"Ich habe viele Freunde, die nach Venedig kommen, und ich gebe allen den guten Rat, sich die Stadt vom Wasser aus anzusehen, am besten im Ruderboot, so wie wir es jetzt machen. Man spürt so die Andersartigkeit dieser Stadt, dieses Schweigen."
Venedig ist eine Wasserstadt. Wer sich ihr angemessen nähern will, muss vom Wasser aus kommen. Michela Scibilia hat eine Barca organisiert, ein Boot, mit dem wir uns durch die Kanäle rudern lassen.
Im Hauptberuf betreibt Michela eine kleine PR-Agentur, im Nebenberuf arbeitet die energische Frau mit dem Lockenkopf als Pfadfinderin. Sie findet in der Lagunenstadt Orte, von denen selbst Venezianer nicht wussten, dass sie existieren.
"Ich lebe in Venedig seit 25 Jahren. Und von Beginn an habe ich gemerkt, dass es notwendig ist, den Freunden zu helfen, die mich besuchen kamen. Als Erstes fragen sie meistens: Wo kann man essen gehen, in einer Stadt, die einen so hohen Touristen-Anteil hat. Wir sind inzwischen bei einem Einwohner-Touristen Verhältnis von 1 zu 1 - und wenn du durch die Stadt läufst, ist das 1 zu 10. Das bedeutet, die meisten Restaurants sind für Touristen."
Also hat Michela ein kleines Büchlein geschrieben, das Venezianern und Touristen den Weg oder besser den Kanal weist zu einer Osteria, in der man nicht mit dem Zeug abgespeist wird, das normalerweise den Gästen serviert wird. Menu Turistico für 15 Euro. Fade Pasta, ledriges Hühnchen. Das isst man einmal und nie wieder. Egal, denkt sich der Wirt, der ganz auf das Geschäft mit den Eintagsfliegen setzt.
"Für uns Venezianer ist diese Entwicklung eine Katastrophe", sagt Michela Scibilia. Und deshalb ist sie ständig auf der Suche nach den Orten, wo man nicht geprellt, nicht geneppt, nicht übers Ohr gehauen wird, sondern das wahre Venedig findet.
"Schau mal, da drüben dieser unglaubliche Laden. Das ist ein Elektriker - hoch spezialisiert auf diese venezianischen Dinge. Hier im Schaufenster hat er diese alten Wasserhähne aus den 30er-, 40er-Jahren, er hat Ersatzteile. Auch die 'Glastropfen' für die venezianischen Lampen, die man nie findet. Auch über die Läden in Venedig habe ich ein Buch geschrieben. Mit den Adressen von all den Geschäften, Werkstätten, Handwerkern, die man sonst nirgendwo auf der Welt findet."
Venedig ist einzigartig, eine Stadt gebaut im Wasser, im Sumpf. Vor sechs-, siebenhundert Jahren war die Stadtrepublik eine Großmacht. "La Serenissima", die Durchlauchtigste. Auf die politische und kulturelle Blüte folgte eine Zeit der Abgeschiedenheit, in der sich dieses prächtige Venedig wunderbar konserviert hat, um dann vor etwa hundert Jahren von den Touristen entdeckt zu werden.
Und seitdem kommen sie in Massen, um den berühmten Markusplatz zu sehen, die Rialtobrücke und den Dogenpalast. Sie kommen in Zügen, Bussen und Flugzeugen. Und seit einigen Jahren auch in diesen Riesenschiffen.
Neulich war sogar die "Göttliche" zu Besuch in Venedig. La Divina, das neue Kreuzfahrtschiff der Reederei MSC, das der Logik der Branche folgt: größer, höher, schwerer. Möglicherweise hätte Venedig diesem stählernen Giganten vor einem halben Jahr noch einen großen Empfang bereitet. Doch seit dem 13. Januar, seit der Havarie der Costa Concordia, reagieren die meisten Venezianer allergisch auf das Thema Kreuzfahrt.
"Sie sind schmutzig und bedrohen die Schönheit dieser Stadt" schimpft eine Frau, die gerade mit ihrer Unterschrift gegen die Kreuzfahrtschiffe in Venedig protestiert hat. "Nein zu den großen Schiffen" heißt die Initiative, die diese schwimmenden Städte aus der Stadt Venedig verbannen will. Francesca Bellia hat keine Mühe, ihre Mitbürger von der Idee zu überzeugen.
"Es gibt gute Reaktionen. Seit Jahresanfang machen wir - sagen wir – mehr symbolische Aktionen. Zum Beispiel ein Demonstrationszug auf dem Wasser mit über hundert Schiffen durch den Canale Grande, wir haben uns so direkt dem Riesenmonster auf dem Kanal gegenübergestellt. Immer mehr Menschen machen mit."
Mehr als 3000 Unterschriften sind innerhalb kürzester Zeit zusammengekommen. Auch dank Silvio Testa. Der Lokalreporter hat lange für die venezianische Tageszeitung "Gazzettino" gearbeitet, er kennt die Stadt wie seine Westentasche. Mit einem kleinen Buch über die Kreuzfahrtindustrie hat er die Initialzündung gegeben für den Widerstand der Venezianer gegen die großen Schiffe. Das war lange bevor ein gewisser Kapitän Schettino die Concordia vor Giglio auf einen Felsen setzte.
"Meiner Meinung nach ist so ein Unfall immer möglich. Entweder mit einem Kapitän Schettino oder es gibt auf den Schiffen, die hier vorbeifahren, einen Blackout und das Schiff bleibt im Becken von San Marco liegen. Und ich frage mich, wer so ein Schiffsunglück hier steuern kann."
In Venedig gibt es mehr Lungenkrebserkrankungen als in allen anderen italienischen Städten. Ob da ein Zusammenhang zur Schifffahrt besteht, diese Frage wurde noch nie wissenschaftlich geklärt. Für die Gegner der großen Schiffe liegt die Verbindung auf der Hand: Jedes einzelne Kreuzfahrtschiff verschmutze die Luft wie 14.000 Autos, sagen sie.
Man riecht es, man hört es, man sieht es. Ein Kreuzfahrtschiff durchquert auf seinem Weg ins offene Meer den großen Kanal, der Venedig von den vorgelagerten Inseln trennt. Die "Vaporetti", die Wasserbusse, die den Kurs des Schiffes queren, wirken winzig im Vergleich zu diesen schwimmenden Hochhäusern. Das Wahrzeichen der Stadt, der Markusdom, erscheint vor dem Hintergrund des Schiffes wie ein Spielzeughaus. Vermutlich sind es vor allem diese Proportionen, die die Venezianer erschrecken.
Michela Scibilia, meine Begleiterin durch die Kanäle Venedigs, will mich zu einem Mann bringen, der gegen die Veränderung kämpft. Schon von Berufs wegen. Giovanni Caniato, im Hauptberuf Archivar, engagiert sich in einem Verein zur Erhaltung der Schifffahrtstradition in Venedig.
Arzanà heißt dieser Verein, der in einer alten Werft historische Boote und Gondeln restauriert. Von außen sehen diese großen Bootsschuppen aus wie Almhütten, denn nicht nur das Holz, auch die Zimmerleute kamen früher aus den Dolomiten. Und innen schimpft Giovanni Caniato auf allzu viele Motorboote, die die Kanäle verstopfen und die Luft verpesten, und schwärmt von alten Gondeln, Ruderbooten und Barken.
"Diese alten Boote zu erhalten und sie wieder fahrbar zu machen, ist auch ein Weg zu zeigen, dass dieses Transportmittel in Venedig das beste ist. Den Dimensionen und dem Charakter dieser Stadt entspricht am ehesten das Ruderboot. Es ist langsam, aber man kommt überall hin. Es ist das richtige Verkehrsmittel, um diese Stadt zu würdigen."
Für Caniato ist klar: Je größer das Schiff, desto weniger passt es zu Venedig. Die Motorboote ruinieren mit ihren Turbinen die Fundamente der Häuser und die großen Kreuzfahrtschiffe verdrängen so viel Wasser, dass bei der Passage eines solchen Blechriesen der Pegel um 20 cm steigt bzw. sinkt.
Und einmal an Land, spucken diese Giganten Menschenmassen aus. Tausende, die natürlich Venedig auch zu Fuß erobern wollen. Oft in kurzer Zeit. Einmal zum Markusplatz mit seinen berühmten Kaffeehäusern und wieder zurück. "Mordi e fuggi” heißt das auf Italienisch. Ex und Hopp.
"Nur die Sehenswürdigkeiten abklappern, das Übliche. Und dann in den Park, der ist auch schön."
Am Beispiel Venedig lässt sich wunderbar darstellen, wie Wachstumsfantasien an ihre Grenzen geraten. An ihre physischen Grenzen. Wie viele Besucher verträgt eine Stadt, die nicht einmal mehr 60.000 Einwohner hat?
"Venedig hat jedes Jahr ungefähr 30 Millionen Besucher. Die Stadt ist wie ein "Disneyland", die Geschäfte sind nur noch auf die Touristen ausgerichtet, sie verkaufen Glaswaren und Masken, Handtaschen, die in Hongkong hergestellt werden, also alles Trash für den Tourismus - und das hat schwerwiegende Folgen für die Stadt."
Die Kreuzfahrten verändern das Bild dieser Stadt. Mit einem futuristischen "Peoplemover", einer führerlosen S-Bahn, werden die Kreuzfahrer vom Hafen in die Stadt und wieder zurück transportiert. Auch der Hafen hat sich komplett den Bedürfnissen dieser Form des Massentourismus angepasst. Riesige Parkflächen entstehen hier, und in den Gebäuden gibt es große Terminals, von denen aus die Kreuzfahrer in See stechen können.
Die "Magnifica" liegt zur Abfahrt bereit im Hafen – eine etwas ältere Schwester der "Divina", aber nicht minder groß und prächtig. Viele Stockwerke hoch, jede Kabine hat einen eigenen kleinen Balkon. Fast 4000 Passagiere kann dieses Kreuzfahrt-Schiff transportieren, schwärmt Massimo Bernardo, der die Führung, durch den Hafen organisiert hat.
"Sehen sie die Menschen auf dem Deck? Dort ganz oben! Die wissen, dass das Schiff jetzt an San Marco vorbeikommt, und sind da hochgestiegen, weil sie jetzt die Stadt zu sehen bekommen, etwas Wunderschönes, ein Eindruck, den man nicht wiederholen kann."
Weil die Schiffe so hoch sind, hat man vom Deck aus einen wunderbaren Überblick: San Marco, der Dogenpalast, der Lido. Wer eine Kreuzfahrt von oder nach Venedig bucht, dem liegt die Welt zu Füßen. Ein Plus, mit dem die Reiseanbieter werben können, und das die Stadt Venedig für sich gewinnbringend nutzen muss, sagt Massimo Bernardo. Die Aktivitäten der Kreuzfahrtgegner beobachtet er mit Sorge und hat ein Komitee ins Leben gerufen, das für die ungeliebten Schiffe die Lobbyarbeit macht.
"Der finanzielle Beitrag, den dieser Verkehr für die Stadt leistet, ist unverzichtbar. Weil Venedig eine Stadt ist, die vom Tourismus lebt. In diesem Moment schließen viele Fabriken und wir brauchen die Beschäftigung. Die Kreuzschifffahrt beschäftigt in Venedig 3000 Personen. 3000 Familien, die davon abhängig sind. Wenn wir dies nicht mehr hätten, gäbe es 3000 Familien ohne Arbeit."
Für die venezianischen Politiker ist das ein stichhaltiges Argument. Und so machen sie fast alles für die Kreuzfahrtindustrie.
Vor 100 Jahren schrieb Thomas Mann seine Novelle "Tod in Venedig", in der der alternde Dichter Gustav von Aschenbach in Venedig zuerst seine Würde und dann sein Leben verliert. Heute verdient der Abgesang eine neue Überschrift: der Tod von Venedig. Für ganz normale Bürger wie Michela Scibilia ist das Leben in dieser wunderbaren Stadt ein täglicher Überlebenskampf.
"Ich setze mich sehr für das Krankenhaus ein, natürlich zusammen mit vielen anderen. Wir haben 40 Vereine zusammengeführt, die alle das Krankenhaus von Venedig retten wollen, und etwas haben wir schon erreicht. Also, in Venedig zu leben ist wunderbar, doch fühlst du dich immer wie im Schützengraben. Man muss ständig für seine Rechte als Einwohner kämpfen."
Der Tod von Venedig lässt sich in Zahlen ausdrücken. In Einwohnerzahlen. Im Schaufenster seiner Apotheke auf dem Campo San Bartolomeo zeigt Andrea Morelli immer den aktuellen Stand an: 58.765.
"Diese Zahl sinkt um etwa sechs-, siebenhundert Einwohner pro Jahr", rechnet der Apotheker vor, der sein Schaufenster nicht mit Pharmawerbung, sondern mit demografischen Informationen zu Venedig bestückt. Einwohnerzahl 1961: 137.500. In einem halben Jahrhundert also hat sich Venedig mehr als halbiert.
"Das macht das Leben und Überleben natürlich schwieriger. Mit der Einwohnerzahl gehen auch viele Angebote zurück, die für das Leben wichtig sind. Es ist schwierig, eine ganz normale Bäckerei zu finden oder einen Laden mit Elektroartikeln. Während gleichzeitig die Zahl der Touristenläden stark zunimmt. Die verkaufen Karnevalsmasken und Glas, aber nicht solches aus Venedig."
Nur wenige Schritte von der Apotheke entfernt, könnte bald ein Gebäude entstehen, das den Bedürfnissen der Venezianer mehr entspricht als die zahlreichen Nippesläden mit Souvenirs Made in China. Der Investor Benetton will aus der ehemaligen deutschen Kaufmannsniederlassung in Venedig, dem "Fondaco dei Tedeschi", ein Kaufhaus machen. Der niederländische Architekt Rem Koolhaas ist für das Projekt verantwortlich. Er will das Gebäude entkernen und auf dem Dach eine Terrasse einrichten.
"Ein interessantes Gebäude. Das war kein Palazzo, sondern es war ein deutsches Kaufmannshaus und wurde als Lager und Handelsplatz genutzt."
Was Koolhaas damit sagen will: Wir machen aus dem Fondaco dei Tedeschi wieder das, was es einmal war: ein Haus des Handels. Fondaco kommt aus dem Arabischen "Funduk": Warenbörse. Und Tedeschi, das sind die Deutschen.
"Der Begriff der Deutschen war ein sehr weiter im Mittelalter. Alle, die von nördlich der Alpen kamen, waren Tedeschi. Die wurden dort untergebracht, mussten sich dort melden, da war auch der Zoll und dort durften sie Handel treiben."
Sabine Meine, die Leiterin des deutschen Studienzentrums in Venedig, kann viel über die Geschichte dieses Gebäudes im 16. und 17. Jahrhundert erzählen. Über die Import-Export-Geschäfte der deutschen Kaufleute.
"Dort hatten die Kaufleute namentlich aus Nürnberg, Ulm oder Frankfurt ihre großen Suiten und haben dorthin auch eingeladen. Die waren ganz prächtig ausgestattet. Und es gibt eben sehr viele Stockwerke. Und man kann sich gar nicht vorstellen, dass man das alles mit einem Kaufhaus füllen kann und dass auch das funktioniert. Auf jeden Fall ist es nichts, was die Venezianer brauchen."
Rem Koolhaas wirft den Umbaugegnern Dogmatismus vor und hält sich und seinen Auftraggebern zugute, dass sie wieder Leben in eine Stadt bringen, die zum Museum zu werden droht.
"Niemand von uns will doch ein Museum, das viel Geld kostet und sich zu all den anderen Museen gesellt. Es war früher ein Handelshaus und muss wieder ein Handelshaus werden. Aber wir sprechen hier von einem Baudenkmal. Entweder man erkennt das an oder man macht daraus ein Spekulationsobjekt."
Ortstermin mit dem Architekten Marco Zordan. Den besten Blick auf den Fondaco, sagt er, hat man von der anderen Seite des Canal Grande. Man muss nur über die Rialtobrücke gehen, dann sieht man dieses gewaltige Gebäude in seiner ganzen Pracht vor sich.
"Bevor der Kanal eine Kurve macht, kurz vor der Rialtobrücke – dieses gelbe Gebäude da drüben – das ist der Fondaco dei Tedeschi – der zu seiner Zeit komplett mit Fresken bemalt war."
Die Fresken an der Fassade fielen der Feuchtigkeit zum Opfer.
Doch noch immer ist der Eindruck, den das Gebäude macht, gewaltig. Allein die Größe: 10.000 Quadratmeter Fläche hat der Bau. Das Dachgeschoss wird noch von prächtigen Zinnen bekränzt. Doch Rem Koolhaas will aufstocken. Eine Panoramaterrasse soll auf das Dach, die Krönung eines Konsumtempels. Für den Architekten Marco Zordan ist das die "Anarchie des Kommerz":
"Wir schneiden also eine Schicht ab, um diese große Terrasse auf dem Canal Grande zu errichten. Für ein Einkaufszentrum ist es nämlich wichtig, etwas zu haben, was die Menschen bis zum letzten Stock hoch lockt. Als Magnet. Wenn da oben eine große Terrasse ist, kommen alle nach oben und durchqueren so alle Stockwerke."
Der Widerstand von Marco Zordan und vielen anderen Venezianern hat das Bauprojekt erst einmal massiv gebremst. Das Denkmalkomitee im italienischen Kulturministerium hat Widerspruch gegen die Koolhaas Pläne eingelegt. Vor allem die Rolltreppe und die Dachterrasse seien ein zu starker Eingriff in historische Strukturen. Wie definitiv dieser Bescheid ist, darüber wird noch gestritten.
"Du musst hier ständig streiten für deine Rechte als Bürger. Aber diese Stadt ist so außerordentlich, dass es sich natürlich lohnt."
"Alle Städte sind gleich, nur Venedig ist ein bissl anders", sagt Friedrich Torberg und Michela Scibilia will am Ende unserer Rundfahrt durch die Kanäle Venedigs nicht den Eindruck aufkommen lassen, als sei hier alles nur schlimm und furchtbar. Die Touristen, das Essen, der Kommerz. Nein, sagt sie, "Venedig ist und bleibt eine außerordentliche Stadt".
Allerdings nur, solange Menschen wie Michela hier leben.
"Ich bin zwar keine Venezianerin, wohne aber hier seit vielen Jahren. Vielleicht weiß ich deshalb das Glück, in dieser anderen Welt leben zu dürfen, besonders zu schätzen."
Venedig ist eine Wasserstadt. Wer sich ihr angemessen nähern will, muss vom Wasser aus kommen. Michela Scibilia hat eine Barca organisiert, ein Boot, mit dem wir uns durch die Kanäle rudern lassen.
Im Hauptberuf betreibt Michela eine kleine PR-Agentur, im Nebenberuf arbeitet die energische Frau mit dem Lockenkopf als Pfadfinderin. Sie findet in der Lagunenstadt Orte, von denen selbst Venezianer nicht wussten, dass sie existieren.
"Ich lebe in Venedig seit 25 Jahren. Und von Beginn an habe ich gemerkt, dass es notwendig ist, den Freunden zu helfen, die mich besuchen kamen. Als Erstes fragen sie meistens: Wo kann man essen gehen, in einer Stadt, die einen so hohen Touristen-Anteil hat. Wir sind inzwischen bei einem Einwohner-Touristen Verhältnis von 1 zu 1 - und wenn du durch die Stadt läufst, ist das 1 zu 10. Das bedeutet, die meisten Restaurants sind für Touristen."
Also hat Michela ein kleines Büchlein geschrieben, das Venezianern und Touristen den Weg oder besser den Kanal weist zu einer Osteria, in der man nicht mit dem Zeug abgespeist wird, das normalerweise den Gästen serviert wird. Menu Turistico für 15 Euro. Fade Pasta, ledriges Hühnchen. Das isst man einmal und nie wieder. Egal, denkt sich der Wirt, der ganz auf das Geschäft mit den Eintagsfliegen setzt.
"Für uns Venezianer ist diese Entwicklung eine Katastrophe", sagt Michela Scibilia. Und deshalb ist sie ständig auf der Suche nach den Orten, wo man nicht geprellt, nicht geneppt, nicht übers Ohr gehauen wird, sondern das wahre Venedig findet.
"Schau mal, da drüben dieser unglaubliche Laden. Das ist ein Elektriker - hoch spezialisiert auf diese venezianischen Dinge. Hier im Schaufenster hat er diese alten Wasserhähne aus den 30er-, 40er-Jahren, er hat Ersatzteile. Auch die 'Glastropfen' für die venezianischen Lampen, die man nie findet. Auch über die Läden in Venedig habe ich ein Buch geschrieben. Mit den Adressen von all den Geschäften, Werkstätten, Handwerkern, die man sonst nirgendwo auf der Welt findet."
Venedig ist einzigartig, eine Stadt gebaut im Wasser, im Sumpf. Vor sechs-, siebenhundert Jahren war die Stadtrepublik eine Großmacht. "La Serenissima", die Durchlauchtigste. Auf die politische und kulturelle Blüte folgte eine Zeit der Abgeschiedenheit, in der sich dieses prächtige Venedig wunderbar konserviert hat, um dann vor etwa hundert Jahren von den Touristen entdeckt zu werden.
Und seitdem kommen sie in Massen, um den berühmten Markusplatz zu sehen, die Rialtobrücke und den Dogenpalast. Sie kommen in Zügen, Bussen und Flugzeugen. Und seit einigen Jahren auch in diesen Riesenschiffen.
Neulich war sogar die "Göttliche" zu Besuch in Venedig. La Divina, das neue Kreuzfahrtschiff der Reederei MSC, das der Logik der Branche folgt: größer, höher, schwerer. Möglicherweise hätte Venedig diesem stählernen Giganten vor einem halben Jahr noch einen großen Empfang bereitet. Doch seit dem 13. Januar, seit der Havarie der Costa Concordia, reagieren die meisten Venezianer allergisch auf das Thema Kreuzfahrt.
"Sie sind schmutzig und bedrohen die Schönheit dieser Stadt" schimpft eine Frau, die gerade mit ihrer Unterschrift gegen die Kreuzfahrtschiffe in Venedig protestiert hat. "Nein zu den großen Schiffen" heißt die Initiative, die diese schwimmenden Städte aus der Stadt Venedig verbannen will. Francesca Bellia hat keine Mühe, ihre Mitbürger von der Idee zu überzeugen.
"Es gibt gute Reaktionen. Seit Jahresanfang machen wir - sagen wir – mehr symbolische Aktionen. Zum Beispiel ein Demonstrationszug auf dem Wasser mit über hundert Schiffen durch den Canale Grande, wir haben uns so direkt dem Riesenmonster auf dem Kanal gegenübergestellt. Immer mehr Menschen machen mit."
Mehr als 3000 Unterschriften sind innerhalb kürzester Zeit zusammengekommen. Auch dank Silvio Testa. Der Lokalreporter hat lange für die venezianische Tageszeitung "Gazzettino" gearbeitet, er kennt die Stadt wie seine Westentasche. Mit einem kleinen Buch über die Kreuzfahrtindustrie hat er die Initialzündung gegeben für den Widerstand der Venezianer gegen die großen Schiffe. Das war lange bevor ein gewisser Kapitän Schettino die Concordia vor Giglio auf einen Felsen setzte.
"Meiner Meinung nach ist so ein Unfall immer möglich. Entweder mit einem Kapitän Schettino oder es gibt auf den Schiffen, die hier vorbeifahren, einen Blackout und das Schiff bleibt im Becken von San Marco liegen. Und ich frage mich, wer so ein Schiffsunglück hier steuern kann."
In Venedig gibt es mehr Lungenkrebserkrankungen als in allen anderen italienischen Städten. Ob da ein Zusammenhang zur Schifffahrt besteht, diese Frage wurde noch nie wissenschaftlich geklärt. Für die Gegner der großen Schiffe liegt die Verbindung auf der Hand: Jedes einzelne Kreuzfahrtschiff verschmutze die Luft wie 14.000 Autos, sagen sie.
Man riecht es, man hört es, man sieht es. Ein Kreuzfahrtschiff durchquert auf seinem Weg ins offene Meer den großen Kanal, der Venedig von den vorgelagerten Inseln trennt. Die "Vaporetti", die Wasserbusse, die den Kurs des Schiffes queren, wirken winzig im Vergleich zu diesen schwimmenden Hochhäusern. Das Wahrzeichen der Stadt, der Markusdom, erscheint vor dem Hintergrund des Schiffes wie ein Spielzeughaus. Vermutlich sind es vor allem diese Proportionen, die die Venezianer erschrecken.
Michela Scibilia, meine Begleiterin durch die Kanäle Venedigs, will mich zu einem Mann bringen, der gegen die Veränderung kämpft. Schon von Berufs wegen. Giovanni Caniato, im Hauptberuf Archivar, engagiert sich in einem Verein zur Erhaltung der Schifffahrtstradition in Venedig.
Arzanà heißt dieser Verein, der in einer alten Werft historische Boote und Gondeln restauriert. Von außen sehen diese großen Bootsschuppen aus wie Almhütten, denn nicht nur das Holz, auch die Zimmerleute kamen früher aus den Dolomiten. Und innen schimpft Giovanni Caniato auf allzu viele Motorboote, die die Kanäle verstopfen und die Luft verpesten, und schwärmt von alten Gondeln, Ruderbooten und Barken.
"Diese alten Boote zu erhalten und sie wieder fahrbar zu machen, ist auch ein Weg zu zeigen, dass dieses Transportmittel in Venedig das beste ist. Den Dimensionen und dem Charakter dieser Stadt entspricht am ehesten das Ruderboot. Es ist langsam, aber man kommt überall hin. Es ist das richtige Verkehrsmittel, um diese Stadt zu würdigen."
Für Caniato ist klar: Je größer das Schiff, desto weniger passt es zu Venedig. Die Motorboote ruinieren mit ihren Turbinen die Fundamente der Häuser und die großen Kreuzfahrtschiffe verdrängen so viel Wasser, dass bei der Passage eines solchen Blechriesen der Pegel um 20 cm steigt bzw. sinkt.
Und einmal an Land, spucken diese Giganten Menschenmassen aus. Tausende, die natürlich Venedig auch zu Fuß erobern wollen. Oft in kurzer Zeit. Einmal zum Markusplatz mit seinen berühmten Kaffeehäusern und wieder zurück. "Mordi e fuggi” heißt das auf Italienisch. Ex und Hopp.
"Nur die Sehenswürdigkeiten abklappern, das Übliche. Und dann in den Park, der ist auch schön."
Am Beispiel Venedig lässt sich wunderbar darstellen, wie Wachstumsfantasien an ihre Grenzen geraten. An ihre physischen Grenzen. Wie viele Besucher verträgt eine Stadt, die nicht einmal mehr 60.000 Einwohner hat?
"Venedig hat jedes Jahr ungefähr 30 Millionen Besucher. Die Stadt ist wie ein "Disneyland", die Geschäfte sind nur noch auf die Touristen ausgerichtet, sie verkaufen Glaswaren und Masken, Handtaschen, die in Hongkong hergestellt werden, also alles Trash für den Tourismus - und das hat schwerwiegende Folgen für die Stadt."
Die Kreuzfahrten verändern das Bild dieser Stadt. Mit einem futuristischen "Peoplemover", einer führerlosen S-Bahn, werden die Kreuzfahrer vom Hafen in die Stadt und wieder zurück transportiert. Auch der Hafen hat sich komplett den Bedürfnissen dieser Form des Massentourismus angepasst. Riesige Parkflächen entstehen hier, und in den Gebäuden gibt es große Terminals, von denen aus die Kreuzfahrer in See stechen können.
Die "Magnifica" liegt zur Abfahrt bereit im Hafen – eine etwas ältere Schwester der "Divina", aber nicht minder groß und prächtig. Viele Stockwerke hoch, jede Kabine hat einen eigenen kleinen Balkon. Fast 4000 Passagiere kann dieses Kreuzfahrt-Schiff transportieren, schwärmt Massimo Bernardo, der die Führung, durch den Hafen organisiert hat.
"Sehen sie die Menschen auf dem Deck? Dort ganz oben! Die wissen, dass das Schiff jetzt an San Marco vorbeikommt, und sind da hochgestiegen, weil sie jetzt die Stadt zu sehen bekommen, etwas Wunderschönes, ein Eindruck, den man nicht wiederholen kann."
Weil die Schiffe so hoch sind, hat man vom Deck aus einen wunderbaren Überblick: San Marco, der Dogenpalast, der Lido. Wer eine Kreuzfahrt von oder nach Venedig bucht, dem liegt die Welt zu Füßen. Ein Plus, mit dem die Reiseanbieter werben können, und das die Stadt Venedig für sich gewinnbringend nutzen muss, sagt Massimo Bernardo. Die Aktivitäten der Kreuzfahrtgegner beobachtet er mit Sorge und hat ein Komitee ins Leben gerufen, das für die ungeliebten Schiffe die Lobbyarbeit macht.
"Der finanzielle Beitrag, den dieser Verkehr für die Stadt leistet, ist unverzichtbar. Weil Venedig eine Stadt ist, die vom Tourismus lebt. In diesem Moment schließen viele Fabriken und wir brauchen die Beschäftigung. Die Kreuzschifffahrt beschäftigt in Venedig 3000 Personen. 3000 Familien, die davon abhängig sind. Wenn wir dies nicht mehr hätten, gäbe es 3000 Familien ohne Arbeit."
Für die venezianischen Politiker ist das ein stichhaltiges Argument. Und so machen sie fast alles für die Kreuzfahrtindustrie.
Vor 100 Jahren schrieb Thomas Mann seine Novelle "Tod in Venedig", in der der alternde Dichter Gustav von Aschenbach in Venedig zuerst seine Würde und dann sein Leben verliert. Heute verdient der Abgesang eine neue Überschrift: der Tod von Venedig. Für ganz normale Bürger wie Michela Scibilia ist das Leben in dieser wunderbaren Stadt ein täglicher Überlebenskampf.
"Ich setze mich sehr für das Krankenhaus ein, natürlich zusammen mit vielen anderen. Wir haben 40 Vereine zusammengeführt, die alle das Krankenhaus von Venedig retten wollen, und etwas haben wir schon erreicht. Also, in Venedig zu leben ist wunderbar, doch fühlst du dich immer wie im Schützengraben. Man muss ständig für seine Rechte als Einwohner kämpfen."
Der Tod von Venedig lässt sich in Zahlen ausdrücken. In Einwohnerzahlen. Im Schaufenster seiner Apotheke auf dem Campo San Bartolomeo zeigt Andrea Morelli immer den aktuellen Stand an: 58.765.
"Diese Zahl sinkt um etwa sechs-, siebenhundert Einwohner pro Jahr", rechnet der Apotheker vor, der sein Schaufenster nicht mit Pharmawerbung, sondern mit demografischen Informationen zu Venedig bestückt. Einwohnerzahl 1961: 137.500. In einem halben Jahrhundert also hat sich Venedig mehr als halbiert.
"Das macht das Leben und Überleben natürlich schwieriger. Mit der Einwohnerzahl gehen auch viele Angebote zurück, die für das Leben wichtig sind. Es ist schwierig, eine ganz normale Bäckerei zu finden oder einen Laden mit Elektroartikeln. Während gleichzeitig die Zahl der Touristenläden stark zunimmt. Die verkaufen Karnevalsmasken und Glas, aber nicht solches aus Venedig."
Nur wenige Schritte von der Apotheke entfernt, könnte bald ein Gebäude entstehen, das den Bedürfnissen der Venezianer mehr entspricht als die zahlreichen Nippesläden mit Souvenirs Made in China. Der Investor Benetton will aus der ehemaligen deutschen Kaufmannsniederlassung in Venedig, dem "Fondaco dei Tedeschi", ein Kaufhaus machen. Der niederländische Architekt Rem Koolhaas ist für das Projekt verantwortlich. Er will das Gebäude entkernen und auf dem Dach eine Terrasse einrichten.
"Ein interessantes Gebäude. Das war kein Palazzo, sondern es war ein deutsches Kaufmannshaus und wurde als Lager und Handelsplatz genutzt."
Was Koolhaas damit sagen will: Wir machen aus dem Fondaco dei Tedeschi wieder das, was es einmal war: ein Haus des Handels. Fondaco kommt aus dem Arabischen "Funduk": Warenbörse. Und Tedeschi, das sind die Deutschen.
"Der Begriff der Deutschen war ein sehr weiter im Mittelalter. Alle, die von nördlich der Alpen kamen, waren Tedeschi. Die wurden dort untergebracht, mussten sich dort melden, da war auch der Zoll und dort durften sie Handel treiben."
Sabine Meine, die Leiterin des deutschen Studienzentrums in Venedig, kann viel über die Geschichte dieses Gebäudes im 16. und 17. Jahrhundert erzählen. Über die Import-Export-Geschäfte der deutschen Kaufleute.
"Dort hatten die Kaufleute namentlich aus Nürnberg, Ulm oder Frankfurt ihre großen Suiten und haben dorthin auch eingeladen. Die waren ganz prächtig ausgestattet. Und es gibt eben sehr viele Stockwerke. Und man kann sich gar nicht vorstellen, dass man das alles mit einem Kaufhaus füllen kann und dass auch das funktioniert. Auf jeden Fall ist es nichts, was die Venezianer brauchen."
Rem Koolhaas wirft den Umbaugegnern Dogmatismus vor und hält sich und seinen Auftraggebern zugute, dass sie wieder Leben in eine Stadt bringen, die zum Museum zu werden droht.
"Niemand von uns will doch ein Museum, das viel Geld kostet und sich zu all den anderen Museen gesellt. Es war früher ein Handelshaus und muss wieder ein Handelshaus werden. Aber wir sprechen hier von einem Baudenkmal. Entweder man erkennt das an oder man macht daraus ein Spekulationsobjekt."
Ortstermin mit dem Architekten Marco Zordan. Den besten Blick auf den Fondaco, sagt er, hat man von der anderen Seite des Canal Grande. Man muss nur über die Rialtobrücke gehen, dann sieht man dieses gewaltige Gebäude in seiner ganzen Pracht vor sich.
"Bevor der Kanal eine Kurve macht, kurz vor der Rialtobrücke – dieses gelbe Gebäude da drüben – das ist der Fondaco dei Tedeschi – der zu seiner Zeit komplett mit Fresken bemalt war."
Die Fresken an der Fassade fielen der Feuchtigkeit zum Opfer.
Doch noch immer ist der Eindruck, den das Gebäude macht, gewaltig. Allein die Größe: 10.000 Quadratmeter Fläche hat der Bau. Das Dachgeschoss wird noch von prächtigen Zinnen bekränzt. Doch Rem Koolhaas will aufstocken. Eine Panoramaterrasse soll auf das Dach, die Krönung eines Konsumtempels. Für den Architekten Marco Zordan ist das die "Anarchie des Kommerz":
"Wir schneiden also eine Schicht ab, um diese große Terrasse auf dem Canal Grande zu errichten. Für ein Einkaufszentrum ist es nämlich wichtig, etwas zu haben, was die Menschen bis zum letzten Stock hoch lockt. Als Magnet. Wenn da oben eine große Terrasse ist, kommen alle nach oben und durchqueren so alle Stockwerke."
Der Widerstand von Marco Zordan und vielen anderen Venezianern hat das Bauprojekt erst einmal massiv gebremst. Das Denkmalkomitee im italienischen Kulturministerium hat Widerspruch gegen die Koolhaas Pläne eingelegt. Vor allem die Rolltreppe und die Dachterrasse seien ein zu starker Eingriff in historische Strukturen. Wie definitiv dieser Bescheid ist, darüber wird noch gestritten.
"Du musst hier ständig streiten für deine Rechte als Bürger. Aber diese Stadt ist so außerordentlich, dass es sich natürlich lohnt."
"Alle Städte sind gleich, nur Venedig ist ein bissl anders", sagt Friedrich Torberg und Michela Scibilia will am Ende unserer Rundfahrt durch die Kanäle Venedigs nicht den Eindruck aufkommen lassen, als sei hier alles nur schlimm und furchtbar. Die Touristen, das Essen, der Kommerz. Nein, sagt sie, "Venedig ist und bleibt eine außerordentliche Stadt".
Allerdings nur, solange Menschen wie Michela hier leben.
"Ich bin zwar keine Venezianerin, wohne aber hier seit vielen Jahren. Vielleicht weiß ich deshalb das Glück, in dieser anderen Welt leben zu dürfen, besonders zu schätzen."