Die Kirche im Rostocker Stadtteil Evershagen fällt auf: nicht durch Größe, mehr durch Optik. Ein kleines Gotteshaus mit schrägem Dach und gelb geklinkerter Fassade, umgeben von bunt bemalten Plattenbauten. Auf einem Holzschild steht "Katholische Pfarrkirche St. Thomas Morus". Hinter der Kirche toben zwölf Mädchen und Jungs auf dem Spielplatz eines Kindergartens. Die evangelische Gemeinde von Evershagen ist Untermieter bei der katholischen, der die kleine Kirche gehört. Pastor Mathias Wilpert, einer der Nachfolger von Joachim Gauck, öffnet die massive Eingangstür zum Gotteshaus:
"Herr Gauck war offiziell bis Anfang 1990 hier. Ich habe gerade noch mal nachgeguckt. Seinen letzten Gottesdienst hat er Heiligabend 1989 hier gehalten."
Evershagen liegt zwischen den Zentren von Rostock und Warnemünde, direkt neben der vierspurigen Stadtautobahn. Wer hier früher wohnte, arbeitete vorwiegend im nahen Rostocker Hafen. 1972 übernahm Joachim Gauck die neue evangelische Gemeinde. Jeden Sonntag zog er hier seinen Talar an, hielt Gottesdienste. Anfangs vor nicht viel mehr als ein paar Dutzend Gläubigen. Was sich jedoch schnell ändern sollte, wie sich Rosemarie Albrecht erinnert:
"Er war jugendlich, er war ja damals noch jung. Und er war ein Pastor, der seiner Gemeinde sehr nahe war. Er ging auf die Menschen zu. Er hat ja auch diese Gemeinde aufgebaut, indem er von Tür zu Tür ging und geklingelt hat, geklopft hat und sich den Menschen in diesem Neubaugebiet vorgestellt hat als Pastor."
Albrecht arbeitete damals als Ingenieurin an der Universität Rostock und gehörte sechs Jahre lang dem Kirchengemeinderat von Evershagen an. Die enge Zusammenarbeit hat ihr gefallen, weil Gauck – damals Anfang 30 - anders gewesen sei als andere Pastoren. Und weil er ...
"... ein Hörender war, dass dadurch auch er gehört wurde, weil er die konkrete Situation der Menschen hier in diesem Neubaugebiet, in dieser Stadt, auf die ist er mit eingegangen. Und er hat sogar gesagt, dass eine Predigt aus drei Teilen besteht: aus Gottes Wort, aus der Situation der Menschen, die angeredet werden und aus dem, der da spricht. Das wären die drei wichtigsten Elemente einer Predigt."
Rosemarie Albrecht steht auf, geht langsam durch ihre Drei-Raum-Plattenbau-Wohnung, holt ein Bündel DIN A4-Seiten und legt es auf den Wohnzimmertisch. Es sind Predigten von Joachim Gauck, die sie gesammelt und aufbewahrt hat. Allerdings "nur ein paar", wie sie bedauernd hinzufügt:
"Seine Predigten waren sehr lebhaft, er sprach frei, hatte nur Stichpunkte und erreichte uns damit."
Das Innere der gelben Kirche wirkt düster. Nur wenig Licht fällt durch die gelbweißen Fenster an der Rückfront auf die dunkelroten Fliesen und Backsteine. Eine Orgel, eine Empore auf der linken Seite des Kirchenschiffs, ein schmaler weißgetünchter Altar. Für eine katholische Kirche wirkt der Raum sehr nüchtern, was Pastor Wilpert gefällt.
"Wenn man es mit katholischen Kirchen in Süddeutschland - von daher finden wir uns hier doch ganz gut zurecht. Es ist für eine evangelische Kirche nicht so fremdartig, wie man vielleicht das denkt."
Der Pastor lächelt dabei verschmitzt. 1995, fünf Jahre nachdem Joachim Gauck aus dem Dienst der Mecklenburgischen Landeskirche ausgeschieden war, übernahm Wilpert die Gemeinde, die seither einen erheblichen Umbruch erlebte:
"Diese Gemeinde ist durch ihre Geschichte geprägt. Seit 1973 gibt es die Gemeinde hier. Es gibt so einen gewissen Grundbestand von Einwohnern, die von Anfang an oder aus den siebziger, achtziger Jahre hier sind und auch geblieben sind. Ansonsten gibt es eine ganz starke Fluktuation. Menschen, die zuziehen, wieder wegziehen."
Was Wilpert in den Gottesdiensten sieht, zu denen heute weit weniger Gläubige kommen als noch zu Zeiten von Pastor Gauck.
"Im Augenblick sind wir doch sehr geschrumpft als Gemeinde, vor allem in den 90er Jahren durch Wegzüge hier auch und Kirchenaustritte. Von 16.000 Einwohnern, die hier in Evershagen leben, sind augenblicklich 1.200 evangelisch."
Während seiner Zeit als Pastor in Rostock-Evershagen war Joachim Gauck Vorsitzender des Mecklenburgischen Kirchentagsausschusses und organisierte die Kirchentage 1983 und 1988. In dieser Zeit lernte Änne Lange, heute die Studienleiterin der evangelischen Akademie, den voraussichtlich elften Bundespräsidenten kennen. Später, im September 1989, traf sie den Pastor wieder - bei der Organisation der Rostocker Friedensgebete. In ihrem schmalen Büro unter dem Dach der Akademie erzählt sie von Gauck als einem "wortgewaltigen Prediger und Redner", der nicht nur ihr aus dem Herzen gesprochen habe:
"Ab der dritten Andacht war er dabei und hat auch die Predigt gehalten. Und die Kirche war voll von Menschen, die merken wollten, sie sind nicht allein, es gibt noch andere, die auch Veränderungen haben wollten, die Informationen wollten, die ermutigt und bestärkt werden wollten. Und dafür war er einfach genau der Richtige. Und das merkte man daran, wie die Leute mitgingen mit seinen Predigten und klatschten oder Zwischenrufe machten."
Johann Georg-Jäger hat die Zeit der Friedensgebete in einem Tagebuch festgehalten. Der heutige Landtagsabgeordnete der Grünen liest im Büro der Studienleiterin vor, was er damals schrieb:
"Bis kurz von 19 Uhr schrieb ich an der Information zum Neuen Forum und brachte sie zur Marienkirche. Marienkirche und Petri-Kirche waren dann total überfüllt. Gaucks Predigt war sehr gut und direkt 10.000 Menschen kamen zu den Andachten. Wir sammelten 14.000 Mark ein. Mit diesem Geld sollen die Leute mit Geldstrafen unterstützt werden."
Jäger und Lange beschreiben Joachim Gauck als "aufrechten, direkten, streitbaren Menschen". Dem fügt Henry Lohse, ebenfalls Pastor und ehemaliger Nachbar von Gauck, noch hinzu:
"Aber er ist natürlich kein Heiliger. Und sicherlich hat er hier und da auch Fehler gemacht. Ich kann nicht sagen, wo sie liegen. Geht uns doch allen so, dass wir in unserem Dienstbereich nicht alles perfekt machen können, sondern da bleibt auch manches liegen."
Die erneute Kandidatur ihres ehemaligen Pastors für das höchste Amt im Staat hat in der Kirchengemeinde für wenig Aufsehen gesorgt. "Lediglich ein bisschen Freude", stellt Pastor Mathias Wilpert derzeit fest, es sei weit weniger Euphorie spürbar als bei Gaucks erster Kandidatur. Und wenn er am Sonntag zum Bundespräsidenten gewählt wird – werden dann die Glocken geläutet? Verschmitzt lächelnd antwortet Pastor Wilpert:
"Die Glocken läuten ganz bestimmt hier nicht in Evershagen, weil es hier gar keine gibt. Jedenfalls haben wir keine. Wir werden im Gottesdienst sicher in der Fürbitte auch an ihn denken und für ihn beten, aber das wird es auch sein, denke ich."
Wie stark ist der künftige Bundespräsident geprägt von seiner Kirche? Und wie wird das künftig die Politik beeinflussen? Wird Deutschland jetzt endgültig protestantischer – mit einer ostdeutschen, protestantischen Doppelspitze Gauck – Merkel, einer Pastorentochter. Anderseits: Ein Protestant in Schloss Bellevue ist nichts Außergewöhnliches. Im Gegenteil. Von den bisher zehn Bundespräsidenten waren nur zwei katholisch: Heinrich Lübke und Christian Wulff.
Wolfgang Thierse, Raju Sharma, Christian Lindner: "Das ist ein geheimer Vorgang, aber es ist ja öffentlich bekannt, für wen die SPD votiert - und dass ich mit Joachim Gauck befreundet bin, ist auch kein Geheimnis.
- "Ich werde Beate Klarsfeld wählen."
– "Ganz sicher nicht. Aus voller Überzeugung Herrn Gauck. Ich bin froh, dass wir ihn jetzt haben."
Drei Bundestagsabgeordnete - ein Sozialdemokrat, ein Linker und ein Liberaler. Letzterer freut sich auf Joachim Gauck. Wie fast alle. Die Mehrheit der Deutschen will Gauck, den Theologen. Schon bei der Kandidatenfindung waren auffallend viele Kirchenmenschen im Gespräch: etwa Wolfgang Huber, Ex-EKD-Ratsvorsitzende, der als der SPD-nahe gilt, sowie die evangelische Funktionsträgerin Katrin Göring-Eckardt von den Grünen.
Einer, der Joachim Gauck unterstützt, ist Wolfgang Thierse, Sozialdemokrat und Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Er ist bekennender Katholik. Dass Gauck evangelischer Theologe ist und Pfarrer war, spielt aus Thierses Sicht durchaus eine Rolle, wenngleich keine zentrale:
"Das spielt nur insofern eine Rolle, als das ein Teil seiner Biografie ist, einer, wie ich finde, höchst achtenswerten Biografie, wie es so furchtbar viele in der DDR gar nicht gibt. Und insofern ist es wichtig."
Joachim Gauck hielt sich immer auf Distanz zur DDR. Er ging nicht zu den Jungen Pionieren oder zur FDJ – und so war schon früh klar: Ihm würde es verwehrt bleiben, Germanistik oder Journalismus zu studieren. Was ihm blieb, war das Studium der Theologie. Bis zur friedlichen Revolution in der DDR war er Pfarrer. Seitdem ist er nicht mehr im Amt.
Raju Sharma: "Ich glaube, auch wenn Herr Gauck eine Vergangenheit als evangelischer Pfarrer hat, wird er nicht so sehr als Protestant und Gläubiger wahrgenommen, sondern bei den meisten Menschen eher als Teil der Bürgerrechtsbewegung, der späten Bürgerrechtsbewegung in der DDR."
So Raju Sharma, religionspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion "Die Linke". 1990 wurde Joachim Gauck Beauftragter für die Stasi-Unterlagen. Ein Theologe leitete zehn Jahre lang eine Behörde, die schon bald nach ihm benannt wurde: die "Gauck-Behörde". Nach seinem Ausscheiden predigte er vor allem eines: das Hohelied der Freiheit. Und deshalb werde Deutschland mit Bundespräsident Gauck nicht protestantischer, sondern liberaler, sagt Christian Lindner, Bundestagsabgeordneter der FDP:
"Die Wahl von Joachim Gauck ist für mich kein religionspolitisches Signal. Herr Gauck selbst hat ja auch ausgedrückt, dass es ihm nicht darum geht zu werben für das Christentum oder den Protestantismus, sondern als gläubiger Christ will er für den Wert der Freiheit eintreten. Insofern, es geht davon ein politisches Signal aus, aber nicht in Richtung auf Religiosität, sondern tatsächlich auf Richtung eines zentralen republikanischen Wertes."
Christian Lindner, Hoffnungsträger seiner Partei in Nordrhein-Westfalen, beschäftigt sich immer wieder auch mit Grundsatzfragen, seinen eigenen Angaben nach auch mit Religion. Er warnt vor einer konfessionellen Engführung – und vor allem davor, Gauck als typischen Repräsentanten der evangelischen Kirche zu sehen:
"Gauck kritisiert den Kirchentag. Gauck kritisiert die Käßmannisierung der Politik. Hat das als naiv bezeichnet, was aus dieser Richtung vorgetragen worden ist mit Blick zum Beispiel auf die Militäroperation in Afghanistan. Also, der ist da untypisch. Und für mich ist er weniger ein evangelischer Theologe und mehr ein Freiheitslehrer, den wir dringend brauchen. Untypisch - und ich sage voraus: Auch unbequem für viele wird Joachim Gauck sein."
Politiker unterschiedlicher Couleur sind sich einig: Bundespräsident Gauck wird keine Re-Christianisierung des Landes betreiben – zumal die konfessionelle Landschaft immer bunter und vielschichtiger wird.
Der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf analysiert die Haltung der Deutschen so: Sie treten aus den Kirchen aus, wollen aber einen Prediger an der Staatsspitze. Der Münchner Professor für Systematische Theologie und Ethik kürzlich hier im Deutschlandfunk:
"Die religiösen Verhältnisse im Lande sind diffus. Der Einfluss beider großer Kirchen geht zurück. Aber es gibt so etwas wie eine bleibende Hoffnung vieler Deutschen darauf, dass im Bundespräsidialamt jemand sitzt, der - das ist ein furchtbarer Begriff - Werte repräsentiert, der so ein bisschen wie Staatsaura erzeugt, der eine Heiligkeit der Institutionen den Leuten nahebringen kann. Und offenkundig ist Joachim Gauck dafür eine ideale Projektionsfläche."
Demnach sehnen sich die Bundesbürger nach einem säkularen Seelsorger, einem sanften Sinnstifter. Gerade in Zeiten des Umbruchs. Gerade mit einer asketischen Kanzlerin, die durch und durch pragmatisch agiert. Joachim Gauck könnte Angela Merkel überhöhen – und somit ergänzen. Der ehemalige Pastor kann reden - mit staatstragender Galanterie.
Ostdeutsche Pfarrer und Christen sind nach 1989, nach dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung, wichtig geworden in der Politik - von Eppelmann bis Gauck. Wolfgang Thierse, der katholische Sozialdemokrat, dazu:
"Innerhalb der DDR waren offensichtlich Christen in einer besonderen Weise geprägt, sich nicht zu verlieren in die marxistisch-leninistische Ideologie, sich nicht allzu billig und allzu flott zu unterwerfen unter die Staatsmacht, die Obrigkeit, sich verführen zu lassen zu Anpassungen aller Art. Das hat dann eine Rolle gespielt in der friedlichen Revolution, wo ja Christen eine sehr starke Rolle gespielt haben, weit über ihren zahlenmäßigen Anteil an der DDR-Bevölkerung hinaus. Und deshalb muss man sich nicht wundern, dass aus der Ex-DDR in die Politik besonders viele Christenmenschen geraten sind, übrigens nicht nur Protestanten, sondern mindestens ebenso viel Katholiken."
Doch Katholiken in der Politik - egal ob aus West oder Ost - hatten es schon mal leichter. Zumindest diejenigen, die sich im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, kurz ZdK, engagieren und als Laienkatholiken bezeichnet werden.
Friedrich Wilhelm Graf: "Zweifelsohne haben die Katholiken ein Problem. Das katholische Bürgertum, die katholischen Funktionseliten im Lande, die es gibt, tun sich mit ihrer Kirche im Moment sehr, sehr schwer und viele Bischöfe tun alles daran, diesen Laienkatholizismus auch politisch zu marginalisieren."
Konfession ist in der deutschen Politik immer ein wichtiger Faktor gewesen – etwa in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts. Daraus entstand der politische Katholizismus in Form der Zentrumspartei.
Friedrich Wilhelm Graf: "Konfession prägt deutsche Politik subtil noch immer. Und das sehen sie vor allen Dingen in allen bioethischen oder biopolitischen Streitfragen. Katholiken argumentieren in Fragen der Prä-Implantationsdiagnostik, Sterbebegleitung und so weiter signifikant anders als Protestanten. Das erleben sie auch in den C-Parteien."
Gerade CDU und CSU pflegten immer die Nähe zu den Kirchen. Lange stand das Verhältnis von Staat und Kirchen nicht infrage. Doch die Stimmen, die einer weiteren Entflechtung das Wort reden, mehren sich. Wolfgang Thierse, der auch ZdK-Mitglied ist, hält dagegen und steht damit für jene Mehrheit, die das öffentlich-rechtliche Zusammenspiel von Staat und Kirchen gut heißt:
"Nach unserem Grundgesetz gilt die Trennung von Kirche und Staat und die Unterscheidung von Religion und Politik. Aber das heißt doch nicht, dass Religion keine öffentliche Rolle spielen dürfe. Zu verlangen, dass Religion nur im privaten Raum stattzufinden hat, heißt verlangen, dass Menschen, die Christen sind, schizophren werden. Noch sind zwei Drittel Angehörige einer der beiden christlichen Kirchen. Und die gewissermaßen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, das wäre verfassungsfeindlich. Das wäre freiheitswidrig. Deswegen sind ja auch die Vorschläge der Laizisten nach einer radikalen Trennung von Kirche und Staat und auch der totalen Entfernung von Religion aus der Öffentlichkeit grundgesetzwidrig und im Grunde auch ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit."
Schweres Geschütz, das sich gegen Laizisten richtet, die in fast allen Parteien stärker werden, auch in der SPD. Die Parteispitze jedenfalls distanziert sich von den sogenannten "Laizistischen Sozis", will nicht in die Nähe der Partei von Raju Sharma geraten.
Raju Sharma: "Also, es gibt ganz viele Verflechtungen von Kirche und Staat und auch Privilegien für die Kirchen, die wir gern im Sinne der Gleichbehandlung beseitigen wollen."
Über Parteigrenzen hinweg wird zurzeit besonders häufig das US-amerikanische Verfassungsmodell diskutiert, das keine Religionsgemeinschaft fördert, aber auch keine behindert. Für den religionspolitischen Sprecher der Linken sind die Vereinigten Staaten ein Vorbild:
"Wo eigentlich jeder Präsident der vergangenen Jahrzehnte sich auch in der Öffentlichkeit sehr stark auch als ein Gläubiger präsentiert hat. Und da haben wir eine sehr klare Trennung von Staat und Kirche und von Staat und Religion. Da geht das problemlos. Und wenn das in den USA funktioniert, warum soll's bei uns nicht auch gehen."
Für das US-Modell hegt auch Christian Lindner große Sympathien:
"Genau. Das ist offensichtlich ein Land, das Religiosität nicht unterdrückt, aber eben eine große Offenheit gegen jede Form des Bekenntnisses."
Er stellt sich allerdings – anders als die Linke - gegen laizistische Verfassungen wie in Frankreich.
"Nein, kein Laizismus. Der verdrängt das religiöse Bekenntnis an den Rand - und dann glüht erst Extremismus. Das sollten wir nicht verdrängen."
Stattdessen säkularer Republikanismus. Das ist das Credo von Christian Lindner.
Diese religionspolitischen Debatten wird der wohl nächste Bundespräsident beobachten müssen. Ob, wann und wie er sich dazu äußern wird – das ist eine andere Frage. "Ich bin ein linker, liberaler Konservativer". So hat Joachim Gauck sich selbst charakterisiert. Christian Lindner hofft auf den Liberalen Gauck:
"Ich ahne, dass Herr Gauck sich kein Schweigegelübde bei keiner Frage auferlegen wird. An vielen Stellen bürstet er gegen den Strich. Er hat beispielsweise ja gesagt, wenn Menschen Angst haben, dann höre ich ihnen zu, aber ich werde diese Angst nicht verstärken, sondern ich will sie eher empowern, ermächtigen, ihre Freiheit zu leben. Das hört man selten auf Kirchentagen so."
Friedrich Wilhelm Graf, evangelischer Theologie-Professor in München, rechnet vor allem mit dem Protestanten Gauck:
"Es wird sicherlich so sein, dass Frau Merkel und Herr Gauck ein ganz trereflexibles Einverständnis über ganz vieles entwickeln werden. Es gibt doch einen untergründigen Konsens, dass Freiheit ein wichtiges Thema ist, dass bestimmte Traditionen der DDR, des ostdeutschen Protestantismus im Lande eine Rolle spielen sollen. Das wird so kommen."
Und Wolfgang Thierse setzt auf den Christen Gauck – einen Mann, der Politik und Religion zusammendenkt:
"Er könnte auf absolut selbstverständliche Weise zeigen, dass man als Christenmensch zugleich ein politisch höchst vernünftiger Akteur sein kann. So sehr das politische Geschäft und das, was Kirchen tun, nicht identisch ist. Aber aus dem einen folgert immer auch etwas für das andere. Ich kann nicht überzeugter Christ sein, wenn ich nicht eine Leidenschaft für Gerechtigkeit und das Wohl der anderen habe."
Die Kirchen und die Religionsgemeinschaften. Wie sie kooperieren mit Staat und Politik - oder sich abgrenzen lassen: Der neue Bundespräsident könnte sich genau dieses Phänomens annehmen. Denn er ist vom Fach und weiß, wovon er redet. Vielleicht wird dies – neben der Freiheit - Gaucks zweites großes Thema: die religiös-politische Kultur in diesem Land.
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"Herr Gauck war offiziell bis Anfang 1990 hier. Ich habe gerade noch mal nachgeguckt. Seinen letzten Gottesdienst hat er Heiligabend 1989 hier gehalten."
Evershagen liegt zwischen den Zentren von Rostock und Warnemünde, direkt neben der vierspurigen Stadtautobahn. Wer hier früher wohnte, arbeitete vorwiegend im nahen Rostocker Hafen. 1972 übernahm Joachim Gauck die neue evangelische Gemeinde. Jeden Sonntag zog er hier seinen Talar an, hielt Gottesdienste. Anfangs vor nicht viel mehr als ein paar Dutzend Gläubigen. Was sich jedoch schnell ändern sollte, wie sich Rosemarie Albrecht erinnert:
"Er war jugendlich, er war ja damals noch jung. Und er war ein Pastor, der seiner Gemeinde sehr nahe war. Er ging auf die Menschen zu. Er hat ja auch diese Gemeinde aufgebaut, indem er von Tür zu Tür ging und geklingelt hat, geklopft hat und sich den Menschen in diesem Neubaugebiet vorgestellt hat als Pastor."
Albrecht arbeitete damals als Ingenieurin an der Universität Rostock und gehörte sechs Jahre lang dem Kirchengemeinderat von Evershagen an. Die enge Zusammenarbeit hat ihr gefallen, weil Gauck – damals Anfang 30 - anders gewesen sei als andere Pastoren. Und weil er ...
"... ein Hörender war, dass dadurch auch er gehört wurde, weil er die konkrete Situation der Menschen hier in diesem Neubaugebiet, in dieser Stadt, auf die ist er mit eingegangen. Und er hat sogar gesagt, dass eine Predigt aus drei Teilen besteht: aus Gottes Wort, aus der Situation der Menschen, die angeredet werden und aus dem, der da spricht. Das wären die drei wichtigsten Elemente einer Predigt."
Rosemarie Albrecht steht auf, geht langsam durch ihre Drei-Raum-Plattenbau-Wohnung, holt ein Bündel DIN A4-Seiten und legt es auf den Wohnzimmertisch. Es sind Predigten von Joachim Gauck, die sie gesammelt und aufbewahrt hat. Allerdings "nur ein paar", wie sie bedauernd hinzufügt:
"Seine Predigten waren sehr lebhaft, er sprach frei, hatte nur Stichpunkte und erreichte uns damit."
Das Innere der gelben Kirche wirkt düster. Nur wenig Licht fällt durch die gelbweißen Fenster an der Rückfront auf die dunkelroten Fliesen und Backsteine. Eine Orgel, eine Empore auf der linken Seite des Kirchenschiffs, ein schmaler weißgetünchter Altar. Für eine katholische Kirche wirkt der Raum sehr nüchtern, was Pastor Wilpert gefällt.
"Wenn man es mit katholischen Kirchen in Süddeutschland - von daher finden wir uns hier doch ganz gut zurecht. Es ist für eine evangelische Kirche nicht so fremdartig, wie man vielleicht das denkt."
Der Pastor lächelt dabei verschmitzt. 1995, fünf Jahre nachdem Joachim Gauck aus dem Dienst der Mecklenburgischen Landeskirche ausgeschieden war, übernahm Wilpert die Gemeinde, die seither einen erheblichen Umbruch erlebte:
"Diese Gemeinde ist durch ihre Geschichte geprägt. Seit 1973 gibt es die Gemeinde hier. Es gibt so einen gewissen Grundbestand von Einwohnern, die von Anfang an oder aus den siebziger, achtziger Jahre hier sind und auch geblieben sind. Ansonsten gibt es eine ganz starke Fluktuation. Menschen, die zuziehen, wieder wegziehen."
Was Wilpert in den Gottesdiensten sieht, zu denen heute weit weniger Gläubige kommen als noch zu Zeiten von Pastor Gauck.
"Im Augenblick sind wir doch sehr geschrumpft als Gemeinde, vor allem in den 90er Jahren durch Wegzüge hier auch und Kirchenaustritte. Von 16.000 Einwohnern, die hier in Evershagen leben, sind augenblicklich 1.200 evangelisch."
Während seiner Zeit als Pastor in Rostock-Evershagen war Joachim Gauck Vorsitzender des Mecklenburgischen Kirchentagsausschusses und organisierte die Kirchentage 1983 und 1988. In dieser Zeit lernte Änne Lange, heute die Studienleiterin der evangelischen Akademie, den voraussichtlich elften Bundespräsidenten kennen. Später, im September 1989, traf sie den Pastor wieder - bei der Organisation der Rostocker Friedensgebete. In ihrem schmalen Büro unter dem Dach der Akademie erzählt sie von Gauck als einem "wortgewaltigen Prediger und Redner", der nicht nur ihr aus dem Herzen gesprochen habe:
"Ab der dritten Andacht war er dabei und hat auch die Predigt gehalten. Und die Kirche war voll von Menschen, die merken wollten, sie sind nicht allein, es gibt noch andere, die auch Veränderungen haben wollten, die Informationen wollten, die ermutigt und bestärkt werden wollten. Und dafür war er einfach genau der Richtige. Und das merkte man daran, wie die Leute mitgingen mit seinen Predigten und klatschten oder Zwischenrufe machten."
Johann Georg-Jäger hat die Zeit der Friedensgebete in einem Tagebuch festgehalten. Der heutige Landtagsabgeordnete der Grünen liest im Büro der Studienleiterin vor, was er damals schrieb:
"Bis kurz von 19 Uhr schrieb ich an der Information zum Neuen Forum und brachte sie zur Marienkirche. Marienkirche und Petri-Kirche waren dann total überfüllt. Gaucks Predigt war sehr gut und direkt 10.000 Menschen kamen zu den Andachten. Wir sammelten 14.000 Mark ein. Mit diesem Geld sollen die Leute mit Geldstrafen unterstützt werden."
Jäger und Lange beschreiben Joachim Gauck als "aufrechten, direkten, streitbaren Menschen". Dem fügt Henry Lohse, ebenfalls Pastor und ehemaliger Nachbar von Gauck, noch hinzu:
"Aber er ist natürlich kein Heiliger. Und sicherlich hat er hier und da auch Fehler gemacht. Ich kann nicht sagen, wo sie liegen. Geht uns doch allen so, dass wir in unserem Dienstbereich nicht alles perfekt machen können, sondern da bleibt auch manches liegen."
Die erneute Kandidatur ihres ehemaligen Pastors für das höchste Amt im Staat hat in der Kirchengemeinde für wenig Aufsehen gesorgt. "Lediglich ein bisschen Freude", stellt Pastor Mathias Wilpert derzeit fest, es sei weit weniger Euphorie spürbar als bei Gaucks erster Kandidatur. Und wenn er am Sonntag zum Bundespräsidenten gewählt wird – werden dann die Glocken geläutet? Verschmitzt lächelnd antwortet Pastor Wilpert:
"Die Glocken läuten ganz bestimmt hier nicht in Evershagen, weil es hier gar keine gibt. Jedenfalls haben wir keine. Wir werden im Gottesdienst sicher in der Fürbitte auch an ihn denken und für ihn beten, aber das wird es auch sein, denke ich."
Wie stark ist der künftige Bundespräsident geprägt von seiner Kirche? Und wie wird das künftig die Politik beeinflussen? Wird Deutschland jetzt endgültig protestantischer – mit einer ostdeutschen, protestantischen Doppelspitze Gauck – Merkel, einer Pastorentochter. Anderseits: Ein Protestant in Schloss Bellevue ist nichts Außergewöhnliches. Im Gegenteil. Von den bisher zehn Bundespräsidenten waren nur zwei katholisch: Heinrich Lübke und Christian Wulff.
Wolfgang Thierse, Raju Sharma, Christian Lindner: "Das ist ein geheimer Vorgang, aber es ist ja öffentlich bekannt, für wen die SPD votiert - und dass ich mit Joachim Gauck befreundet bin, ist auch kein Geheimnis.
- "Ich werde Beate Klarsfeld wählen."
– "Ganz sicher nicht. Aus voller Überzeugung Herrn Gauck. Ich bin froh, dass wir ihn jetzt haben."
Drei Bundestagsabgeordnete - ein Sozialdemokrat, ein Linker und ein Liberaler. Letzterer freut sich auf Joachim Gauck. Wie fast alle. Die Mehrheit der Deutschen will Gauck, den Theologen. Schon bei der Kandidatenfindung waren auffallend viele Kirchenmenschen im Gespräch: etwa Wolfgang Huber, Ex-EKD-Ratsvorsitzende, der als der SPD-nahe gilt, sowie die evangelische Funktionsträgerin Katrin Göring-Eckardt von den Grünen.
Einer, der Joachim Gauck unterstützt, ist Wolfgang Thierse, Sozialdemokrat und Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Er ist bekennender Katholik. Dass Gauck evangelischer Theologe ist und Pfarrer war, spielt aus Thierses Sicht durchaus eine Rolle, wenngleich keine zentrale:
"Das spielt nur insofern eine Rolle, als das ein Teil seiner Biografie ist, einer, wie ich finde, höchst achtenswerten Biografie, wie es so furchtbar viele in der DDR gar nicht gibt. Und insofern ist es wichtig."
Joachim Gauck hielt sich immer auf Distanz zur DDR. Er ging nicht zu den Jungen Pionieren oder zur FDJ – und so war schon früh klar: Ihm würde es verwehrt bleiben, Germanistik oder Journalismus zu studieren. Was ihm blieb, war das Studium der Theologie. Bis zur friedlichen Revolution in der DDR war er Pfarrer. Seitdem ist er nicht mehr im Amt.
Raju Sharma: "Ich glaube, auch wenn Herr Gauck eine Vergangenheit als evangelischer Pfarrer hat, wird er nicht so sehr als Protestant und Gläubiger wahrgenommen, sondern bei den meisten Menschen eher als Teil der Bürgerrechtsbewegung, der späten Bürgerrechtsbewegung in der DDR."
So Raju Sharma, religionspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion "Die Linke". 1990 wurde Joachim Gauck Beauftragter für die Stasi-Unterlagen. Ein Theologe leitete zehn Jahre lang eine Behörde, die schon bald nach ihm benannt wurde: die "Gauck-Behörde". Nach seinem Ausscheiden predigte er vor allem eines: das Hohelied der Freiheit. Und deshalb werde Deutschland mit Bundespräsident Gauck nicht protestantischer, sondern liberaler, sagt Christian Lindner, Bundestagsabgeordneter der FDP:
"Die Wahl von Joachim Gauck ist für mich kein religionspolitisches Signal. Herr Gauck selbst hat ja auch ausgedrückt, dass es ihm nicht darum geht zu werben für das Christentum oder den Protestantismus, sondern als gläubiger Christ will er für den Wert der Freiheit eintreten. Insofern, es geht davon ein politisches Signal aus, aber nicht in Richtung auf Religiosität, sondern tatsächlich auf Richtung eines zentralen republikanischen Wertes."
Christian Lindner, Hoffnungsträger seiner Partei in Nordrhein-Westfalen, beschäftigt sich immer wieder auch mit Grundsatzfragen, seinen eigenen Angaben nach auch mit Religion. Er warnt vor einer konfessionellen Engführung – und vor allem davor, Gauck als typischen Repräsentanten der evangelischen Kirche zu sehen:
"Gauck kritisiert den Kirchentag. Gauck kritisiert die Käßmannisierung der Politik. Hat das als naiv bezeichnet, was aus dieser Richtung vorgetragen worden ist mit Blick zum Beispiel auf die Militäroperation in Afghanistan. Also, der ist da untypisch. Und für mich ist er weniger ein evangelischer Theologe und mehr ein Freiheitslehrer, den wir dringend brauchen. Untypisch - und ich sage voraus: Auch unbequem für viele wird Joachim Gauck sein."
Politiker unterschiedlicher Couleur sind sich einig: Bundespräsident Gauck wird keine Re-Christianisierung des Landes betreiben – zumal die konfessionelle Landschaft immer bunter und vielschichtiger wird.
Der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf analysiert die Haltung der Deutschen so: Sie treten aus den Kirchen aus, wollen aber einen Prediger an der Staatsspitze. Der Münchner Professor für Systematische Theologie und Ethik kürzlich hier im Deutschlandfunk:
"Die religiösen Verhältnisse im Lande sind diffus. Der Einfluss beider großer Kirchen geht zurück. Aber es gibt so etwas wie eine bleibende Hoffnung vieler Deutschen darauf, dass im Bundespräsidialamt jemand sitzt, der - das ist ein furchtbarer Begriff - Werte repräsentiert, der so ein bisschen wie Staatsaura erzeugt, der eine Heiligkeit der Institutionen den Leuten nahebringen kann. Und offenkundig ist Joachim Gauck dafür eine ideale Projektionsfläche."
Demnach sehnen sich die Bundesbürger nach einem säkularen Seelsorger, einem sanften Sinnstifter. Gerade in Zeiten des Umbruchs. Gerade mit einer asketischen Kanzlerin, die durch und durch pragmatisch agiert. Joachim Gauck könnte Angela Merkel überhöhen – und somit ergänzen. Der ehemalige Pastor kann reden - mit staatstragender Galanterie.
Ostdeutsche Pfarrer und Christen sind nach 1989, nach dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung, wichtig geworden in der Politik - von Eppelmann bis Gauck. Wolfgang Thierse, der katholische Sozialdemokrat, dazu:
"Innerhalb der DDR waren offensichtlich Christen in einer besonderen Weise geprägt, sich nicht zu verlieren in die marxistisch-leninistische Ideologie, sich nicht allzu billig und allzu flott zu unterwerfen unter die Staatsmacht, die Obrigkeit, sich verführen zu lassen zu Anpassungen aller Art. Das hat dann eine Rolle gespielt in der friedlichen Revolution, wo ja Christen eine sehr starke Rolle gespielt haben, weit über ihren zahlenmäßigen Anteil an der DDR-Bevölkerung hinaus. Und deshalb muss man sich nicht wundern, dass aus der Ex-DDR in die Politik besonders viele Christenmenschen geraten sind, übrigens nicht nur Protestanten, sondern mindestens ebenso viel Katholiken."
Doch Katholiken in der Politik - egal ob aus West oder Ost - hatten es schon mal leichter. Zumindest diejenigen, die sich im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, kurz ZdK, engagieren und als Laienkatholiken bezeichnet werden.
Friedrich Wilhelm Graf: "Zweifelsohne haben die Katholiken ein Problem. Das katholische Bürgertum, die katholischen Funktionseliten im Lande, die es gibt, tun sich mit ihrer Kirche im Moment sehr, sehr schwer und viele Bischöfe tun alles daran, diesen Laienkatholizismus auch politisch zu marginalisieren."
Konfession ist in der deutschen Politik immer ein wichtiger Faktor gewesen – etwa in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts. Daraus entstand der politische Katholizismus in Form der Zentrumspartei.
Friedrich Wilhelm Graf: "Konfession prägt deutsche Politik subtil noch immer. Und das sehen sie vor allen Dingen in allen bioethischen oder biopolitischen Streitfragen. Katholiken argumentieren in Fragen der Prä-Implantationsdiagnostik, Sterbebegleitung und so weiter signifikant anders als Protestanten. Das erleben sie auch in den C-Parteien."
Gerade CDU und CSU pflegten immer die Nähe zu den Kirchen. Lange stand das Verhältnis von Staat und Kirchen nicht infrage. Doch die Stimmen, die einer weiteren Entflechtung das Wort reden, mehren sich. Wolfgang Thierse, der auch ZdK-Mitglied ist, hält dagegen und steht damit für jene Mehrheit, die das öffentlich-rechtliche Zusammenspiel von Staat und Kirchen gut heißt:
"Nach unserem Grundgesetz gilt die Trennung von Kirche und Staat und die Unterscheidung von Religion und Politik. Aber das heißt doch nicht, dass Religion keine öffentliche Rolle spielen dürfe. Zu verlangen, dass Religion nur im privaten Raum stattzufinden hat, heißt verlangen, dass Menschen, die Christen sind, schizophren werden. Noch sind zwei Drittel Angehörige einer der beiden christlichen Kirchen. Und die gewissermaßen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, das wäre verfassungsfeindlich. Das wäre freiheitswidrig. Deswegen sind ja auch die Vorschläge der Laizisten nach einer radikalen Trennung von Kirche und Staat und auch der totalen Entfernung von Religion aus der Öffentlichkeit grundgesetzwidrig und im Grunde auch ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit."
Schweres Geschütz, das sich gegen Laizisten richtet, die in fast allen Parteien stärker werden, auch in der SPD. Die Parteispitze jedenfalls distanziert sich von den sogenannten "Laizistischen Sozis", will nicht in die Nähe der Partei von Raju Sharma geraten.
Raju Sharma: "Also, es gibt ganz viele Verflechtungen von Kirche und Staat und auch Privilegien für die Kirchen, die wir gern im Sinne der Gleichbehandlung beseitigen wollen."
Über Parteigrenzen hinweg wird zurzeit besonders häufig das US-amerikanische Verfassungsmodell diskutiert, das keine Religionsgemeinschaft fördert, aber auch keine behindert. Für den religionspolitischen Sprecher der Linken sind die Vereinigten Staaten ein Vorbild:
"Wo eigentlich jeder Präsident der vergangenen Jahrzehnte sich auch in der Öffentlichkeit sehr stark auch als ein Gläubiger präsentiert hat. Und da haben wir eine sehr klare Trennung von Staat und Kirche und von Staat und Religion. Da geht das problemlos. Und wenn das in den USA funktioniert, warum soll's bei uns nicht auch gehen."
Für das US-Modell hegt auch Christian Lindner große Sympathien:
"Genau. Das ist offensichtlich ein Land, das Religiosität nicht unterdrückt, aber eben eine große Offenheit gegen jede Form des Bekenntnisses."
Er stellt sich allerdings – anders als die Linke - gegen laizistische Verfassungen wie in Frankreich.
"Nein, kein Laizismus. Der verdrängt das religiöse Bekenntnis an den Rand - und dann glüht erst Extremismus. Das sollten wir nicht verdrängen."
Stattdessen säkularer Republikanismus. Das ist das Credo von Christian Lindner.
Diese religionspolitischen Debatten wird der wohl nächste Bundespräsident beobachten müssen. Ob, wann und wie er sich dazu äußern wird – das ist eine andere Frage. "Ich bin ein linker, liberaler Konservativer". So hat Joachim Gauck sich selbst charakterisiert. Christian Lindner hofft auf den Liberalen Gauck:
"Ich ahne, dass Herr Gauck sich kein Schweigegelübde bei keiner Frage auferlegen wird. An vielen Stellen bürstet er gegen den Strich. Er hat beispielsweise ja gesagt, wenn Menschen Angst haben, dann höre ich ihnen zu, aber ich werde diese Angst nicht verstärken, sondern ich will sie eher empowern, ermächtigen, ihre Freiheit zu leben. Das hört man selten auf Kirchentagen so."
Friedrich Wilhelm Graf, evangelischer Theologie-Professor in München, rechnet vor allem mit dem Protestanten Gauck:
"Es wird sicherlich so sein, dass Frau Merkel und Herr Gauck ein ganz trereflexibles Einverständnis über ganz vieles entwickeln werden. Es gibt doch einen untergründigen Konsens, dass Freiheit ein wichtiges Thema ist, dass bestimmte Traditionen der DDR, des ostdeutschen Protestantismus im Lande eine Rolle spielen sollen. Das wird so kommen."
Und Wolfgang Thierse setzt auf den Christen Gauck – einen Mann, der Politik und Religion zusammendenkt:
"Er könnte auf absolut selbstverständliche Weise zeigen, dass man als Christenmensch zugleich ein politisch höchst vernünftiger Akteur sein kann. So sehr das politische Geschäft und das, was Kirchen tun, nicht identisch ist. Aber aus dem einen folgert immer auch etwas für das andere. Ich kann nicht überzeugter Christ sein, wenn ich nicht eine Leidenschaft für Gerechtigkeit und das Wohl der anderen habe."
Die Kirchen und die Religionsgemeinschaften. Wie sie kooperieren mit Staat und Politik - oder sich abgrenzen lassen: Der neue Bundespräsident könnte sich genau dieses Phänomens annehmen. Denn er ist vom Fach und weiß, wovon er redet. Vielleicht wird dies – neben der Freiheit - Gaucks zweites großes Thema: die religiös-politische Kultur in diesem Land.
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