Historisch, desaströs, Wahlbeben, Zäsur – der Versuch, das Ergebnis der Bundestagswahl in Worte zu kleiden. Deutschland ist nach rechts gerückt. CDU und CSU verlieren dramatisch an Rückhalt, die SPD stürzt ab - so tief wie noch nie in ihrer Parteigeschichte, die AfD steigt auf zur drittstärksten Kraft.
"…Einigkeit und Recht und Freiheit…."
Auf der Wahlparty in Berlin stimmten AfD-Anhänger die Nationalhymne an. Die Wahl hat Deutschland verändert.
Erstmals seit mehr als 50 Jahren kommt mit der Alternative für Deutschland eine Rechtsaußen-Partei in den Bundestag. In ein Sieben-Parteien-Parlament, mit 709 Abgeordneten so groß wie noch nie. In Sachsen stärkste Kraft, in Ostdeutschland Nummer zwei – so kündigte AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland sogleich an, auf Frontalopposition zu gehen. Die Parteivorsitzende Frauke Petry wiederum will dieser AfD-Fraktion nicht angehören. Der erste Paukenschlag am Tag nach der Wahl.
"Eine anarchische Partei - wie es in den vergangenen Wochen das eine oder andere Mal zu hören war - die, die AfD sei, die kann in der Opposition erfolgreich sein, aber sie kann den Wähler kein glaubwürdiges Angebot für eine Regierungsübernahme machen. "
Sagt es und geht. Ein Vorgeschmack auch auf den Ton im 19. Bundestag?
In Berlin und München lecken Politiker ihre Wunden
Den will für die Opposition die SPD bestimmen. Martin Schulz, der grandios gescheiterte Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, hat für die auf 20,5 Prozent geschrumpfte einstige Volkspartei die neue Rolle bereits gefunden: Als Bollwerk der Demokratie, wie der Parteichef auch am Tag nach der Wahl sagt. Mit Andrea Nahles als neue Fraktionsvorsitzende. Und erneut mit Vorwürfen an die Adresse Merkels: "Auch in der Niederlage kommt es darauf an, welche Haltung man hat und ob man den Stolz hat, auf seine Prinzipien stolz zu sein, auf sein Programm stolz zu sein. Wir werden als starke Oppositionspartei dafür sorgen, dass Deutschland die Konfrontation bekommt, die Angela Merkel seit Jahren verweigert."
Doch nicht nur in Berlin, auch in München lecken Politiker Wunden. In Bayern ist die CSU - ein Jahr vor der Landtagswahl - um über zehn Prozentpunkte eingebrochen. CSU-Spitzenkandidat Joachim Herrmann hat es nicht einmal in den Bundestag geschafft. Der Kurs von CSU-Chef Horst Seehofer, Merkels Flüchtlingspolitik monatelang scharf zu kritisieren, um sie dann doch zu unterstützen, hat vor allem der AfD geholfen. Ein sichtlich angeschlagener Seehofer am Tag nach der Wahl:
"Wir bleiben bei unserer Einschätzung und zwar ausnahmslos, dass ein Weiter-so nicht möglich ist. Im Gegenteil, wir sagen den Wählerinnen und Wählern: Wir haben verstanden. Das wird jetzt so geschehen, dass wir jetzt mit der CDU über den generellen Standort von CDU und CSU - nämlich Mitte-rechts - eine Diskussion führen möchten."
Horst Seehofer hält an seinem Amt als Parteivorsitzender fest. Ob er jedoch derjenige sein wird, im kommenden Jahr die absolute CSU-Mehrheit im Freistaat verteidigt? Sein Rivale Markus Söder steht bereit, vielleicht doch früher als gedacht Parteichef zu werden.
Merkel will FDP und Grünen, aber auch der SPD Gespräche anbieten
Doch auch die CDU-Vorsitzende ist angeschlagen. Angela Merkels vierte Kanzlerschaft beginnt mit 33 Prozent, dem seit 1949 schlechtesten Ergebnis in der Geschichte der Union. Angela Merkel aber gibt sich auch am Tag nach der Wahl pragmatisch - verweist darauf, dass gegen die Union keine Regierung gebildet werden kann. Sie blickt nach vorn - will FDP und Grünen, aber auch der SPD Gespräche anbieten.
"Ich rate jedem - und ich glaube, das wissen die anderen Parteien auch alle - ein Wählervotum als ein Wählervotum zu nehmen. Und jedes Spekulieren auf irgendeine Neuwahl, ist die Missachtung eines Wählervotums, davon bin ich zutiefst überzeugt. Ich habe dazu eine klare Meinung. Wenn der Wähler uns einen Auftrag gibt, dann haben wir den umzusetzen."
Angela Merkel steht eine schwierige Regierungsbildung bevor. Wenn die SPD es ernst damit meint, dass sie keinesfalls in eine weitere Große Koalition geht, bleibt nur eine sogenannte Jamaika-Koalition mit FDP und Grünen. Es könnte jedoch sein, dass die schwierigsten Gespräche die mit der CSU werden; es könnte also noch dauern mit einem Koalitionsvertrag. Das Grundgesetz setzt nur eine einzige Frist: Spätestens 30 Tage nach der Wahl muss sich der 19. Bundestag konstituieren - und das ist Dienstag, der 24. Oktober.
Flüchtlingspolitik "viel wichtigeres Thema als von vielen vermutet"
Gespräche am Wahlabend beim Umfrageinstitut infratest dimap. Meinungsforscher Roberto Heinrich analysiert mit Journalisten die Zahlen des Abends. Selten standen die Umfrageinstitute unter einem größeren Druck als diesmal. Der Brexit, der Sieg Donald Trumps bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen - die Demoskopen lagen zuletzt oft daneben. Und sie hatten auch die AfD in Deutschland häufig unterschätzt. Auch dieses Mal? Welchen Einfluss würde die deutlich messbare Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung bei der tatsächlichen Wahlentscheidung haben? Die Analysen zeigen: Die Flüchtlings- und Integrationspolitik war ein viel wichtigeres Thema, als von vielen vermutet.
"Wir hatten ein Novum bei dieser Wahl: In der Vergangenheit spielten bei Bundestagswahlen Wirtschaftsfragen eine entscheidende Rolle, Arbeitsmarkt, Konjunktursituation. Das war bei dieser Wahl eben nicht der Fall. Erstmals waren Flüchtlings- und Migrationsfragen Fragen, die die Deutschen so bewegt haben wie kein anderes Thema."
Über die Hälfte der Bevölkerung zeigte sich zuletzt nicht einverstanden mit der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Merkel. Ein Drittel der Befragten gaben kurz vor der Wahl an: Sie fänden es gut, dass die AfD den Zuzug von Ausländern und Flüchtlingen stärker begrenzen wolle als andere Parteien.
"Gefühl der Verunsicherung greift weiter"
Doch das Gefühl der Verunsicherung greift weiter, stellten die Demoskopen fest. Kriminalität, Einfluss des Islam, Verlust der deutschen Kultur und Sprache: Die AfD bot sich für viele als Partei an, die zwar keine Probleme löst, aber immerhin die Dinge beim Namen nennt.
Dabei zog die AfD Wähler aus allen Parteien an – allein eine Million ehemalige Wähler von CDU und CSU. Letztere rutschte sogar auf unter 40 Prozent in Bayern. Aber auch SPD und Linke mussten erheblich Federn lassen. Den größten Zuspruch erfuhr die AfD dabei bei Arbeitern, Arbeitslosen und wirtschaftlich Unzufriedenen. Aber auch bei Angestellten, Beamten, Selbstständigen und Rentnern wurde sie durchgängig zweistellig.
Mit den Umfragewerten ist es jedoch oft ein Paradox. Die Instrumente, den Wählerwillen zu erfassen, werden immer feiner: Die Zahl der Umfrageinstitute nimmt zu, längst werden die Menschen nicht mehr nur direkt befragt, sondern wird auch ihr digitales Verhalten ausgelotet – und zwar in immer kürzeren Abständen. Gleichzeitig aber sieht das, was als Wählerwille gemessen wird, immer widersprüchlicher aus.
In einer Anfang August veröffentlichten Umfrage des Instituts Kantar Emnid im Auftrag der Funke Mediengruppe geben die Befragten als ihre größte Sorge den Klimawandel an. Auf das Wahlergebnis schlägt sich das erkennbar nicht nieder.
"Erstaunliche Achterbahnfahrt dieses Wahlkampfes"
Monatelang schien es ausgemacht, dass durch das Schließen der Migrationsrouten nach Europa und den Pakt mit der Türkei das Flüchtlingsthema für den Wahlkampf erledigt sei – bis es im September mit aller Macht zurückdrängte und mit ihm die AfD wieder aufstieg.
"Das Thema Flüchtlinge ist, glaube ich, nicht entkoppelt zu sehen von der Konjunktur - oder Nicht-Konjunktur - der AfD", sagt der Berliner Publizist Albrecht von Lucke.
"Das interessante Phänomen, was wir in diesem Wahlkampf erlebt haben, war, dass in dem Augenblick, da Martin Schulz diese Bühne betreten hat, und er endlich eine linke Alternative nach Jahren der Stagnation deutlich machte, dass in dem Augenblick auch die Frage der AfD und die Flüchtlingsfrage - dass die ein Stück weit vom Felde verdrängt war. In dem Augenblick aber, als nicht mehr zu übersehen war, dass Martin Schulz chancenlos geworden war, trat fast notwendigerweise wieder die AfD mit ihrem Thema, nämlich der Flüchtlingspolitik, in den Mittelpunkt der Debatten. Das ist meinem Eindruck nach die erstaunliche Achterbahnfahrt dieses Wahlkampfes: Am Anfang ein Verdrängen der AfD-Thematik, der Flüchtlings-Thematik, durch ein Angebot sozialer Gerechtigkeit in Form von Martin Schulz, und am Ende ein Wiederkommen der Flüchtlingsproblematik, und der Angstdebatte, durch das Verschwinden von Martin Schulz. Das ist das erstaunliche Phänomen. Man wird wohl sagen müssen, dass in diesem starken Ergebnis für die AfD zu Buche schlägt, dass sich eine linke Alternative nicht hat geltend machen können."
Die Koalitionsfrage beherrschte das SPD-Schicksal
Es sei der SPD nicht gelungen, den Wind zu nutzen, den ihr die Medien und die Demoskopen zunächst - im Februar und März - unter die Flügel geblasen hätten, sagt von Lucke. Es wäre der Zeitpunkt gewesen, die starken SPD-Themen - Sicherung der Rentenansprüche, Bürgerversicherung in der Gesundheitsversorgung - nach vorn zu rücken.
Nach den verlorenen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen im Frühjahr jedoch, als die SPD genau das Gegenteil eines wundersamen Aufstiegs erlebte, habe die Systemlogik der Medien zugeschlagen, erklärt von Lucke: Nicht der sozialdemokratische Inhalt, sondern die Koalitionsfrage habe das Schicksal der SPD beherrscht.
"Und ab dem Zeitpunkt ist die inhaltliche Auseinandersetzung für einen Herausforderer faktisch massiv erschwert, wenn nicht fast unmöglich gemacht. Martin Schulz hat es in diesem Wahlkampf schmählich - und in fast erstaunlicher, ja fast nicht zu erklärender Weise - nicht geschafft, seine Themen zum richtigen Zeitpunkt in Stellung zu bringen. Er hat faktisch das Momentum, das er hatte, verspielt. Und damit trat danach der mediale Selbstlauf ein: Die reine Fokussierung auf die Frage - wer kann mit der Kanzlerin, wer ist das Zünglein an der Waage."
"Eine riesige Chance verspielt"
Und Schuld am Debakel habe fraglos auch die frühere SPD-Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft, die in ihrem Nordrhein-Westfalen-Wahlkampf im Frühjahr Martin Schulz keinen Raum habe geben wollen.
"Natürlich trifft Hannelore Kraft ein großes Maß an Verantwortung."
Doch hätte ein Spitzenkandidat der SPD, "…Bun-des-vor-sitzender dieser Partei…", sich gegen diese für Schulz, Kraft und die gesamte SPD schädliche Strategie durchsetzen müssen.
"Ich glaube, deswegen muss sich die SPD, muss sich Martin Schulz zuallererst selbst den Vorwurf machen, eine riesige Chance verspielt zu haben."
Aus Sicht der Meinungsforscher ist es der SPD einfach nicht gelungen, sich inhaltlich zu profilieren. Bei den Kompetenzzuschreibungen hat sie in vielen Bereichen verloren. Beim Thema "Soziale Gerechtigkeit" fuhr sie sogar einen Negativ-Rekord ein. Der Wahlkampf, der zwischen Regierungs- und Oppositionswahlkampf changierte, tat sein Übriges hinzu, so Roberto Heinrich von infratest dimap:
"Dadurch ist es, glaube ich, nicht gelungen, zum einen Erfolge - auch eigene Regierungserfolge - zielgenau zu kommunizieren. Zum anderen hat man dadurch Verhältnisse kritisiert, für die ein Großteil der Wahlberechtigten auch die SPD selber in der Verantwortung sieht, weil die Sozialdemokraten ja seit 1998 - mit vier Jahren Pause - im Bund an der Regierung sind."
Grünen gelang es nicht, Expertise voll zur Geltung zu bringen
400.000 frühere SPD-Wähler machten diesmal lieber bei den Grünen ihr Kreuz.
"Es kam sicherlich hinzu, dass die Grünen bei dieser Wahl vor dem Hintergrund der Umfragen und absehbaren Mehrheitsverhältnisse auch als Regierungs- und Koalitionspartner interessant wurden. So haben wir sehen können am Wahlsonntag, dass ein beachtlicher Teil der Grünen-Wähler auch aus koalitionstaktischen Überlegungen heraus für die Grünen gestimmt haben."
Die Grünen schnitten zwar am Ende besser ab, als laut Umfragen eine Zeit lang zu vermuten stand. Doch ist das Ergebnis trotzdem kein Gutes, meint Publizist von Lucke: In einem Jahr, in dem Klima- und Energiefragen dank Dieselkrise und Wetterextremen eine so große Rolle spielten wie selten, ist es ihnen nicht gelungen, ihre Expertise voll zur Geltung zu bringen.
"Meines Erachtens ist die Widersprüchlichkeit des Wählers keine neue Erfindung. Sie schlägt aber in diesem Falle massiv zu Buche, man muss fast von einer Schizophrenie des Wählers sprechen."
Denn trotz hoher Zustimmungswerte für Klimaschutz und Mobilitätswende verharren die Grünen unter neun Prozent. Zu groß derzeit die wirtschaftlichen Ängste – unter anderem um die Autoindustrie:
"Wenn die Sorge um sich greift und auch medial aufgebaut wird, die 800.000 Arbeitsplätze sind in Gefahr, dann schlägt plötzlich das Kalkül auch beim grünen Wähler um, dann ist das Hemd näher als die Hose."
"Es gibt halt die von Ihnen schon angesprochenen Widersprüche – aber ich würde vermuten, dass sie zum großen Teil eher scheinbare Widersprüche sind."
Erläutert der Wahl- und Parteienforscher Aiko Wagner vom Wissenschaftszentrum Berlin.
"Wenn wir uns anschauen, dass die Leute bestimmte Präferenzen haben - für den Klimaschutz, für mehr soziale Gerechtigkeit -, steht erst einmal die Frage im Raum: Wie handlungswirksam werden denn diese Präferenzen? Also - Alltagsbeispiel: Jeder mag gutes Wetter, aber das wird noch nicht handlungswirksam bei der Bundestagswahl."
Was Albrecht von Lucke unter "das Hemd ist den Leuten näher als die Hose" fasst, also dass die Wahlentscheidung im Zweifel eher kurzfristigen eigenen Interessen als übergeordneten Zielen gehorcht, nennt Wagner so:
"Das Zweite ist, dass die Leute ja in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Interessen haben. Das heißt: für mehr soziale Gerechtigkeit, vielleicht aber auch für weniger Steuern. Für mehr oder weniger Einwanderung, und so weiter. Und da können solche sogenannten cross-pressure Situationen entstehen."
"Dem Wähler bleibt es überlassen, zu mutmaßen"
Cross-pressure heißt hier: das Zerrissensein zwischen verschiedenen, auch widerstreitenden Interessen und Zielen. Und die Wahrnehmung genau dessen habe zugenommen, vermutet Wagner, denn die Parteien verfügten immer weniger über halbwegs kohärente Ideengebäude, in denen eins zum anderen passt. Also etwa das Ziel, mehr für Soziales auszugeben, logisch mit dem Ziel, Wohlhabende stärker zu besteuern, korrespondiert.
"Ich glaube, was man ideologische Kohärenz nennen kann - sowohl bei Wählerinnen und Wählern als auch bei Parteien - wäre zu vermuten, dass das nachgelassen hat in den letzten Jahrzehnten. Das heißt, diese Konkretisierung von der abstrakten ideologischen Positionierung einer Partei hin zu bestimmten Politikpositionen und Politikfeldern - das ist schwieriger geworden, würde ich sagen."
Stattdessen stellen viele Politikbeobachter fest, dass die Parteien in ihren Zielen ähnlich klingen - und sich scheinbar nur in den Wegen unterscheiden. Dem Wähler bleibt es überlassen, zu mutmaßen, wie ernst es die Parteien womit dann meinen. Das stellt hohe Ansprüche an die Urteilskraft, verlangt Flexibilität. Politikforscher Wagner sagt:
"Was die Forschung zu politischem Wettbewerb gezeigt hat, ist die Zunahme dessen, was wir die Verfügbarkeit eines Wählers auf dem Wählermarkt nennen können. Das heißt, wir haben gesehen, dass beispielsweise die Wählerinnen und Wähler der AfD immer weniger offen sind für andere Parteien, während die Wähler für besonders Mitte-Parteien sehr viel offener geworden sind in den letzten Jahren."
"Der FDP ist es gelungen, viele Unzufriedene erfolgreich anzusprechen"
Was die Wähler der FDP nicht wollten - 1,3 Millionen ehemalige Unions-Wähler wanderten zu den Liberalen ab - ist klar: eine Fortsetzung der Großen Koalition. Entgegen kam ihnen, dass es der FDP gelungen ist, ihr schlechtes Image von der Egoismus- und Kälte-Partei ein Stück weit abzuschütteln.
Christian Lindner verfügte über äußerst hohe Beliebtheitswerte. Und die FDP hat nach Ansicht von Meinungsforscher Roberto Heinrich ebenfalls von der Flüchtlingsthematik profitiert:
"Die Liberalen haben bereits im Herbst 2015 deutliche Kritik geübt am flüchtlingspolitischen Kurs der Bundesregierung. Und es ist ihnen damit offensichtlich auch gelungen, viele Unzufriedene und frustrierte bürgerliche Wähler erfolgreich mit dieser Thematik anzusprechen."
Was sich ja mit dem Image einer Partei der Arbeitgeber - die zu jedem Zeitpunkt für mehr Zuwanderung waren - nicht unbedingt vereinbaren lässt. Die Unsicherheit, welcher Inhalt sich in welchem Parteiangebot verbirgt, kontrastiert dabei mit dem Rang, den die Politikanalysten dem Thema Sicherheit in dieser Wahl zugemessen haben. "Wir erleben den ersten Wahlkampf für das vergreisende Deutschland", giftete der Politikberater Frank Stauss wenige Tage vor der Wahl in einem Interview.
"Wo Bedarf an Sicherheit am größten ist, hat sich größter Überdruss ausgebreitet"
Der Politologe Aiko Wagner widerspricht jedoch.
"Ich glaube nicht, dass alle Personen über 52 (wo glaube ich jetzt der Median in der Altersverteilung der Wähler liegt) Angsthasen sind und nur Sicherheit versprochen haben wollen. Aber wahr ist auch, dass wir mit einem zunehmend älter werdenden Elektorat es zu tun haben in der Bundesrepublik, und verschärfend kommt dazu, dass die Älteren natürlich öfter zur Wahl gehen als die Jüngeren."
Natürlich könne dies das reine Sicherheitsdenken begünstigen. Man müsse aber aufpassen, welche Ängste und welche Forderungen nun von wem als bloße Risikoscheu abqualifiziert würden, warnt Wagner. Das Anschwellen des Flüchtlingsthemas in den letzten Wochen vor der Wahl sei eben auch Ausdruck dessen, dass die enormen Integrationsaufgaben der Gesellschaft noch nicht ausreichend behandelt worden seien. Ähnliches gelte für die Sorge um das Gesundheits- und Rentensystem.
Doch ist es eben der SPD nicht gelungen, diesen Faden aufzugreifen, erklärt Albrecht von Lucke. "Ich glaube, die SPD hat einen großen Fehler gemacht, dass sie nicht es geschafft hat, das Thema soziale Gerechtigkeit einzubetten in eine größere Sicherheitserzählung für alle." Zu unterstellen, dass Sicherheit aktuell eine besondere Rolle gespielt habe, sei aber Blödsinn, schiebt von Lucke nach.
"Jetzt den Eindruck zu erwecken, dass das Thema Sicherheit etwas originär Neues wäre, geht an der Erkenntnis vorbei, dass Sicherheit immer schon das dominierende Thema war. Von Adenauers "Keine Experimente"-Wahlkampf `57 über auch interessanterweise das Sicherheitsversprechen, das selbst Willy Brandt verkörperte, indem er sagte, wir brauchen einen Ausgleich mit dem Osten. Und interessanterweise selbst die große Friedensbewegung der 80er Jahre war von einem Wunsch nach Sicherheit geprägt. Sicherheit ist durch die Bank das große Ansinnen gewesen."
Allerdings aber habe die Chaotisierung der Weltpolitik, habe der Terror mit seinen innenpolitischen Folgen die "Sicherheitskarte" zur entscheidenden gemacht, sagt von Lucke.
So gesehen, verbirgt sich aber ein weiterer großer Widerspruch dieser Wahl im Verhalten der Menschen rechts von der SPD: Wo im Wertekosmos der Bedarf an Sicherheit und Kontinuität am größten ist, hat sich gleichzeitig auch der größte Überdruss ausgebreitet – und sich in einem besonders starken Verlust der Union Richtung AfD niedergeschlagen. Wie schon der heutige Tag zeigte: Das war garantiert keine sicherheitsversprechende Wahl.