Optimierungszwängen, dass wir überall versuchen, fitter, besser, attraktiver zu sein. Und dann haben wir natürlich auch selbst Erwartungen ans Leben, die unsere To-do-Liste füllen.
    Explodierende To-do-Listen
    Schulz: Das muss ich jetzt natürlich am 3.1.2018 noch mal fragen: Was ist Ihre konkrete Empfehlung, sich da jetzt 2018 gegenzustemmen?
    Rosa: Also ich glaube, wenn man sich genau anguckt, durch was komme ich eigentlich immer in Stress, dann stellt man fest, dass wir es fast alle in dieser Gesellschaft mit explodierenden To-do-Listen zu tun haben. Es steht einfach mehr drauf pro Tag oder pro Woche, als man vernünftigerweise erledigen kann. Also nicht unbedingt das Tempo unseres Lebens ist der Verursacher, sondern die Tatsache, dass die To-do-Liste explodiert. Und da könnte man jetzt sagen, die einfache Lösung lautet, schreib halt weniger drauf. Aber diese To-do-Liste wird gefüllt durch Erwartungen, die wir selbst, aber auch andere an uns haben und die wir als legitim empfinden. Man kommt zum Beispiel in den Job, und dann sagen die, wieso hast du denn das noch nicht gemacht? Und man hat das Gefühl, es war eine legitime Erwartung. Und dann kommt man nach Hause, und dann sagt die Frau vielleicht, warum hast du dich nicht um den Sohn gekümmert oder die Eltern.
    Schulz: Könnte sein.
    Rosa: Und da kann man nur die To-do-Liste noch mal durchgehen und gucken, welche dieser Erwartungen man wirklich einfach abschreiben und loswerden will.
    Schulz: Der Zeitsoziologe Hartmut Rosa heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank für Ihre Einschätzungen und natürlich auch für Ihre Zeit!
    Rosa: Gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.