Seit langem stelle ich mir vor, dass ich statt meines Kopfes eine Kamera an meinem Hals montiert habe und alles filme, was meine Augen sehen können. Betrete ich mit meinem Filmkamerakopf eine mir bis dahin unbekannte Stadt, frage ich nicht nach den allseits bebilderten farbigen Sehenswürdigkeiten, sondern sofort nach den Gefängnissen, nach den Friedhöfen und Totenhäusern. Sehe ich ein Bild, das mich berührt und bewegt, so leuchtet der linke Knopf meines Kamerakopfauges rot auf, die Kamera beginnt zu surren und inhaliert die aufflimmernden Bilder.
Der Tod, er ist der ständige Begleiter im Werk von Josef Winkler: eine Art Urszene, die seine Bildwelt beharrlich färbt und unausweichlich konturiert. Raum und Zeit, Vergangenheit und Gegenwart, ja Nähe und Ferne greifen, von dieser Urszene überstrahlt, daher in seinem erzählerischen Kosmos beständig ineinander über. Wie sehr und auf welche Weise: Darüber sinnieren nun die elf kleinen Texte, die Josef Winkler unter dem grausig-komischen Titel "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot" zusammengestellt hat. In diesen Texten erzählt der Schriftsteller nämlich von seinen Reisen, die er unternimmt, während er an seinen Büchern über die Enge des heimatlichen Kärnten schreibt: Reisen, die ihn nach Italien führen, später nach Indien und dann immer wieder auch nach Mexiko. Und noch dort, so muss er feststellen, in der Fremde, erwartet ihn der Tod bereits in altbekannter Weise. Denn wo immer Winkler auch ist, wird er zum unfreiwilligen Zeuge vom Tod eines Kindes - eine Szene, die ihn wie eine Zeitmaschine zurück in seine Kindheit versetzt:
Dreizehn Jahre alt war ich, als ich beim Kaufmann erfuhr, dass unweit vom Elektrizitätswerk Kamering ein Kind überfahren worden und getötet worden ist. Ich lief die Straße entlang, beim Naschenweng vorbei auf eine Menschenmenge zu, stellte mich auf Zehenspitzen, blickte über die Schulter eines Neugierigen auf einen großen braunen Bogen Packpapier, auf ein paar nackte, unter dem Papier hervorschauende Kinderfüße.
Im Flugzeug nach Delhi stößt Winkler auf die Zeitungsnotiz eines in Goa ermordeten englischen Mädchens; sein eigener Wagentross löst in der indischen Hauptstadt einen Unfall aus, bei dem ein Junge zu Schaden kommt; in Rom sieht er, in einem Bus sitzend, auf dessen Rückfront Sturzhelm und Totenkopf abgebildet sind, ein Polizeiauto, das auf eine Mauer aufgeprallt und wie Papier zusammengeknautscht ist; wenige Tage vor seinem Abflug nach Mexiko, wo er Allerheiligen, Mexikos wichtigsten Feiertag, erleben will, wird in Klagenfurt ein Neunjähriger überfahren - als in der Stadt die Fußballeuropameisterschaft beginnt, werden die Andachtskerzen kurzerhand von der Straße geräumt. "Viva la muerte" - es lebe der Tod"!, rufen dagegen freudig die Menschen in Mexiko am Tag der Toten.
Larven und Masken mit Teufels- und Dämonenfratzen tragende Kinder liefen mit Plastiktotenköpfen, in denen Pesos lagen, zwischen den Gräbern zu den Friedhofsbesuchern und schepperten mit den Totenköpfen. In dieser Nacht zum ersten November wird die Ankunft der verstorbenen Kinder erwartet, der Angelitos, der kleinen Engel. Und dann waren sie auch schon wieder da, die Todeszuckungen des überfahrenen Jungen in Klagenfurt.
"Knochenstilleben auf dem Asphalt mit Ovomaltine" lautet der Titel dieser Erzählung - und eine Art Knochenstillleben, einen gespenstischen Totentanz formieren zugleich auch alle Erzählungen in ihrer Gänze. Wie Josef Winkler fühlt man sich auch als Leser "im Laufmaschennetz des Todes" - und das umso mehr, da Winkler den Echoraum der Geister und Widergänger zusätzlich mit literarischen Stimmen in ein quasi Unendliches vervielfacht: Denn mit im Gepäck des Schriftstellers und Reisenden Josef Winkler sind diverse Bücher und Romane - Reiseberichte von Annemarie Schwarenbach; Gedichte von Gerald Zschorsch; Paul Nizons "Im Haus enden die Geschichten", Handke und Terezia Mora - die ihm nicht nur zur inspirierenden Lektüre dienen, sondern auf fast prophetische Weise das Erlebte und Geschehene mit Worten untermalen.
Einen Tag vor der Abreise aus Indien verlasse ich das Gästezimmer der österreichischen Botschaft, gehe um die Ecke, auf die andere Seite der Botschaftsmauer, in ein Armenviertel, und sah, dass ein Mädchen zwanzig, dreißig bloße gelbe Hühnerkrallen aus einem Plastiksäckchen nahm und in die heiße Asche hineinlegte, sie nach einiger Zeit wieder herausholte und mit den Fingern die angebrannte gelbe Haut von den Krallen abschälte. 'Der Herr brach das Brot./Das Brot brach den Herrn', heißt es in einem Gedicht von Paul Celan.
Reisebeschreibung und Lektüre, das Gesehene und Gelesene; poetologische Reflexion und poetische Beschreibung, Erinnerung und Gegenwart: All das schießt in diesen Texten zu einem einzigen wilden Bilderreigen zusammen, der wie ein endloses Möbiusband sich stetig mit sich selbst verknüpft. Das ist kunstvoll, aber auch ein wenig erschöpfend, da eben nicht frei von Selbstreferentialität. Umso erfrischender und als die eigentlichen Schlüsseltexte dieses Bandes muten daher vor allem jene Geschichten an, in denen Josef Winkler uns von der Befreiung erzählt, als kleiner Junge die qualvolle Enge der katholischen Kirche gegen die heiligen Hallen der Kinosäle eingetauscht zu haben. Dort nämlich erkennt er, dass nicht nur die Bösen, sondern auch die Guten sterben. Und hier, so ahnt man, auf Augenhöhe mit 'Spiel mir das Lied vom Tod' und den 'Glorreichen Sieben', erblüht in ihm auch jene makabre Fantasie, mit der er in den besten Momenten seiner Texte mit barocker Suada und surrealer Sinnbildhaftigkeit die Enge seiner Themen überschreitet.
Aus der Höhle des Filmkameratotenkopfauges schlängelt sich ein auf dem Boden sich häufender, groß und größer werdender Filmstreifen, bis der schwarze Filmstreifen als meterhohe schwarze Pyramide sich in der Mitte des Kirchencorpus vor dem Altar erhebt, an dem sich der an der Vorderseite vergoldete Engel, der einen ausgehöhlten Rücken hat, mit einem Leinenhandtuch, in das "Das letzte Abendmahl" von Leonardo da Vinci eingestickt ist, die Achselhöhlen trocknet.
Josef Winkler: Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot.
edition suhrkamp 2008. 127 S., 8,- Euro
Der Tod, er ist der ständige Begleiter im Werk von Josef Winkler: eine Art Urszene, die seine Bildwelt beharrlich färbt und unausweichlich konturiert. Raum und Zeit, Vergangenheit und Gegenwart, ja Nähe und Ferne greifen, von dieser Urszene überstrahlt, daher in seinem erzählerischen Kosmos beständig ineinander über. Wie sehr und auf welche Weise: Darüber sinnieren nun die elf kleinen Texte, die Josef Winkler unter dem grausig-komischen Titel "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot" zusammengestellt hat. In diesen Texten erzählt der Schriftsteller nämlich von seinen Reisen, die er unternimmt, während er an seinen Büchern über die Enge des heimatlichen Kärnten schreibt: Reisen, die ihn nach Italien führen, später nach Indien und dann immer wieder auch nach Mexiko. Und noch dort, so muss er feststellen, in der Fremde, erwartet ihn der Tod bereits in altbekannter Weise. Denn wo immer Winkler auch ist, wird er zum unfreiwilligen Zeuge vom Tod eines Kindes - eine Szene, die ihn wie eine Zeitmaschine zurück in seine Kindheit versetzt:
Dreizehn Jahre alt war ich, als ich beim Kaufmann erfuhr, dass unweit vom Elektrizitätswerk Kamering ein Kind überfahren worden und getötet worden ist. Ich lief die Straße entlang, beim Naschenweng vorbei auf eine Menschenmenge zu, stellte mich auf Zehenspitzen, blickte über die Schulter eines Neugierigen auf einen großen braunen Bogen Packpapier, auf ein paar nackte, unter dem Papier hervorschauende Kinderfüße.
Im Flugzeug nach Delhi stößt Winkler auf die Zeitungsnotiz eines in Goa ermordeten englischen Mädchens; sein eigener Wagentross löst in der indischen Hauptstadt einen Unfall aus, bei dem ein Junge zu Schaden kommt; in Rom sieht er, in einem Bus sitzend, auf dessen Rückfront Sturzhelm und Totenkopf abgebildet sind, ein Polizeiauto, das auf eine Mauer aufgeprallt und wie Papier zusammengeknautscht ist; wenige Tage vor seinem Abflug nach Mexiko, wo er Allerheiligen, Mexikos wichtigsten Feiertag, erleben will, wird in Klagenfurt ein Neunjähriger überfahren - als in der Stadt die Fußballeuropameisterschaft beginnt, werden die Andachtskerzen kurzerhand von der Straße geräumt. "Viva la muerte" - es lebe der Tod"!, rufen dagegen freudig die Menschen in Mexiko am Tag der Toten.
Larven und Masken mit Teufels- und Dämonenfratzen tragende Kinder liefen mit Plastiktotenköpfen, in denen Pesos lagen, zwischen den Gräbern zu den Friedhofsbesuchern und schepperten mit den Totenköpfen. In dieser Nacht zum ersten November wird die Ankunft der verstorbenen Kinder erwartet, der Angelitos, der kleinen Engel. Und dann waren sie auch schon wieder da, die Todeszuckungen des überfahrenen Jungen in Klagenfurt.
"Knochenstilleben auf dem Asphalt mit Ovomaltine" lautet der Titel dieser Erzählung - und eine Art Knochenstillleben, einen gespenstischen Totentanz formieren zugleich auch alle Erzählungen in ihrer Gänze. Wie Josef Winkler fühlt man sich auch als Leser "im Laufmaschennetz des Todes" - und das umso mehr, da Winkler den Echoraum der Geister und Widergänger zusätzlich mit literarischen Stimmen in ein quasi Unendliches vervielfacht: Denn mit im Gepäck des Schriftstellers und Reisenden Josef Winkler sind diverse Bücher und Romane - Reiseberichte von Annemarie Schwarenbach; Gedichte von Gerald Zschorsch; Paul Nizons "Im Haus enden die Geschichten", Handke und Terezia Mora - die ihm nicht nur zur inspirierenden Lektüre dienen, sondern auf fast prophetische Weise das Erlebte und Geschehene mit Worten untermalen.
Einen Tag vor der Abreise aus Indien verlasse ich das Gästezimmer der österreichischen Botschaft, gehe um die Ecke, auf die andere Seite der Botschaftsmauer, in ein Armenviertel, und sah, dass ein Mädchen zwanzig, dreißig bloße gelbe Hühnerkrallen aus einem Plastiksäckchen nahm und in die heiße Asche hineinlegte, sie nach einiger Zeit wieder herausholte und mit den Fingern die angebrannte gelbe Haut von den Krallen abschälte. 'Der Herr brach das Brot./Das Brot brach den Herrn', heißt es in einem Gedicht von Paul Celan.
Reisebeschreibung und Lektüre, das Gesehene und Gelesene; poetologische Reflexion und poetische Beschreibung, Erinnerung und Gegenwart: All das schießt in diesen Texten zu einem einzigen wilden Bilderreigen zusammen, der wie ein endloses Möbiusband sich stetig mit sich selbst verknüpft. Das ist kunstvoll, aber auch ein wenig erschöpfend, da eben nicht frei von Selbstreferentialität. Umso erfrischender und als die eigentlichen Schlüsseltexte dieses Bandes muten daher vor allem jene Geschichten an, in denen Josef Winkler uns von der Befreiung erzählt, als kleiner Junge die qualvolle Enge der katholischen Kirche gegen die heiligen Hallen der Kinosäle eingetauscht zu haben. Dort nämlich erkennt er, dass nicht nur die Bösen, sondern auch die Guten sterben. Und hier, so ahnt man, auf Augenhöhe mit 'Spiel mir das Lied vom Tod' und den 'Glorreichen Sieben', erblüht in ihm auch jene makabre Fantasie, mit der er in den besten Momenten seiner Texte mit barocker Suada und surrealer Sinnbildhaftigkeit die Enge seiner Themen überschreitet.
Aus der Höhle des Filmkameratotenkopfauges schlängelt sich ein auf dem Boden sich häufender, groß und größer werdender Filmstreifen, bis der schwarze Filmstreifen als meterhohe schwarze Pyramide sich in der Mitte des Kirchencorpus vor dem Altar erhebt, an dem sich der an der Vorderseite vergoldete Engel, der einen ausgehöhlten Rücken hat, mit einem Leinenhandtuch, in das "Das letzte Abendmahl" von Leonardo da Vinci eingestickt ist, die Achselhöhlen trocknet.
Josef Winkler: Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot.
edition suhrkamp 2008. 127 S., 8,- Euro