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Der Traum in der Renaissance

Was Träume eigentlich sind, darüber sind sich Hirnforscher und Neuropsychologen heute noch nicht ganz einig. Eine Ausstellung wagt den Blick in die Geschichte und thematisiert anhand von Gemälden, Zeichnungen und Kupferstichen die Traumdeutung von Künstlern zur Zeit der Renaissance.

Von Thomas Migge |
    Eine junge Frau lehnt an einem Baumstamm. Die Augen geöffnet, aber sie scheint zu träumen. Links von ihr lugt ein bocksbeiniger Faun hinter einem Baum hervor. Was ihm durch den Kopf gehen könnte, lässt sich unschwer erraten. In der Luft über der jungen Frau schwebt ein splitternackter Amor, allerdings ohne Pfeil und Bogen. Er streut kleine weiße Blüten aus, die auf die mit offenen Augen Träumende fallen. Das Gemälde von Lorenzo Lotto aus dem Jahr 1505 trägt den Titel „Der Traum des Mädchens oder Allegorie der Keuschheit“.

    Das heißt ja wohl nichts anderes, als dass das Mädchen, angesichts des lüsternen Fauns, unter Umständen auf dumme Gedanken kommen könnte. Amor will die junge Frau mithilfe verstreuter Blumen vor unkeuschen Gedanken bewahren. Das sieht auch Kunsthistoriker Alessandro Cecchi so. Er ist Direktor des Palazzo Pitti und Ko-Kurator der Traumausstellung in Florenz:

    „Es gibt viele verschiedene Träume, unterschiedlich voneinander, die während der Periode der Renaissance von Künstlern thematisiert wurden. Einige wiederholen sich und werden so zu künstlerischen Topoi, die immer wieder rezipiert werden. Auch erotische Topoi, die allerdings in der Regel, wie bei Lotto, immer in Richtung eines vernünftigen Umgangs mit Traumgedanken interpretiert werden.“

    Der Traum in der Renaissance: ein ehrgeiziges, weil weit ausgreifendes Ausstellungskonzept, denn thematisiert wird – anhand von Gemälden, Zeichnungen und Kupferstichen – etwas nur schwer Unfassbares, das sich rationalen Definitionen entzieht. Von der Traumdeutung Freuds sind wir rund 400 Jahre entfernt. Und doch gründete sich der Umgang der Künstler und Intellektuellen der Renaissance auf eine geistige Basis in Sachen Traumverständnis. Eine Basis, die natürlich in der griechischen und römischen Antike ihre Quellen hat.

    So ist zum Verständnis der Florentiner Ausstellung jene Sektion unerlässlich, die kostbare, weil sehr seltene, Renaissance-Neuausgaben antiker Autoren präsentiert, die sich mit dem Thema Traum beschäftigen. Der 370 vor Christus gestorbene Arzt Hippokrates bezeichnete, recht weitsichtig, Träume als etwas, das aus uns selbst herauskommt. Auch für den Philosophen Aristoteles waren Träume Produkte unserer selbst. Auch für ihn spielten hierbei göttliche Einflüsse keine Rolle.

    Eine Argumentation, die jene freigeistigen Renaissance-Intellektuellen faszinierte, die sich von theologischen Vorstellungen in Sachen Traum lösten.

    Alessandro Cecchi: „Das Thema des Traums, und da reicht eine ikonografische Analyse der vor der Revolution der Renaissance behandelten Sujets in der Kunst aus, war erst nach dem Mittelalter so richtig von Interesse. Im Mittelalter wurde in der Kunst nur der religiöse Traum behandelt, der seinen Ursprung in biblischen Themen hat. In der Renaissance kam der Bezug zu antiken und nun wieder modernen Ideen hinzu. Mittelalterliche Träume waren in der Regel nur Visionen von Heiligen.“

    Das gilt auch noch für viele Maler der Renaissance. Beispielsweise für die in der Ausstellung gezeigten rein religiös inspirierten Gemälde von Lavinia Fontana, Ludovico Cardi und Andrea Del Sarto. Hier wird der Schlaf als Moment religiöser Visionen dargestellt. Doch immer mehr setzt sich die Idee durch, dass Träume auch etwas Individuelles sein können, das nur von der Seele oder dem Denken einer Person generiert wird – ohne Mitwirkung von Gottvater oder seinem bösen Gegenspieler.

    Das wird vor allem dann deutlich, wenn es um Traum-Sujets geht, die, mehr oder weniger, erotisch angehaucht sind. Wie bei dem in der Ausstellung gezeigten Meisterwerk des Correggio von 1523: die vollkommen nackt ausgestreckte und schlafende Venus, eine Augenweide von Frau, neben der ein ebenfalls schlafender Amor ruht, wird von den lüsternen Augen eines Satyrs beobachtet.

    Der Traum des Individuums generierte in der Renaissance auch Monster – aber ganz losgelöst von neutestamentarischen Höllenvorstellungen. Die Monster in den in der Ausstellung zu sehenden Visionen eines Hieronymus Bosch, eines Jan Mandijn und anderer vor allem nordeuropäischer Maler sind horrende Fantasiegestalten, aus Menschen- und Tierkörpern zusammengesetzt. In ihren monströsen und Angst einflößenden Formen erinnern sie sicherlich noch an jene an der biblischen Apokalypse inspirierten Figuren, doch die Monster der Renaissance sind ganz individuelle Traumgeburten, die der Schlaf der Vernunft gebiert.