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Der Traum vom schönen Menschen

Es soll ehrgeizige Eltern geben, die mit der Erziehung ihrer Kinder schon während der Schwangerschaft beginnen wollen. Wie aber erreicht man die Kleinen und Kleinsten? Am besten, so heißt es, mit Musik. Mit klassischer Musik. Mit Mozart.

Von Wolfgang Ullrich | 09.04.2007
    Im Handel gibt es sogar schon mehrere CDs, die Musik für Schwangere und Ungeborene anbieten. Manche Wissenschaftler behaupten, damit lasse sich der IQ des Nachwuchses fördern, andere - so etwa der Neurobiologe Manfred Spitzer - werden noch konkreter und verbreiten die Ansicht, dass dadurch die Zentren im Gehirn, die für das Sprachverständnis zuständig sind, positiv formatiert würden. Könnte die werdende Mutter selbst ein paar Arien singen, hätte es sogar noch bessere Effekte, da sich die Schwingungen der Melodien dann intensiver auf den Fötus übertrügen. Wieder andere Wissenschaftler halten das alles jedoch für Unsinn. Sie warnen davor, dass man mit einer zu ausgiebigen Beschallung den Nachwuchs eher stören als fördern könnte. Oder sie lachen einfach darüber, was Menschen alles glauben und wie das von geschäftstüchtigen Zeitgenossen ausgenützt wird.

    Ähnliche Debatten gab es aber bereits vor Jahrhunderten; bis zurück in die Antike sind sie überliefert. Allerdings waren sie nur insofern ähnlich, als sie sich darum drehten, ob man wohl schon vor der Geburt Einfluss auf die Entwicklung des Kindes nehmen könnte. Sie waren hingegen ganz anders, als man früher keineswegs auf die Kraft der Musik setzte, sondern vielmehr auf die Macht der Bilder.

    Zwar gilt es als Merkmal der von Massenmedien geprägten Gegenwart, ein Zeitalter der Bilder zu sein, doch so sehr das quantitativ stimmen mag, so wenig trifft es doch zu, wenn es darum geht, was man Bildern zutraut. Tatsächlich räumte man Bildern früher nämlich sehr viel mehr Macht ein. Und vielleicht nirgendwo lässt sich das besser erkennen als bei Fragen von Zeugung und Schwangerschaft.

    Ein früher Beleg ist ein Roman aus dem 3. Jahrhundert nach Christus. Sein Autor ist Heliodor, sein Titel "Die Abenteuer der schönen Chariklea". Die Titelheldin ist eine äthiopische Königstochter, aber anders als ihre Eltern hat sie keine schwarze, sondern weiße Hautfarbe. Und ihre Mutter erklärt das folgendermaßen: Während sie ihren Gatten umarmt habe, seien ihre Augen auf eine strahlende Marmorstatue geheftet gewesen. Deren Bild - und weiße Farbe - müsse sich ihr so stark eingeprägt haben, dass das auf die im selben Moment gezeugte Tochter abgefärbt habe.

    Das mag ein netter Romanstoff sein, wird man nun einwenden, sagt aber noch nichts darüber aus, welchen Stellenwert Bilder - und optische Wahrnehmungen insgesamt - in vergangenen Zeiten gehabt hätten. Und selbst wenn viele Menschen eine solche Geschichte für möglich gehalten haben sollten: Ist das ein hinreichender Grund, einem alten Aberglauben eigens Beachtung zu schenken?

    Allerdings sind es nicht nur Romane und Legenden, in denen davon berichtet wird, dass Aussehen und sogar Charakter eines Kindes durch Bilder bestimmt wurden, die die Mutter zu Gesicht bekam. Die US-amerikanische Religionswissenschaftlerin Wendy Doniger versammelte vielmehr ungefähr sechzig Varianten der Beschreibung dieses Phänomens. Von Aristoteles bis Voltaire, von Plinius bis Goethe reichen ihre Belege. Darf man das Thema dann als bloßen Aberglauben, als anekdotisches Beiwerk abtun? Sollte man es nicht lieber ernst nehmen und zu klären versuchen, wieso es offenbar nicht nur möglich, sondern über Jahrhunderte hinweg weit verbreitet war, Bildern eine so erstaunliche Macht zu unterstellen?

    Natürlich ist nicht zu leugnen, dass es wenig andere Sujets geben dürfte, die sich so gut in hübsche, oft auch etwas anrüchige oder komische Geschichtchen verpacken lassen. Zum Beispiel in folgende, die der Kirchenvater Augustinus berichtet. So sei Dionysios, der Tyrann von Syrakus, ziemlich hässlich gewesen. Und aller Selbstherrlichkeit zum Trotz war ihm das offenbar auch schmerzlich bewusst. Daher machte er sich Sorgen, seine Söhne könnten ebenfalls alles andere als attraktiv werden. Was also tat er? Er gab bei einem Maler ein besonders schönes Bild in Auftrag, das er von nun an seiner Frau vor die Augen hielt, wenn er ihr beiwohnte. Damit sollte sich die Schönheit des Bildes und nicht die Hässlichkeit seines Körpers auf die gezeugten Kinder übertragen.

    Es existierte aber auch regelrecht eine Ratgeberliteratur, in der Paaren Tips gegeben wurde, wie es anzustellen sei, damit der Nachwuchs möglichst makellos würde. Eines der schönsten und ergiebigsten Beispiele dafür stammt aus Frankreich, aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Damals verfasste der Arzt und Poet Claude Quillet ein lateinisches Lehrgedicht, das in mehreren Auflagen und dann auch in einer englischen Übersetzung publiziert wurde. Sein Thema nennt dieses Lehrgedicht schon im Titel. Es heißt "Callipaedia" - und das meint ganz wörtlich die Erziehung zur Schönheit.

    Ein Teilbereich der Kallipädie - dies auch ein sonst weit verbreiteter Begriff - ist bis heute bekannt, nämlich die Orthopädie, die sich eigentlich der Erziehung zur richtigen Form und Haltung des Körpers widmet. Die Kallipädie hingegen meinte mehr. In dieser Wissenschaft kümmerte man sich darum, dass Kinder nicht nur gerade wachsen, sondern auch edel und vornehm aussehen und einen guten Charakter entwickeln. Hier ging es um den Traum vom schönen Menschen. Vor allem im Adel, der so viel auf seine Traditionen hielt, war die Kallipädie ein zentrales Thema. Immerhin musste gewährleistet sein, dass die Familie ihren Rang erhielt oder sogar zu noch mehr Exzellenz aufstieg. So wenig wie möglich durfte daher dem Zufall überlassen bleiben.

    Als Leser von Claude Quillets "Callipaedia" muss man sich also junge Adelige vorstellen, die alles über die richtige Partnerwahl oder die Bestimmung des passenden Zeitpunkts für die Zeugung wissen wollten. Diese Fragen behandelt Quillet ausführlich, sein Lehrgedicht umfasst insgesamt vier Bücher. Auffällig ist, wie viel Raum darin Lehren der Astrologie einnehmen, die damals noch selbstverständlich als seriöse Wissenschaft galt. Aber Quillet wird auch sehr konkret, nennt etwa die zur Befruchtung günstigen Stellungen und geht ausführlich auf weitere Regeln ein, die während und nach der Zeugung zu beachten sind.

    Dabei betont er besonders eindringlich, wie wichtig es sei, dass die Frau - wohlgemerkt nur die Frau! - im Moment der körperlichen Vereinigung sowie während der Schwangerschaft schöne Dinge anschaut. Am schönsten aber seien nicht die Werke der Natur, sondern die der Kunst. Daher müssten im Schlafzimmer Gemälde oder Skulpturen aufgestellt werden. Nur so ließen sich Missbildungen und unliebsame Überraschungen beim Nachwuchs verhindern.

    Wer einen stolzen Knaben gebären will, sollte, so Quillet, etwa eine Darstellung des Apoll vor Augen haben. Er dachte dabei vermutlich nicht an einen beliebigen Apoll, sondern an den berühmten aus dem Belvedere, lebte er doch zu der Zeit, als er sein Lehrgedicht verfasste, in Rom. Dort sah er auch ein anderes Meisterwerk antiker Bildhauerkunst, nämlich die später als Ildefonso-Gruppe bezeichnete und heute im Prado aufbewahrte Darstellung von zwei Jünglingen, in denen Quillet und seine Zeitgenossen Alexis und Corydon erkennen wollten. Letzterer, ein Schafhirte, verliebte sich, so berichtet es Vergil, unglücklich in Alexis. Corydons Schönheit war also so einnehmend, dass sie sogar über die Grenzen des weiblichen Geschlechts hinaus wirkte - dies ein Schicksal, das Quillet offenbar für erstrebenswert hielt, da er angehenden Müttern in seinem Lehrgedicht ausdrücklich auch die Betrachtung dieser Gruppe empfahl.

    Ist es nicht eine delikate Vorstellung, dass eine Frau sich nicht etwa ihrem Gatten hingeben, sondern während des Beischlafs so konzentriert wie möglich auf männliche Skulpturen - und dann gleich noch auf zwei! - blicken sollte? Vielleicht wurden diese zur Steigerung des Illusionismus zudem mit Fackeln beleuchtet und verlebendigt. So etwas war zumindest in früheren Jahrhunderten nicht unüblich. Aber man darf eben nicht vergessen: Es ging hier nicht um die Erfüllung einer romantischen Liebe, sondern darum, das Beste für die Familie herauszuholen! Und da war offenbar beinahe jedes Mittel recht.

    Wie speziell sich die Ratschläge Quillets an Adelige mit großem genealogischen Ehrgeiz richteten, wird allein daraus ersichtlich, dass es nur ihnen ökonomisch möglich war und vom Aufwand her gerechtfertigt erscheinen konnte, sich mit Statuen und Gemälden - oft freilich auch nur mit Kopien berühmter Werke - zu umgeben. Quillet scheint aber auch dem Umstand Rechnung getragen zu haben, dass Söhne im allgemeinen mehr galten als Töchter. Zur Zeugung von Mädchen empfahl er nämlich keine Skulpturen als Vorbilder, sondern schlug lediglich etliche Gemälde vor, denen sich die Mütter - so lässt sich mutmaßen - weniger leidenschaftlich zuwandten als einem lebensgroßen Apoll.

    Aber immerhin stammen die Bilder, deren Einsatz Quillet namentlich vorschlug, von niemand geringerem als Tizian. Eines davon ist sogar die berühmte "Venus von Urbino" aus dem Jahr 1538, die heute in den Uffizien in Florenz hängt. Und es spricht viel dafür, dass dieses Bild tatsächlich mit der Absicht in Auftrag gegeben und gemalt wurde, besonders gelungenen Nachwuchs zu ermöglichen. So ist überliefert, dass das Venus-Gemälde bei seinem Auftraggeber, dem Herzog Guidobaldo della Rovere, in der "guardaroba" untergebracht war.

    Das war zwar nicht das Schlafgemach, aber die Kleider- und Schatzkammer, die im allgemeinen zu den privaten Räumen gehörte, im 16. Jahrhundert jedoch gelegentlich ebenso eine repräsentative Funktion besaß. In einer 'guardaroba' wurden einzelne Stücke gelagert oder Gästen gezeigt. Bei Guidobaldo in der 'guardaroba' befand sich aber nicht nur Tizians "Venus"; vielmehr versammelte der Fürst dort eine seltsam anmutende Mischung von Gemälden, nämlich neben mehreren Frauenakten Bild-nisse von Herrschern wie Karl V. oder Franz I.

    Gerade diese schwer erklärliche Zusammenstellung aber ist ein Hinweis darauf, dass die Gemälde am herzoglichen Hof gleichsam als Instrumentarium genutzt wurden, um gemeinsam für eine optimale Formatierung des Nachwuchses zu sorgen. Angehenden Müttern empfahl man neben Bildern musterhaft schöner Menschen nämlich immer wieder Darstellungen würdiger und hochgestellter Persönlichkeiten.

    So sprach Leon Battista Alberti rund achtzig Jahre vor Tizians Gemälde für Guidobaldo davon, Eheleute müssten sich unter Bildern hochadeliger oder aber besonders wohlgestalteter Menschen vereinigen; und Tommaso Campanella ordnete am Anfang des 17. Jahrhunderts für seinen "Sonnenstaat" an, dass die Frauen vor dem Verkehr Bildwerke berühmter Männer anschauen sollten.

    Interessant ist aber auch der Zeitpunkt, zu dem Tizian die "Venus" malte. Er lieferte das Bild, vier Jahre nachdem Guidobaldo ein damals erst zehnjähriges Mädchen heiratete. Also könnte das Gemälde genau zu dem Zeitpunkt bestellt worden sein, als die junge Herzogin geschlechtsreif wurde und das Paar daran ging, sich um den Fortbestand der Dynastie zu kümmern.

    Stellt man sich Tizians Bild über dem Ehebett vor, dann musste sich das Paar von der "Venus" und ihrem eindringlichen Blick beobachtet fühlen. Dieser Blick fordert dazu auf, sie anzuschauen und in das Liebesspiel einzubeziehen. Doch ist es nicht der fordernd-laszive Blick einer Kurtisane, wie öfters etwas schwül gemutmaßt wurde, den Tizian hier malte, sondern es ging ihm um die Ermahnung des Paares, sich der Tragweite des Moments bewusst zu sein, in dem ein Nachkomme gezeugt wird.

    Das schöne Vorbild machte sich dazu so präsent wie möglich. Tizians Bild besitzt also einen geradezu beschwörenden Charakter: Wie Motivationstrainer heute dazu auffordern, sich die eigenen Ziele bildlich auszumalen - also etwa die Latte beim Hochsprung in der Phantasie immer wieder zu überwinden -, so half Tizian dem Guidobaldo und seiner Frau, sich im Schlafzimmer auf das Wesentliche zu konzentrieren und die für den Nachwuchs ersehnte Gestalt bereits lebhaft zu imaginieren.

    Man ahnt, welche Macht bildende Künstler damit besaßen. Ihren Schöpfungen traute man zu, das Aussehen, sogar den Charakter zumindest der Adeligen zu formatieren. Glaubt man Claude Quillet und anderen Autoren, dann waren die Bilder für die Konstitution des Nachwuchses sogar ähnlich wichtig wie der männliche Same. Beinhaltete dieser die Lebenskraft, so waren die Bilder verantwortlich für deren Ausgestaltung. Quillet verwendet entsprechend eindeutige Verben, wenn er die formgebende Kraft der Bilder erwähnt. Von 'signare' ist die Rede, was 'prägen' und 'kerben' bedeutet, aber auch von 'inurare', was noch stärker ein Einprägen, sogar ein Einbrennen der Gestalt in den Samen meint.

    Der Prägevorgang wird um so dramatischer beschrieben, wenn es um den schädlichen Einfluss hässlicher Bilder geht. Vor ihnen zu warnen, nimmt in Quillets Lehrgedicht - und ebenso in vielen anderen Kommentaren zum Thema - mindestens so viel Raum ein wie die Empfehlung eines Apoll oder einer Venus. Frauen mussten demnach immer Sorge tragen, keine unangenehmen visuellen Erlebnisse zu haben, da sich sonst sofort negative Prägekräfte auf sie und ihre Leibesfrucht übertragen konnten. So nützlich Bilder zur Optimierung des Nachwuchses eingeschätzt wurden, so gefährlich waren sie doch zugleich. Diese Angst vor einem schlechten Bild ist am ehesten mit den Befürchtungen zu vergleichen, die heute eine ansteckende Krankheit oder Handy-Strahlen bei vielen auslösen.

    Gerade der Vergleich mit Handy-Strahlen ist sogar ziemlich treffend. Auch in ihrem Fall ist ja durchaus umstritten, ob sie schädlich sind - oder ob es nur ein Aberglaube ist, ihnen eine Gefährlichkeit zu unterstellen. Diejenigen, die den Strahlen misstrauen und Angst vor Elektrosmog haben, unterstellen jedoch, dass elektromagnetische Felder zu Störungen in den Zellen führen können. Missbildungen oder auch Krebserkrankungen scheinen dann nicht ausgeschlossen.

    Ganz ähnlich aber argumentierte früher, wer an die Macht der Bilder glaubte. Dem aber lag ein Verständnis visueller Wahrnehmung zugrunde, das über Jahrhunderte, wenn nicht sogar über Jahrtausende weit verbreitet war. Auch Claude Quillet geht ausführlich darauf ein, ja sein Lehrgedicht unterscheidet sich gerade darin von vielen anderen bildeugenischen Äußerungen, dass er die formatierende Macht der Bilder ausdrücklich aus naturwissenschaftlichen und philosophischen Theoremen herleitet und sich nicht mit der Ausschmückung schöner Legenden begnügt.

    Namentlich beruft Quillet sich auf den Philosophen und Naturforscher Pierre Gassendi, mit dem er befreundet war und dessen Lehre auf dem Atomismus Demokrits und Epikurs aufbaute. Dazu gehörte wesentlich die Überzeugung, dass man nur deshalb etwas sehen kann, weil sich von den sichtbaren Gegenständen fortwährend Atome in Form dünner Bildplättchen ablösen, die, mit kleinen Flügeln versehen, durch die Luft schwirren und schließlich auf den Augen des Wahrnehmenden landen, um durch sie hindurch in dessen Seele gelangen. Damit wirkte das Sichtbare physisch-direkt auf den Wahrnehmenden ein. Etwas zu sehen hieß also, davon penetriert zu werden, ja in einen unmittelbaren Stoffwechsel damit zu treten.

    Damit ist auch leichter nachzuvollziehen, wieso Quillet darauf verfallen konnte, die Bedeutung von Same und Bild auf dieselbe Stufe zu stellen. Beides dringt gleichermaßen in die empfängnisbereite Frau ein und vereinigt sich in ihr, um sich dann, eingenistet in der Gebärmutter, gemeinsam zum Fötus zu entwickeln. Der Zeugungsakt war somit ein doppelter, Same und Bild vollbrachten nur zusammen ihr Werk. Quillet beschreibt die Penetration der Bildplättchen in seinem Lehrgedicht daher auch ausdrücklich als erotisches Ereignis: Sie würden die Augen erregen und die Sinne kitzeln.

    Wie eine Illustration dieser Vorstellungen erscheint ein zweites Tizian-Gemälde, das Quillet in seinem Lehrgedicht preist - und das Danae, eine junge Königstochter, zeigt. Dem Mythos zufolge verwandelte Zeus sich in einen Goldregen, um Danae, die, für jeden Mann unzugänglich, eingesperrt und bewacht war, schwängern zu können. Sein Samen prasselt also wie ein Schauer auf die Königstochter herab.

    Bei Tizian aber ist nicht nur zu sehen, wie Danae vor dem sich zerstäubenden Zeus ihre Beine leicht spreizt. Vielmehr setzt er ganz offenkundig die doppelte Empfänglichkeit der Frau in Szene. So richtet Danae ebenso ihre Augen hingebungsvoll dem Regen entgegen. Neben dem Samen empfängt sie also die Bildatome des Zeus. Dessen Gesicht ist auf Tizians Gemälde, am oberen Bildrand, ganz klar der Ausgangspunkt des Regens. So spendet der Göttervater nicht nur seine Lebenskraft, sondern zugleich seine Gestalt, ist also in doppeltem Sinn Vater des Perseus, den er gerade zeugt.

    Zumindest Claude Quillet und seine Zeitgenossen, die Atomisten um Gassendi, mussten das Gemälde so interpretieren. Aus ihrer Sicht stellte Tizian den Zeugungsakt genau als das dar, was er für sie war. Salopp gesprochen: eine zwiefache Tröpfcheninfektion. Es waren also nicht die Erbanlagen von Mann und Frau, die sich im Moment der Zeugung vereinigten, sondern Bild und Same. Der Frau kam lediglich die Rolle eines passiven Gefäßes zu, in dem die von außen kommenden Kräfte zu einem neuen Wesen heranwuchsen.

    Wie man Frauen über ihre Empfänglichkeit definierte, so sprach man ihnen auch eine stärkere Einbildungskraft als Männern zu. Tatsächlich galt die Einbildungskraft lange Zeit ebenfalls als etwas Passives, nämlich als die Fähigkeit, etwas aufzunehmen und in sich einzubilden. Wer Einbildungskraft besaß, auf den hatten Bilder also stärker gewirkt als auf andere. Erst im 18. Jahrhundert wurde die Einbildungskraft aktiver verstanden. Damit aber kam es auch zu neuen Komplikationen. Nun war es nicht mehr nur wichtig, dass eine Frau im Moment der Zeugung oder während der Schwangerschaft nichts Unangenehmes sieht, sondern riskant waren ebenso ihre inneren Bilder. Wenn sie etwa an einen heimlichen Geliebten dachte, während ihr Mann ihr beiwohnte, dann bestand die Gefahr, dass das Kind dem Geliebten ähnlich sah.

    Goethe schildert in den "Wahlverwandtschaften" einen ähnlichen Fall. Wenn sich die Eheleute Charlotte und Eduard eines Abends treffen und intim miteinander werden, dann haben sie eigentlich nur ihre jeweiligen Affären im Sinn. Bewusst löscht der Ehemann daher zuerst das Kerzen-licht. So kann er sich ausmalen, eigentlich mit Ottilie, seinem Schwarm, zusammen zu sein, während Charlotte sich vorstellt, in den Armen des Hauptmanns zu liegen, in den sie sich verliebt hat. Die Folgen dieses doppelten Seitensprungs sind aber eindeutig. So sieht das Kind nach der Geburt weder Charlotte noch Eduard ähnlich, sondern trägt klar die Züge von Ottilie und dem Hauptmann.

    Interessanterweise spielt hier erstmals auch eine Rolle, was der Mann während des Zeugungsakts macht. In dem Moment, in dem die Einbildungskraft als aktives Vermögen gedacht wird, liegt also nicht mehr nur bei der Frau und ihrer Wahrnehmung die Verantwortlichkeit für das Werden des Nachwuchses. Allerdings wandelten sich zur Zeit Goethes die Wahrnehmungstheorien, und schon bald glaubte niemand mehr so recht daran, dass das, was man sieht, wie eine Nahrung in den eigenen Körper aufgenommen wird, oder dass innere Bilder Prägekraft besitzen. Obwohl die heutige Physik optische Reize genauso als Wellen interpretiert wie akustische Phänomene, werden Bilder und die visuelle Wahrnehmung insgesamt nicht mehr für stark genug gehalten, um direkt auf körperliche Prozesse einwirken zu können. Entsprechend ist man auch davon abgekommen, Bildern, seien es äußere oder innere, noch eine relevante Bedeutung für den Nachwuchs zuzusprechen.
    Das Beispiel aus den "Wahlverwandtschaften" lässt aber auch ahnen, wie folgenreich der Glaube an die Macht der Bilder für das Sozialleben war. So spielte er eine große Rolle für Männer, die sich nicht sicher waren, ob ein Kind wirklich von ihnen stammte. Sah es dem Ehegatten überhaupt nicht ähnlich, dann konnte die Frau dessen Misstrauen immerhin damit besänftigen, dass sie auf den prägenden Eindruck eines Gemäldes oder einer Skulptur verwies. Mancher Seitensprung ließ sich auf diese Weise vermutlich verbergen oder zumindest bagatellisieren: Vielleicht hatte sie ja an einen anderen gedacht, musste aber nicht gleich fremdgegangen sein.

    Allerdings schuf dieselbe Argumentation auch Raum für neues Misstrauen. So konnte sich der Mann nicht einmal dann seiner Vaterschaft sicher sein, wenn das Kind ihm wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein schien. Immerhin wäre ja denkbar, dass die listige Gattin auf ein Bild starrte, das ihn zeigte, während sie sich aber gerade mit einem Nebenbuhler vergnügte. Oder sie hatte zwar an ihren Mann gedacht, das Bett jedoch mit einem anderen geteilt.

    Für die Frauen hatte der Glaube an die Macht der Bilder aber noch andere Nachteile. So wie sie heute diätpflichtig sind, um vorgegebene Körperideale zu erfüllen, so mussten sie ehedem gut aufpassen, welchen äußeren Eindrücken sie sich überhaupt aussetzten.

    Da viele Theorien auch nicht nur den Moment der Zeugung, sondern die gesamte Zeit der Schwangerschaft als einbildungskraftsensible Phase ansahen, war um so mehr Vorsicht und Zurückhaltung geboten. Ins Freie zu gehen, um sich einer bunten, aber oft auch chaotischen und von Bizarrerien vollen Welt auszusetzen, erschien für eine werdende Mutter viel zu riskant. Man hatte also einen bequemen Grund, Frauen, zumal wenn sie schwanger waren, möglichst im Haus zu halten. Dort konnten und sollten sie sich genau ausgewählten und wohldosierten Sinnesreizen widmen, standen jedoch weitgehend unter fremder Kontrolle.

    Macht man sich klar, welchen Formatierungsehrgeiz es zu Zeiten gab, als die Ehre der Familie viel zählte, relativieren sich auch heutige Debatten zu Genmanipulation, zumal die Kallipädie noch viel mehr als Vorschriften zur Verwendung von Bildern umfasste. Sich danach zu richten, galt dabei keineswegs als anstößig oder als Hybris. Vielmehr musste eher mit Missbilligung rechnen, wer sich nicht gewissenhaft um das Design seines Nachwuchses kümmerte.

    So wirft etwa Johann Joachim Winckelmann, der Vater des Klassizismus, seinen Zeitgenossen im 18. Jahrhundert vor, sie würden sich viel weniger als ehedem die Griechen darum bemühen, schöne Kinder zu zeugen. Weil aber die Menschen nicht mehr so wohl gebildet wie in der Antike seien, hätten auch die Künstler nur mangelhafte Modelle für ihre Skulpturen und Gemälde.

    Damit schließt sich ein Teufelskreis, denn wenn den Kunstwerken vollendete Schönheit abgeht, dann stehen den jungen Paaren auch keine optimalen Vorbilder zur Verfügung. Eine weitere Degeneration scheint vorgezeichnet. Selbst Claude Quillet nimmt Winckelmann nicht von seinen Vorwürfen aus, habe der doch in seiner "Callipaedia" schon viele der Techniken nicht mehr erwähnt, die in der Antike eine Rolle gespielt und letztlich zur makellos-vorbildlichen Klasse der Griechen beigetragen hätten.

    Winckelmann enthält diese Techniken seinen Lesern jedoch ebenfalls vor. Klar scheint nur, dass er dem Apoll von Belvedere noch dieselben Formatierungsdienste übertragen hätte wie Quillet. Erst recht hätte es ihn keine Überwindung gekostet, darüber nachzudenken, wie viele der schönsten Werke der Kunstgeschichte wohl mit eugenischen Ambitionen eingesetzt oder gar geschaffen wurden.

    Die Aufregung, die heute angesichts der Perspektiven der Gentechnik herrscht, wäre den Kallipäden früherer Epochen also ziemlich absurd erschienen. Sie hätten ohne Skrupel, ja sogar mit Begeisterung jedes Mittel genutzt, das ihnen eine bessere Steuerung der Eigenschaften ihres Nachwuchses versprochen hätte. Erst die Individuen der Moderne, die weniger in familiären Zusammenhängen denn als Monaden und ohne großen Zeithorizont leben, haben diesen Ehrgeiz verloren. Auch sie wollen zwar schöne und gesunde Kinder haben, aber ihre gesellschaftliche Stellung hängt nicht von ihrem Nachwuchs ab. Sie definieren sich nicht mehr genealogisch; ihre Identität entspringt anderem als einer Generationenfolge.

    Gewiss verfolgte auch früher nur eine gesellschaftliche Minderheit, nämlich der Adel genealogische Interessen. Die meisten Menschen waren hingegen zu arm, um überhaupt die Chance zu haben, ein Generationsbewusstsein und damit auch kallipädischen Ehrgeiz zu entwickeln. Heute jedoch empfindet man es unabhängig von der sozialen Schicht als moralische Frage, ob und wie weit man in die Entwicklung eines Embryos eingreifen darf. Würde man Bildern noch so viel Macht zutrauen wie ehedem, dann gäbe es für ihre Betrachtung mittlerweile gewiss strenge Regeln, vielleicht sogar Ethik-Komissionen; sie würden eher von Ärzten als von Kunsthistorikern verwaltet und gar wie Medikamente verschrieben. Unter den Bedingungen moderner Reproduktionsmedien wäre es andererseits ein leichtes, jedermann und jederfrau einen Tizian zu verordnen, der dann als Poster über dem Bett hinge. Aber ob dann Picasso nicht als gefährlich angesehen würde?

    In der Moderne haben Bilder jedoch offenkundig an Stellenwert verloren. Niemand traut ihnen noch so viel zu wie ehedem, was aber nicht Zeichen eines an sich aufgeklärteren Bewusstseins ist, sondern ausschließlich Folge geänderter Vorstellungen von Wahrnehmung. Das Visuelle ist mittlerweile sogar in gewisser Weise der schwächste Sinn, scheint er doch der einzige zu sein, dem man keine direkte körperliche Einwirkung zutraut. Ein Blick auf die Angebote der Wellnessindustrie und Esoterik macht schnell klar: Während man Klängen, Massagen und Aromen starke Wirkungen unterstellt, tauchen Bilder dort fast nicht auf. Wären atomistische Theorien visueller Wahrnehmung noch so populär wie über Jahrhunderte hinweg, wäre das gesamte Terrain zwischen Sinnsuche und Selbstfindung hingegen voll mit Bildern.

    Starke Bilder kennt man heute vor allem als Schockbilder. Als Bilder, die Gefühle verletzen können. Doch müssen sie dazu erst einmal intellektuell erfasst werden. Nur wer begreift, was er sieht, kann davon auch, ähnlich wie von einem Text, betroffen werden. Das aber ist etwas ganz anderes als eine physische Konfrontation, die man Bildern früher nachsagte. Auch die heutzutage beliebten Vorwürfe, Bilder würden manipulieren oder Illusionen befördern, setzen schon voraus, dass man das Gesehene erkennt und im Kopf verarbeitet. Das bedeutet nicht, dass Bilder deshalb harmlos sind und man sie sich ohne weiteres auf Distanz halten kann - aber doch ist ihre Macht nicht so unmittelbar und unausweichlich, wie in früheren Zeiten vermutet wurde.

    Wie anders die alten Theorien des Sehens waren, lässt sich nochmals an einem Beispiel veranschaulichen, bei dem es ausnahmsweise nicht um Zeugung und Schwangerschaft geht. So gibt es in etlichen alten Traktaten Berichte, wonach eine Medizin bereits wirksam wurde, wenn der Patient sie nur zu Gesicht bekam. Offenbar bedeutete es keinen wesentlichen Unterschied, ob der Kranke die Flüssigkeit über den Mund oder aber ein paar Bildplättchen davon über die Augen zu sich nahm: In beiden Fällen kam es zu einem direkten Eingriff in den Stoffwechsel.

    Dass ein solch fester Glaube an die Bildermacht mittlerweile geschwunden ist, hat das Leben von Schwangeren allerdings nicht unbedingt unkomplizierter gemacht. Mittlerweile kontrolliert bekanntlich die Medizin jedes Stadium embryonalen Wachstums. Allenthalben kursieren Ratschläge und Tipps, nur dass angehende Mütter nicht mehr vor hässlichen Bildern, sondern eher vor Sushis und Zigarettenrauch Angst haben.

    Und die Rolle Tizians nimmt mittlerweile Mozart ein. Denn, wie schon erwähnt, heute glaubt man eher an die 'good vibrations' klassischer Musik als an Bildplättchen, die sich von Gemälden lösen. Viel hat sich also doch nicht geändert, oder?