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Der Tag davor

Los Angeles wartet schon seit langem auf "the Big one", die ganz große Katastrophe. Nach dem traumatischen San-Francisco-Beben von 1906 begriff die kalifornischen Gesellschaft, dass sie in einem Hochrisikogebiet siedelte. Gleichzeitig entwickelte sich das Land zu einem Ballungsraum, in dem inzwischen 86 Millionen Menschen leben, die meisten davon in Südkalifornien, zwischen Santa Barbara, Los Angeles und San Diego.

Von Dagmar Röhrlich |
    "Das hier ist ein Teil der Frauenwand. Weil sie keine schweren Steine schleppen konnten, opferten die Frauen schon im Alten Testament ihren Schmuck, damit er eingemauert werden konnte. Hier erkennen Sie ein Stückchen Obsidian, dort eine Muschel, noch eine - das war ihr wertvollster Besitz, mehr hatten sie nicht."

    Die Missionskirche von San Juan Capistrano, südlich von Los Angeles. Der schwarze Obsidian glitzert im gleißenden Licht der Mittagssonne:

    "Der Bau der Großen Steinkirche begann 1797 und dauerte neun Jahre. Indianer haben die Kirche errichtet, ein erstaunliches Bauwerk damals. Jetzt sehen wir nur noch die Reste."

    Die Fremdenführerin Marcy steht vor einer Ruine. Das Skelett der Kirche liegt frei: die zu hohen Mauern aufgetürmten, unregelmäßigen Blöcke, die leeren Fensterhöhlen und Nischen, die Türen, die nirgends mehr hin führen. Eine fein ausgearbeitete Rosette als Schlussstein in der letzten erhaltenen Kuppel zeugt vom vergangenen Glanz. San Juan Capistrano war das größte Gebäude westlich des Mississippi. Bis zum 8. Dezember 1812, einem Sonntag, dem Fest der unbefleckten Empfängnis:

    "Es geschah während der Frühmesse, zu der sich vor allem die Mütter versammelt hatten. Außerdem waren noch zwei Jungen im Glockenturm. Dann grollte die Erde. Bei den nächsten Erdstößen riefen die Mönche alle nach vorne, aber die Menschen brachen in Panik aus, wollten ins Freie. In diesem Moment brach der Glockenturm zusammen und versperrte den Ausgang."

    40 Menschen starben damals unter den Trümmern der Kirche. 1812 war Südkalifornien dünn besiedelt. Heute leben hier Millionen.

    "Wir haben es in Los Angeles mit mehreren Störungen zu tun, an denen sich Erdbeben ereignen können. Die berühmteste ist die San Andreas Verwerfung, und weil es hier schon lange nicht mehr gebebt hat, gilt ein neues, großes Beben als wahrscheinlich."

    Der Tag davor
    Eine Metropole baut für das große Beben - aus der Reihe "Die Megastadt von morgen"
    von Dagmar Röhrlich


    Der Großraum Los Angeles: ein schier endloses Häusermeer. Wolkenkratzer, Hochhäuser, Apartments, Villen, Einfamilienhäuser über Einfamilienhäuser, Malls, Flughäfen, zahllose und endlose Straßen mit Tausenden von Brücken. Städte und Landkreise gehen ineinander über, ohne dass man es wirklich merkt: Von Santa Barbara County nach Ventura County nach LA County nach Orange County nach Riverside County. 24 Millionen Menschen drängen sich in Südkalifornien - davon allein 18 Millionen in und um Los Angeles - trotz des Risikos.

    "Das Erdbeben an der San Andreas Verwerfung könnte eine Stärke 7,8 oder 8,2 erreichen - und die Störung ist 40, 45 Kilometer von Downtown Los Angeles entfernt. Dazu kommen jedoch noch die vielen anderen Störungen, die kleiner, aber nicht weniger gefährlich sind: Sie sind durchaus für Beben der Stärke 7 gut und liegen oft sehr viel näher an der Stadt."

    Erdbeben gibt es so lange wie die Erde, erläutert Jonathan Stewart, stellvertretender Direktor des Instituts für Bau- und Umweltingenieurswesen an der Universität von Kalifornien in Los Angeles: Megacities hingegen sind ein neues Phänomen. Um 1800 brachte es nur eine einzige Stadt auf mehr als eine Million Einwohner: Peking. Inzwischen jedoch konzentriert sich die Mehrheit der stetig wachsenden Erdbevölkerung in Städten. Davon haben sich 403 Millionen Bürger eine Metropole mit beträchtlichem Erdbebenrisiko ausgesucht - die Menschheit neigt dazu, die Plattentektonik zu verdrängen:

    "Nicht Erdbeben töten Menschen, sondern Gebäude, erklärt Lisa Grant-Ludwig. Die Geologin arbeitet an der Universität von Kalifornien in Irvine, und ihr Thema ist der Katastrophenschutz:

    "Erdbebensicheres Bauen ist ein soziales Problem. Es geht darum, wie viel Risiko die Menschen zu tragen bereit sind. Wenn sie in ihrem täglichen Leben Erdbeben nicht als Gefahr begreifen, werden sie auch nichts in ihren Schutz investieren."

    Irvine, durch das wir gerade fahren, liegt in Orange County, ganz in der Nähe der Ruine von San Juan Capistrano. Die 200.000 Einwohner-Stadt ist modern, typisch amerikanisch: weitläufig, ein paar hohe Bauten, viele flache, Bäume, Straßen. Hier dreht sich alles um die Universität, denn um sie herum wurde in den 1960er-Jahren der größte Teil Irvines am Reißbrett geplant. Altes sucht man vergebens. Lisa Grant-Ludwig vermisst das nicht. Sie schätzt die im Großraum Los Angeles als "nostalgisch" geliebten Ziegel- und Adobebauten nicht sonderlich: zu riskant, urteilt sie, sie können bei einem starken Beben zusammenbrechen. Deshalb müssen sie auch seit dem Loma Prieta Beben von 1989 mit Stahlankern und Klammern verstärkt werden.

    "In Kalifornien, Japan, Chile und noch ein paar anderen Staaten, die in seismisch aktiven Zonen liegen, sind große Anstrengungen unternommen worden, damit die Opferzahlen bei einem Beben so gering wie möglich ausfallen. Aber es gibt sehr viele Städte auf dieser Welt, wo ich keinesfalls ein Erdbeben erleben möchte. Ich möchte dort auch nicht leben, weil ich das Risiko für inakzeptabel hoch halte."

    In Kalifornien bebt die Erde entlang der 1100 Kilometer langen San Andreas Verwerfung samt ihrer Nachbarstörungen. Dort schrammen die Pazifische Krustenplatte und die Nordamerikanische aneinander vorbei. Das geht nur selten reibungslos: Immer wieder verkeilen sich die Platten über weite Strecken ineinander, Spannungen bauen sich auf - bis sie zu stark werden und sich in einem Beben lösen. Wann genau das wieder passiert, weiß niemand, dass es passiert, ist sicher.

    "Wir gehen mit dem Erdbebenrisiko auf verschiedenen Ebenen um. Unter anderem beim Baurecht, in dem wir festschreiben, welchen Kräften ein Gebäude standhalten muss. 1933, nach dem Long-Beach-Beben, hat Kalifornien als erste Region weltweit Grenzwerte für horizontal wirkende Kräfte ins Baurecht eingeführt. Wir lernen mit jedem Schadenbeben dazu, 1971 mit dem San Fernando Erdbeben etwa, 1989 mit dem Loma Prieta Beben oder 1994 mit dem Northridge-Beben. Jedes dieser Erdbeben lehrte uns etwas Neues darüber, welche Gebäude den Ernstfall gut überstehen und welche nicht."

    Der Campus des Caltech. An der Elite-Universität in Pasadena möchte man sich in Puncto Erdbebensicherheit keine Blöße geben. Für Ingenieure wie Tom Heaton wäre es eine Schande, ein Gebäude zu hinterlassen, das seine Benutzer erschlägt.

    "Wir sind durchaus bereit, mehr Geld zu investieren, als es die Bauvorschriften verlangen, wenn wir glauben, dass das Ergebnis es wert ist. Schließlich werden unsere Institute auch dann noch hier stehen, wenn wir längst fort sind. Wir möchten, dass unsere Nachfolger uns für klug halten und nicht für dumm."

    Tom Heaton bleibt vor einem spektakulären Gebäude stehen: Das Cahill Zentrum für Astronomie und Astrophysik, das mit seinen gewollten Rissen und Klüften in der Fassade aussieht, als würde es von einem Schwarzen Loch auseinandergerissen. Dreistöckig, aber statisch ausgerüstet wie ein Hochhaus. Daneben ein gänzlich unauffälliges Verwaltungsgebäude. Genau dieses nichtssagende Haus habe ihnen einige Kopfschmerzen bereitet, erzählt Tom Heaton bei dem Rundgang:

    "Das Haus zu unserer Linken ist ein Beispiel für ein starres Betongebäude, Baujahr 1966, wenn ich mich richtig entsinne. Ursprünglich war das Untergeschoss offen, es gab nur Säulen und keine Wände. Aber 1987, nach einem Erdbeben, entdeckten wir Risse. Damit war klar, dass dieses Haus so, wie es war, hier nie hätte gebaut werden dürfen. 1990 wurde es verstärkt: Von unten bis oben wurden Betonwände eingezogen, die die Belastung in das Fundament abführen. Das war teuer, aber jetzt ist es sicher."

    In den 1950er- und 60er-Jahren wusste man noch wenig über Erdbeben und erdbebensicheres Bauen, erklärt Tom Heaton. Deshalb wurde zum Beispiel der Stahl in den Säulen oft nicht ausreichend mit dem in den Trägern verbunden. Bei einem Beben vielleicht die entscheidende Schwachstelle:

    "Als die Leute ihren Fehler bemerkten, versuchten manche ihn zu korrigieren. Aber das ist teuer, so dass der Mangel meist nur versteckt wird. Man verkleidet diese starren Betongebäude so, dass man ihnen ihre wahre Natur nicht mehr ansieht. Selbst ein Experte erkennt das nur noch in den Originalplänen. Leider haben wir allein in Südkalifornien Tausende solcher Häuser, und es gibt kein Gesetz, das die Besitzer zwingt, die Baufehler aufzuzeigen oder zu beseitigen."

    Aus dieser kritischen Zeit stammt auch die Milikan-Bibliothek, das mit neun Stockwerken höchste Gebäude auf dem Campus. Ein schlichtes weißes Hochhaus mit schwarzer Fensterfront, zu dessen Füßen Wasserschildkröten in einem Teich baden:

    "Wenn wir diese Rampe hochgehen, sehen wir, dass die Betonwände bei diesem Gebäude vom Boden bis zum Dach durchgehen. Das ist ungewöhnlich, denn in Kalifornien werden die meisten Hochhäuser mit einem Skelett aus Stahlpfeilern und -trägern gebaut, durchgehende Wände gibt es nicht. Einmal ist diese Art zu Bauen teurer. Zum anderen aber sind manche Experten der Ansicht, dass solche Hochhäuser mit den hochfrequenten Erschütterungen eines Bebens nicht so gut zurecht kommen, weil sie steif reagieren, den Wellen nicht nachgeben. Aber wir hatten hier noch nie einen nennenswerten Schaden."

    Darüber, wie Hochhäuser und Wolkenkratzer sicher gebaut werden, scheiden sich die Geister, dabei wachsen gerade sie in Megacities empor – eine Folge von Platzmangel und Prestigedenken. Meist bevorzugen die Ingenieure flexible Stahlstrukturen, die den Wellen bis zu einem gewissen Grad nachgeben, langsam hin- und herschwingen. Der Bauingenieur Jonathan Stewart:

    "Flexibel ist eigentlich immer gut. Mir fällt derzeit kein Fall ein, wo das nicht gut wäre, denn ein Gebäude, das sich bewegt, absorbiert Energie. Wenn es spröde reagiert, kann es bei der Verformung brechen und man bekommt Probleme. Deshalb möchte man beim erdbebensicheren Bauen sprödes Verhalten vermeiden."

    Flexible Gebäude, so die Idee, sollen auf den Erdbebenwellen reiten. Die Frage ist, ob sie auch ein wirklich großes Ereignis aushalten, wie etwa ein Beben der Stärke 8,8, das im Februar 2010 die Region um Maule in Chile erschütterte. Es war das fünftstärkste Beben, das jemals aufgezeichnet wurde. Trotzdem starben nur 300 Menschen, denn die meisten Gebäude hielten stand. In Chile setzen die Ingenieure bei Hochhäusern jedoch nicht auf flexible Bauten, sondern auf starke Konstruktionen mit durchgehenden Betonwänden:

    "Man kann bestimmt heftig darüber diskutieren, was bei einem mit dem Chile-Beben vergleichbaren Ereignis mit US- Hochhäusern passiert wäre. Ich bin mir sicher, dass wir die Debatte erleben werden, ob die chilenische Art starke Hochhäuser zu bauen, besser ist als unsere - und ich kenne die Antwort wirklich nicht."

    Der Caltech-Forscher Tom Heaton fürchtet, dass das 21. Jahrhundert generell einige harte Lektionen über schwere Erdbeben und Hochhäuser bereit halten könnte:

    "Hochhäuser kommen üblicherweise mit Erdbeben um die Magnitude 7 gut zurecht. Diese "kleineren" Beben sind sehr viel häufiger als die großen Ereignisse mit Stärken von 8 oder 9. Aber wir wissen, dass wir solche wirklich starken Beben erleben werden, denn sie sind die Hauptakteure, die die Kontinente über die Erde bewegen. Unsere flexiblen Hochhäuser haben noch keines dieser wirklich großen Beben überstehen müssen und in den Simulationen zeigen sich genügend Gründe, besorgt zu sein. Ich bin mir gar nicht sicher, wie in 100 Jahren gebaut werden wird. Ich schätze, dass es einige signifikante Veränderungen geben wird."

    Wir sind in Irvine, vor dem 2009 eröffneten Krankenhaus. Ein sechsstöckiger, nüchterner Zweckbau, der Stolz der Universität: Geräumige Krankenzimmer, modernste Geräte - alles "state of the art", wie es so schön heißt. Auch was die Erdbebensicherheit angeht. Das hochmodernes Hospital verdankt Orange County dem Northridge-Beben von 1994, bei dem elf Krankenhäuser zusammenbrachen.

    "Das alte Universitäts-Krankenhaus war seismisch unsicher. Nach dem Northridge Beben hat der Staat Kalifornien ein Gesetz verabschiedet, nach dem Kliniken sehr strengen Standards genügen und ihren Betrieb nach einem Beben aufrecht erhalten müssen. Da sich die alte Klinik so weit nicht zu vernünftigen Kosten ertüchtigen ließ, war die einzig sinnvolle Lösung der Neubau."

    Warum die Universität neu baute, erfuhr die Öffentlichkeit allerdings erst, als der Umzug geschafft war, erzählt Lisa Grant-Ludwig. Die Verantwortlichen wollten ihre Patienten nicht verschrecken. Hospitäler so erdbebensicher zu machen, dass sie weiterarbeiten können, ist teuer, und so gibt es mehr als 15 Jahre nach dem Northridge-Beben immer noch "Schwachstellen":

    "Einige Kliniken haben erklärt, dass die geforderten Nachrüstungen sie ruinieren würden. Das wollte niemand der Patientenversorgung wegen. Auf der anderen Seite möchte auch niemand, dass eine Klinik einstürzt und im Ernstfall ausfällt."

    Deshalb gewährt der Staat den Krankenhäusern lange Fristen fürs Nachrüsten. Der Prozess läuft in einigen Häusern immer noch - und die Patienten ahnen nichts davon.

    Erdbebensicherheit ist ein Kostenfaktor, vor allem, wenn bestehende Gebäude verbessert werden müssen. Selbst in Kalifornien mit seiner strengen Gesetzgebung für erdbebensicheres Bauen beugt man sich dem pekuniären Druck. So müssen zwar die öffentlichen Schulen strikte Auflagen einhalten, die privaten jedoch nicht, auch nicht die meisten Colleges und Universitäten. Informationen über ihren genauen Bauzustand seien nur schwer zu bekommen, klagen die Katastrophenschützer. Trotzdem rechnen sie bei einem starken Beben mit wenigen Tausend Opfern. Vergleichsweise wenig, urteilt Jochen Zschau, Leiter der Sektion Erdbebenrisiko am Geoforschungzentrum Potsdam:

    "Für Los Angeles gilt natürlich ähnliches wie für San Francisco und viele andere Städte an der San Andreas Verwerfung in Kalifornien, dass sie schon besser vorbereitet sind. Man sieht das auch, wenn man die Erdbeben in der Vergangenheit mal nimmt und schaut, wie viel Leute sind umgekommen, dann sind das glücklicherweise ganz wesentlich weniger Leute."

    So hatte in Kalifornien das Northridge-Beben, das die Schwachstelle Krankenhäuser so deutlich offenbarte, lediglich 72 Todesopfer gefordert. Dabei war das Northridge-Beben genauso stark wie das von Haiti im Januar 2010: In dem 2-Millionen-Ballungsraum um Port-au-Prince starben 230.000 Menschen:

    "Da sieht man eben schon die Unterschiede in der Vorbereitung. Alle die Städte in den USA, die sind weniger vulnerabel, das muss man deutlich sagen, bei jedem Beben, sei es das Loma Prieta Beben von 1989 oder 1994 das Northridge Beben. Das heißt nicht, dass keine Katastrophe passieren kann. Aber es wird nicht so sein wie in Haiti."

    Vor allem die ökonomischen Folgen wären für Städte wie Los Angeles gewaltig, am katastrophalsten vermutlich für Tokio – und in der Folge für die ganze Weltwirtschaft. Würde heute ein starkes Beben die japanische Metropole erschüttern, käme es trotz aller Vorbereitung vermutlich zu ruinösen weltwirtschaftlichen Verwerfungen. Mit besonders hohen Opferzahlen rechnen die Experten hingegen für Istanbul, Kairo, Quito, Manila, Kalkutta, Dakhar, Teheran, Mumbai, New Delhi oder Jakarta, Metropolenregionen wie Lima oder Bogotá und Ballungsräume wie Kathmandu. Alle diese Städte liegen im roten oder gelben Bereich der Erdbebenwarnkarten - und alle sind sie schlecht vorbereitet:

    "Es gibt eine Abschätzung, die man vor einigen Jahren durchgeführt hat, wo verschiedene Megastädte sich angeschaut wurden und man einfach ein bestimmtes Erdbebenereignis, das mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in diesen verschiedenen Megastädten zu erwarten ist, durchgespielt hat. Es waren weit mehr als 20 solcher Megastädte, die untersucht wurden, und bei diesen Städten war Istanbul dann an zweiter Stelle, gleich nach Kathmandu, was die Anzahl der Todesopfer anbetraf, die erwartet oder abgeschätzt wurden."

    Für die 13 Millionen-Einwohner-Metropole Teheran etwa werden für ein Beben wie das von Haiti 230.000 Tote prognostiziert. Fällt die Magnitude stärker aus, können die Opferzahlen leicht bei einer Million liegen. Für einen Menschen, der in Kathmandu lebt, ist es neunmal wahrscheinlicher, bei einem Erdbeben zu sterben als für jemanden in Islamabad und 60mal wahrscheinlicher als für einen Bewohner von Tokio. Der Unterschied liegt in der Bauweise - und der staatlichen Aufsicht:

    "Länder wie Indien oder die Türkei haben zwar Vorschriften für erdbebensicheres Bauen, setzen sie aber nicht durch. Dabei wäre es zu moderaten Kosten möglich, Neubauten sicher zu errichten."

    Studien besagen: Würden in den kommenden 15 Jahren weltweit alle neuen Gebäude erdbebensicher errichtet, würde ein großes Ereignis 25 Prozent weniger Tote fordern. Und würde man nur die fünf Prozent marodesten Gebäude verstärken, könnte man 15 Prozent der zu erwartenden Todesopfer vermeiden. Dabei hängt erdbebensicheres Bauen nicht vom Geldbeutel ab. Tom Heaton vom California Institute of Technology in Pasadena:

    "Manchmal denken die Leute, dass man reich sein muss, um erdbebensicher zu bauen, aber das ist meiner Meinung nach nicht richtig."

    Heaton zieht einen Vergleich zwischen dem Erdbeben von Haiti im Januar 2010 und dem von Mexicali im Norden Mexikos drei Monate später:

    "Mexicali ist eine große Stadt und keine reiche Stadt. Obwohl beide Beben etwa gleich stark waren, starben bei dem in Haiti 230.000 Menschen, bei dem von Mexicali zwei. Während die Häuser in Port-au-Prince zusammenklappten, haben die Gebäude von Mexicali das Beben extrem gut überstanden."

    Ein großer Teil dieses Erfolgs in Mexicali sei anscheinend auf ein paar leicht verständliche Broschüren mit Ratschlägen zum bebensicheren Bauen zurückzuführen:

    "Sie setzen dort vor allem niedrige Stahlbetonkonstruktionen ein, die vernünftig mit gutem Baustahl und massivem Beton gesichert sind, so dass die Häuser Erdbeben sehr gut überstehen und dabei noch nicht einmal teuer sind."

    Eine Einkaufspassage in Irvine. Straßencafés und kleine Ladengeschäfte in Betonboxen, die sich um ein Hochhaus scharen, breite Wege, Bäume. Alles unter freiem Himmel.

    Wenn es jetzt geschähe, bestünde keine große Gefahr, analysiert Lisa Grant-Ludwig mit fachmännischem Blick:

    "Man weiß nie, wo man während eines Bebens sein wird, und deshalb sollte man sich seiner Umgebung immer bewusst sein, immer wissen, was zu tun wäre und wie man sich vor allem vor herunterfallenden Objekten schützt."

    Zwischen den Flaschenregalen im Supermarkt fühle sie sich unwohl, erläutert die Expertin für Katastrophenschutz weiter. Schließlich könnten die bei einem Beben regelrecht auf die Kunden herabregnen. Verhindern - oder zumindest verzögern, um Flüchtenden Zeit zu geben -, ließe sich das leicht, mit schmalen Leisten an den Regalen. Es sind oft solche einfachen Maßnahmen, auf die es ankommt. Auf der Rückfahrt erläutert Lisa Grant-Ludwig, dass man eben in einem Erdbebenland lebe und vorbereitet sein müsse - jeder einzelne:

    "Obwohl die meisten unserer Gebäude stehen bleiben werden, können bei einem Beben Dinge aus den Regalen purzeln oder Schränke umfallen. Deshalb sollte man schnell Schutz suchen. Und dafür bleiben nur Sekunden. Um die richtige Reaktion zu trainieren, veranstalten wir Jahr für Jahr Übungen. Dabei checken die Menschen dann auch, ob sie genügend Wasser im Hause haben, die Batterien in den Taschenlampen funktionieren und man weiß, wo sie sind."

    2008 hatten mehr als 300 Seismologen, Ingenieure und Statiker einmal ein "Big one" simuliert, eine Version des gefürchteten großen Bebens. Sie wählten ein Epizentrum nahe der Salten Sea südöstlich von Los Angeles, als Stärke 7,8. Das Ergebnis war desaströs: Alle nicht verstärkten gemauerten Gebäude in bis zu 25 Kilometern Entfernung wurden vollständig zerstört, 1800 Menschen starben. Der wirtschaftliche Schaden: 200 Milliarden US-Dollar. Insgesamt 600.000 Gebäude wurden beschädigt, darunter auch Hochhäuser. Zwei Drittel aller Krankhausbetten in den Counties Los Angeles, Orange, Riverside und San Bernardino standen nicht mehr zur Verfügung. Strom- und Telefonkabel waren unterbrochen, ebenso wichtige Straßenverbindungen.

    In der wirklichen Welt hatten schon das Loma Prieta- und später das Northridge Beben gezeigt, wie empfindlich gerade die Verkehrsinfrastruktur ist.

    "Der kalifornische Autobahnbetreiber Caltrans hatte in der Vergangenheit Erfahrungen mit zusammenbrechenden Brücken gesammelt. Und manch eine dieser Brücken ist nicht nur einmal zusammengebrochen, sondern bei verschiedenen Beben immer wieder. Dabei hat Caltrans in den vergangenen 30, 40 Jahren viel getan, um die Forschungen auf diesem Gebiet voranzutreiben, und sie arbeiten immer noch daran."

    Es geht nicht nur um die Opfer, die ein Einsturz fordern kann: Je mehr Straßen unpassierbar werden, umso schwerer haben es im Katastrophenfall die Rettungskräfte. Heute werden neue Brücken mit anderen Betonmischungen errichtet und nach anderen Richtlinien. Bei den alten hat Caltrans inzwischen überall im Land die zerbrechlichen Säulen an den Brücken mit äußerlichen "Stahlskeletten" verstärkt. Kabelzüge sorgen dafür, dass die Schwingungen nicht Träger zum Absturz bringen: Sie halten notfalls die Brückendecke fest. Seit dem Northridge-Beben 1994 habe der Staat Kalifornien viel in seine Verkehrsinfrastruktur investiert, erklärt Jonathan. Nicht so die Städte:

    "Deshalb glaube ich, dass beim nächsten Beben, wenn es bald passiert, wieder Brücken kollabieren werden, jedenfalls wenn es bald passiert. Dass dann eher die städtischen betroffen sein werden und nicht die staatlichen, was für einen Unterschied macht das für die Öffentlichkeit? Man sieht nur, dass die Brücke zusammengebrochen ist."

    Und obwohl die Wirtschaft schlimm getroffen sein würde, wenn beispielsweise auch die für das Überseegeschäft so zentralen Hafenanlagen in Los Angeles oder Long Beach schwer in Mitleidenschaft gezogen würden, stehen für Jonathan Stewart die Probleme mit den Verkehrswegen nur auf Platz 2:

    "Am kritischsten erscheinen mir die Probleme mit der Wasserversorgung, sie sind meine Nummer eins."

    Los Angeles liegt - wie andere von Beben bedrohte Megastädte - in einer trockenen Gegend, ist auf den "Wasserimport" angewiesen: Das Wasser kommt von weither - aus einem Delta in Nordkalifornien, der Östlichen Sierra und vom Colorado.

    "Wir müssen all' unser Wasser über weite Strecken über Kanäle und Pipelines heranschaffen - und alle diese Kanäle und Pipelines kreuzen irgendwo die San Andreas Verwerfung. Bei einem wirklich starken Beben an dieser Störung, bei dem die Erde über weite Strecken aufreißt, könnten alle Leitungen gleichzeitig zerstört werden - und dann wären wir plötzlich ohne Wasser."

    Zu den Problemen mit den Überlandleitungen für die Wasserversorgung kommen dann noch die mit dem Abwassersystem von Los Angeles. Brechen diese Rohre, könnte das gesamte Wassersystem von LA kontaminiert werden. Und zwar nicht nur für ein paar Tage, sondern für Wochen und Monate, fürchtet Jonathan Stewart. Das würde die Überlebensfähigkeit der Megacity Los Angeles auf die Probe stellen.

    "Für die Bewohner von Los Angeles, die in der Stadt bleiben sollen, wird das ein ernsthaftes Problem - und es ist ein Problem, dessen Schwere den meisten nicht bewusst ist."

    "Was werden wir also machen? Das ist eine schwierige Frage, weil wir das ganze Netz nicht schnell reparieren können. Wir haben begonnen, für die Wasserleitungen bessere Materialien einzusetzen, vor allem bei den Verbindungsstücken. Aber ob das reicht? Ich weiß nicht, ob es für dieses Problem eine Lösung gibt, aber es gehört zu denen, die uns den Schlaf rauben."

    Im Einkaufszentrum sitzen die Leute im Café, unterhalten sich. Es ist wie überall auf der Welt - und die Gefahr scheint ganz weit weg zu sein. Aber mit dem jüngsten Mexicali-Beben ist die Katastrophe noch ein wenig näher gerückt: Hochpräzise Satellitendaten verraten, dass sich die Spannungen in der Erdkruste verlagert haben - in Richtung Großraum LA.

    Sie hörten: Der Tag davor. Eine Metropole baut für das große Beben. Eine Sendung von Dagmar Röhrlich.

    Es sprachen:
    Produktion: Axel Scheibchen
    Redaktion: Christiane Knoll

    Hinweis: Der Beitrag ist Teil der Serie "Megastadt von morgen". Weitere Informationen finden Sie auf unserer Sonderseite