Seit fast 2000 Jahren gibt es das Gebäude nicht mehr. Doch in Vergessenheit ist der Tempel nicht geraten.
Immer noch beten Juden für seinen Wiederaufbau, so etwa in der Amida, dem wichtigsten jüdischen Gebet. Amida bedeutet der Körperhaltung entsprechend: Gebet im Stehen.
"Habe Wohlgefallen, Ewiger, unser Gott, an Deinem Volk Jisrael und an ihrem Gebet und bringe den Dienst wieder in die Halle Deines Hauses zurück, und die Feueropfer Jisraels und ihr Gebet nimm in Liebe und Wohlgefallen auf, und der Dienst Deines Volkes sei stets zum Wohlgefallen."
Seit 1948, also seit dem es den Staat Israel gibt, hat niemand ernsthaft versucht, den Tempel wieder aufzubauen. Wollte ihn jemand in seinen ursprünglichen Ausmaßen wieder aufrichten, müssten dafür heute gleich zwei bedeutende Gebäude des Islams weichen: die Al Aksa-Moschee und der Felsendom, also eines der wichtigsten Heiligtümer der Muslime.
"Warten, bis Gott das machen wird"
Kaum jemand denkt ernsthaft daran, die beiden Gebäude abzureißen, um dort den Tempel wieder aufzubauen und den Opferkult und das Priesteramt wiedereinzusetzen. Jizchak Ehrenberg, orthodoxer Rabbiner in Berlin:
"Gibt es heute extreme Leute, die meinen, muss man unbedingt diese Al Aksa Moschee abreißen und bauen, die sind ganz extrem, das ist unmöglich, unmachbar. Die meisten in die jüdische geistliche Führung sind der Meinung, wir warten, bis Gott wird das machen."
Die Hoffnung auf den wiederaufgebauten Tempel ist im Judentum auf die messianische Zeit, die Endzeit gerichtet.
Der Messias, so die Vorstellung, werde die Juden wieder in ihr Land Israel bringen, den Tempel neu aufrichten und den Opferkult wieder einrichten. So beten Juden immer noch, als ob es den Staat Israel nicht gäbe.
"Und unsere Augen mögen es schauen, wenn Du in Barmherzigkeit nach Zijón zurückkehrst. Gelobt seist du Ewiger, der seine Gegenwart nach Zijón zurückbringt."
Doch heute ist fast alles anders als zur Zeit des Jerusalemer Tempels: Es gibt keinen Klerus mehr, der die religiösen Zeremonien durchführt. Der Synagogengottesdienst ist demokratisch organisiert. Jeder Mann kann vorbeten, im liberalen Judentum auch jede Frau. Und es gibt grundsätzlich keine Tieropfer mehr.
Der Tempel ist fast überall im Judentum gegenwärtig
Laien können jeden Teil einer heutigen Synagoge betreten. Es gibt keine Bezirke mehr, die nur dem Klerus vorbehalten sind, schon gar kein Allerheiligstes. In den fast 2.000 Jahren ohne Tempel haben Juden ihre Religion aufgeklärter und demokratischer gestaltet, als sie es zu Zeiten des Tempels war.
Und doch ist der Tempel fast überall im heutigen Judentum gegenwärtig: Die Gebetszeiten richten sich nach den alten Opferzeiten im Tempel, die Regeln für koscheres Schlachten richten sich nach den Opferritualen im Tempel.
Die Nachkommen der Priester und Tempeldiener, die Cohamin und Leviim , genießen eine Sonderstellung im jüdischen Gottesdienst. Man ruft sie zum Beispiel als erste vor die aufgeschlagene Torarolle , um einen Segensspruch zu rezitieren.
Und dann die Tora-Rollen selbst: Juden verehren die handgeschrieben Rollen im heutigen Gottesdienst. Sie tragen die Tora-Rolle, die in einen verzierten Stoffmantel gehüllt ist, feierlich durch die Synagoge. Die Rolle erinnert an das Kernstück des Tempels: die Bundeslade.
"Der Ewige sprach zu Mosche wie folgt: Sprich zu den Kinder Israel. Sie sollen mir ein Heiligtum verfertigen, so will ich unter ihnen wohnen, so wie ich dir im Bilde zeige das Modell einer Wohnung und das Modell all ihrer Geräte."
In der Bibel taucht der Tempel zunächst als transportables Heiligtum auf, das die Israeliten durch die Wüste tragen: als Mischkan , Tabernakel, Stiftshütte oder Tempelzelt.
Dieses Heiligtum soll der zentrale Ort der Kommunikation zwischen Gott und Volk Israel sein. Mosche vertritt das Volk in der Stiftshütte.
"Sie sollen eine Lade von Schnitt im Holz verfertigen. In die Lade legst Du das Zeugnis, die Gesetzestafeln, welches ich dir geben werde."
Es fällt auf, wie detailliert die Bibel den Aufbau des Tempelzeltes beschreibt.
Die Stiftshütte als zentraler Ort
Die entsprechenden Passagen hören sich an, als ob Gott eine Gebrauchsanweisung diktiert, genau vorgibt, wo welcher Ring und welche Stange aus welchem Material angebracht werden soll.
"Zweieinhalb Ellen soll die Länge sein, anderthalb Ellen die Breite und anderthalb Ellen die Höhe. Du sollst sie mit reinem Gold belegen, inwendig und auswendig belegen und oben einen goldenen Kranz herum machen. Dazu sollst du vier goldene Ringe gießen und an den vier Ecken anbringen ... Mache auch Stangen von Holz. Belege sie mit Gold. Bring alsdann die Stangen in die Ringe auf den Seiten der Lade, um die Lade damit zutragen."
Manche nennen heute solche Passagen etwas despektierlich die "Ikea-Stellen" der Bibel. - Zum Mobiliar gehören neben dem Allerheiligsten, in dem sich die Schrifttafeln der Gebote befinden auch Töpfe und Pfannen, also Gegenstände, die auf den Opferkult hindeuten.
Die Stiftshütte ist der Ort, an dem Gott und Mosche kommunizieren. Außer Mosche dürfen nur noch wenige Herausgehobene diesen Ort betreten - etwa Mosches Bruder Aharon, der erste Priester, und seine Söhne. Für normal Sterbliche ist das Heiligtum nicht gedacht. Den Tempeldienst verrichteten die Nachkommen Levis, die als einziger Stamm Israels keinen Landbesitz erhielten.
"Sie sollen bei dir sein, um das Stiftzelt zu bewachen, damit kein gewöhnlicher Mensch sich euch nähere. Ihr aber habt das Heiligtum und den Altar zu bewachen, damit kein Zorn mehr ausbreche über die Kinder Jisraels. Das Priestertum gebe ich euch als Geschenk zum Amt, und der gewöhnliche Mensch, der hinzutritt, soll des Todes sein."
Im Stiftszelt gilt genauso wie später für den aus Stein gebauten Tempel: Nur Autorisierte haben Zutritt, nur Spezialisten dürfen die heiligen Handlungen ausführen. Ansonsten kann ein falscher Handgriff zu einer Katastrophe führen.
Für den Religionswissenschaftler Rudolf Otto ist das Heilige auch immer etwas Unheimliches und Bedrohliches. Das trifft so auch auf den Tempel zu.
Allerdings ist die Bedrohung eingedämmt. Wenn die dafür ausgewählten Personen die richtigen Handgriffe ausführen, kann Unheil vermieden werden.
Von einem festen Tempel ist zum ersten Mal im Buch der Könige die Rede, doch der Ort des Tempels spielt schon in den Erzvätergeschichten im Buch Bereschit oder Genesis eine Rolle. Dort nämlich ist vom Berg Morija die Rede - dem Berg, auf dem später der Tempel gebaut wird.
Morija - das ist der Überlieferung nach der Ort, an dem Abraham beinahe Isaak tötet hätte. Erst im letzten Moment lässt er davon ab und opfert statt seines Sohnes einen Widder. Morija bedeutet: Er wird sich zeigen. Morija ist also der Berg, auf dem Gott sich zeigt.
Das erste Buch der Könige erzählt, wie König Salomo oder hebräisch Schelómo dort den ersten festen Tempel erbauen ließ. Die Bundeslade bildet auch das Zentrum von Salomos Tempel. Sie befindet sich in dem Bereich, den man das Allerheiligsten nennt, im kodesch ha kodaschim. Das bedeutet wörtlich: Im Heiligen der Heiligen.
Das Heilige betraten nur die Priester, das Allerheiligste nur der Hohepriester, und auch das nur einmal im Jahr, am Versöhnungstag Jom Kippur. Dann versprengte der Hohepriester im Allerheiligsten das Blut von Opfertieren und sprach dem Talmud zufolge den Gottesnamen aus. Die einzige Gelegenheit im Jahr, bei der jemand den Namen Gottes ausgesprochen hat, wenn man den jüdischen Quellen glaubt.
Wenn etwas im Judentum ein Tabu ist, dann das Aussprechen des Gottesnamens. Das Wort setzte sich aus den Buchstaben Jud, Hey, Wav, Hey, also JHWH zusammen. Juden bringen den Name bis heute nicht auf den Lippen - jedenfalls, wenn sie sich an die Regeln ihrer Religion halten.
Inzwischen ist die genaue Aussprache sogar vergessen. Juden umschreiben heute den Namen und sagen zum Beispiel adonai, mein Herr.
Nach dem Babylonischen Exil
Im Jahr 587 vor der Zeitrechnung eroberten die Babylonier unter Nebukadnezar das Land, verschleppten die Elite Israels nach Babylon und zerstörten den ersten salomonischen Tempel. Der jüdischen Tradition zufolge war das die Strafe dafür, dass die Israeliten sich nicht an Gottes Gebote gehalten hatten.
Nach dem Babylonischen Exil begann im Jahr 538 der Wiederaufbau. Das Allerheiligste blieb im neuen Tempel wohl leer, die Bundeslade war inzwischen verloren gegangen.
König Herodes der Große, ein Zeitgenosse Jesu von Nazareth, ließ den Tempel dann später prachtvoll und in ungeheuren Ausmaßen erneuern. Josephus Flavius beschreibt dieses Gebäude so:
"Seine Vorderseite war überall vergoldet, und wenn man hindurchsah, hatte man den vollen Anblick des eigentlichen Tempelhauses, welches zugleich das höchste Bauwerk des Tempels war."
Nach einem Aufstand der Israeliten zerstörten die Römer diesen zweiten Tempel im Jahr 70. Auf den Ruinen Jerusalems erbauten die Römer die Stadt "Colonia Aelia Capitolina." Man wollte auf diese Weise alle Erinnerung an die Heilige Stadt der Israeliten auslöschen.
Juden war der Zugang zu dieser Stadt jetzt ausdrücklich verwehrt. Alle Hoffnungen auf einen dritten Tempel zerschlugen sich und wurden schließlich in die messianische Zeit verlegt.
Übriggeblieben vom zweiten Tempel ist nur ein Teil der Westmauer, die auch als Klagemauer bekannt ist. Aber auch nachdem man nun im Judentum den Tempel verloren hatte, beschäftigte man sich weiterhin mit der Idee des Tempels.
Obwohl klar war, dass es kein neues Heiligtum geben würde, zeichnen die Rabbinen in der Mischna akribisch auf, welche Opferhandlungen wann und wie im Tempel ausgeführt werden sollen.
Dem Thema Tempel widmet sich sogar ein eigener Teil der Mischna. "Mischna" bedeutet Wiederholung und diese rabbinische Gesetzessammlung bildet die Basis des Talmuds. Die Berliner Judaistin Tal Ilan beschreibt die Intention der Rabbinen so:
"Wir wollen, dass der Tempel so schnell wie möglich wieder gebaut ist. Und da es mittlerweile klar ist, dass in unsere Welt wird kein neue Tempel gebaut, das bedeutet mit der Tempel ist auch der Endzeit zu erwarten, und wir wollen es so schnell wie möglich haben."
Wer heute eine Synagoge betritt, sieht dort keinen Altar mehr. Die Ämter der Priester und Leviten sind abgeschafft worden. Kein Zweifel, das Judentum ist seit Langem eine Religion der Laien.
Die Rabbinen und ihre Debatten, die das Judentum seit Jahrhunderten prägen, hatten früher im Jerusalemer Tempel nichts zu sagen, sondern sie sind aus der Bewegung des Pharisäertums hervorgegangen.
Doch trotz aller Gegensätze zwischen Tempel und Synagoge fällt dennoch eine Kontinuität auf: Im Allerheiligsten in der Stiftshütte befand sich die Bundeslade, hinter dem Vorhang in der Synagoge werden als Kernstück der Synagoge die handgeschriebenen Tora-Rollen aufbewahrt.
Die Bezeichnungen für beide sind ähnlich: die Bundeslade heißt in der Bibel "aron habrit, also Schrank des Bundes, der Tora-Schrein in der Synagoge heißt "aron hakodesch" - heiliger Schrank.
Dieses Beispiel zeigt, dass im Judentum über Jahrtausende hinweg die Wertschätzung für die Buchstaben erhalten geblieben ist.