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Der überlebende Jesus?
„Kein Tod auf Golgatha“

Johannes Fried ist Historiker. Er sagt: Es gab zwar eine Kreuzigung Jesu, aber keinen Toten. Jesus habe das Kreuz überlebt und weiter gepredigt. „Ich entschuldige mich, wenn ich mit meinen Überlegungen religiöse Gefühle verletze“, sagte Johannes Fried im Dlf.

Johannes Fried im Gespräch mit Andreas Main |
Ein Kruzifix in Oberschwaben
Die Verletzungen Jesu seien nicht so gravierend gewesen, dass er bei der Kreuzigung gestorben wäre, so die These des Historikers Johannes Fried (M. C. Hurek / dpa / picture alliance)
Andreas Main: Schon in den Evangelien wird der Verdacht zurückgewiesen, Jesu Leichnam sei von den Jüngern geklaut worden. Denn wo kein Toter, da keine Auferstehung. Aber was wäre, wenn es überhaupt keinen Leichnam gegeben hat, also Jesus nicht gestorben ist? Auch die Scheintod-These ist in den vergangenen 2000 Jahren immer mal wieder vertreten worden. Jetzt erneut von Johannes Fried. Sein Buch hat den Titel "Kein Tod auf Golgatha. Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus". Auf schlanken 190 Seiten spielt er den Gedanken durch, dass Jesus zwar gekreuzigt wurde, danach aber weiter als Bußprediger unterwegs war. Nun ist Johannes Fried weder Experte fürs antike Christentum noch Theologe. Er ist Historiker. Er zählt zu den international renommiertesten Mediävisten der vergangenen Jahrzehnte. Ihm ist es gelungen, das Mittelalter einem breiten Publikum zu vermitteln. In den vergangenen Jahren hat sich Fried verstärkt auch Religionsthemen zugewandt. Er war Professor in Köln und Frankfurt am Main. Das Gespräch mit ihm haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet. Schön, dass Sie ins Studio nach Mannheim gekommen sind. Guten Morgen, Herr Fried.
Johannes Fried: Guten Morgen, Herr Main.
Main: Herr Fried, Sie sind Sohn eines Pfarrers. Was hätte der zu diesem Buch gesagt – ihr Vater?
Fried: Er wäre traurig.
Main: Was hätte ihn traurig gemacht?
Fried: Ja, meine ganze These! Denn er hat selbstverständlich sowohl den Tod als auch die Auferstehung als Realität akzeptiert.
Main: Wie hätte er mit Ihnen debattiert?
Fried: Oh, das weiß ich nicht so genau. Denn in seinen letzten Lebensjahren war er moderater, liberaler auch - und vielleicht hätte er mich akzeptiert. Das kann sein. Aber die These hätte er grundsätzlich nicht verstanden und nicht akzeptiert. Das Medizinische hat er immer nicht so ernstgenommen, schon gar nicht, wenn es in die Religiosität ging.
"Ich entschuldige mich, wenn ich religiöse Gefühle verletze"
Main: Christentum ohne Kreuzigung und Auferstehung – das geht fast gar nicht. Sehen Sie die Gefahr, dass Sie Glaubensgefühle verletzten – auch unserer Hörerinnen und Hörer?
Fried: Ja, die Gefahr sehe ich. Dafür entschuldige ich mich auch. Gerade unlängst habe ich einen Vortrag dazu gehalten und ihn mit einer Entschuldigung begonnen. Allerdings nicht nur gegenüber Christen, sondern auch Muslime werden betroffen sein, wenn sie den zweiten Teil meines Buches lesen.
"Diese Frage hat mich dann nicht mehr losgelassen"
Main: Da werden wir drauf kommen. Für Ihre Thesen zur Kreuzigung haben Sie in den vergangenen Wochen und Monaten auch viel Gegenwind bekommen. Warum tun Sie sich das an, sich im Ruhestand, Jahrgang 1942, mit einem so heißen Eisen zu beschäftigen?
Fried: Tja, da weiß ich nicht. Sie haben völlig Recht. Warum tue ich mir das an? Ich habe es mir angetan, weil es mich fasziniert hat. Seit langem bin ich an der Spätantike und dem frühen Christentum interessiert. Aber jetzt kam ein zweiter Impuls dazu: Ein befreundeter Biologe hat mir den Aufsatz in die Hand gedrückt von Medizinern über die Frage, ob Jesus am Kreuz gestorben ist. Und diese Frage hat mich dann nicht mehr losgelassen.
Der Historiker Johannes Fried, aufgenommen am 10.1.0.2013 auf der Frankfurter Buchmesse
Der Historiker Johannes Fried (picture-alliance / dpa / Arno Burgi)
Main: Es ist ja so, dass Sie auf gar keinen Fall fordern, dass man Ihnen glaubt, oder dass man Ihnen folgt. Es ist einfach eine These, eine Hypothese. Und ich habe Ihr Buch als ausgesprochen anregend und spannend erlebt. Sagen Sie einmal selbstkritisch vorab: Wo liegen die Grenzen Ihres Ansatzes?
Fried: Also, ich muss unterscheiden. Das Hypothetische bezieht sich auf den zweiten Teil des Buches, wo ich nach dem Verlassen des Grabes frage: Wo könnte Jesus hingegangen sein? Das ist reine Hypothese.
Das davor halte ich für zutreffend, nicht für hypothetisch, sondern eine korrekte und überzeugende und sachlich gar nicht zu widerlegende Auslegung des Johannesevangeliums.
Wenn jemand dagegen vorgeht, muss er das Johannesevangelium beziehungsweise den Schluss des Johannesevangeliums, also die letzte Phase mit der Kreuzigung, muss dieses Evangelium infrage stellen – als Ganzes. Man kann da nicht einen Teil rausstreichen und sagen: Der Rest gilt. Die Passion als solche ist bei Johannes wunderbar beschrieben, und zwar ganz sachlich. Im Unterschied zu den drei anderen Evangelien, den Synoptikern, die hier immer Wundererzählungen hineinbringen.
"Blut und Wasser sammeln sich im Pleuraspalt"
Main: So, nach dieser Ouvertüre, Johannes Fried, geht es jetzt ans Eingemachte. Sie berufen sich, Sie haben es schon angedeutet, vor allem und ausgerechnet aufs Johannesevangelium, das Evangelium, das als das jüngste gilt. Darin wird berichtet, ein Soldat habe Jesus mit der Lanze in die Seite gestochen "und sogleich kamen Blut und Wasser heraus". Das lesen Sie medizinisch, und zwar so, dass das die Rettung für Jesus gewesen sei. Wie hat das aus Ihrer Sicht funktioniert?
Darstellung der Kreuzigung Jesu
Darstellung der Kreuzigung Jesu: Jesus wird von einem Soldaten mit einer Lanze in die Seite gestochen (imago stock&people)
Fried: Das ist relativ einfach. Sobald Sie an Verkehrsunfälle heutigen Tages denken mit Verletzungen des Rippenfells etwa und Blutungen im Brust-Innenraum, dann kann dieses Blut – wenn es längere Zeit geblutet hat, sogar eine Blutwassermischung – die können nirgendwohin abfließen. Es gibt eine einzige Chance für dieses Serum. Das ist der sogenannte Pleuraspalt. Das ist der schmale Spalt zwischen Lungenfell und Rippenfell. In diesen Spalt muss sich die Lunge ausdehnen beim Atmen.
Wenn in diesen Spalt Wasser reinkommt, kann sich die Lunge nicht mehr ausdehnen. Und, wenn das zu lange dauert, dann wird die Lunge so weit zusammengedrückt, dass sie das CO2 nicht mehr abatmen kann. Der Mensch wird erst mal ohnmächtig und dann erstickt er.
"Der Stich des Soldaten soll Jesus nicht töten"
Main: Und der Soldat sticht da rein und ist dann sozusagen der Notarzt Jesu?
Fried: Er sticht offenbar in diesen Pleuraspalt. Wobei man sich klarmachen muss: Dieses Rippenfell sitzt direkt unter den Rippen. Da gibt es keinen Zwischenraum. Sodass also dieses Serum, wenn es dahin fließen und sich aufstauen soll, nur direkt unter den Rippen sitzen kann. Und da genügt ein leichter Stich.
Der Stich soll ja gar nicht töten, sondern der soll nur prüfen: Gibt es da noch eine Reaktion auf Leben? Und wenn nicht, dann ist er tot. Bemerkenswert freilich ist, das hat mir übrigens so ein Metzgermeister gesagt: Wenn Blut fließt, schlägt das Herz. Das heißt also: Dass das Blut noch floss, zeigt klar, dass das Herz noch schlug.
"Jesus hing maximal sechs Stunden am Kreuz"
Main: Zu Ihrer These passt ja auch, dass Jesus nicht so lange am Kreuz gehangen haben soll wie üblich bei dieser grausamen Hinrichtungsweise. Also, das spricht für die These, dass er in einer Art Narkose, ohnmächtig war?
Fried: Ja, das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. Maximal hing er sechs Stunden am Kreuz. Und das ist für einen Tod absolut unmöglich. Denn nach sechs Stunden stirbt keiner am Kreuz, was immer passiert – nur durch die Kreuzigung. Denn die Kreuzigung soll zum Tod führen, nicht irgendeine andere Tortur.
Dass die sechs Stunden nicht ausreichten, das zeigt das Zerschlagen der Beine bei den beiden Mitgekreuzigten. Zerschlagen der Beine heißt nicht einfach nur: Prügel da drauf - und dann bricht ein Knochen. Nein, das heißt zugleich, die Beine werden so gebrochen, dass die Adern blank liegen, freiliegen und das Blut nur so rausschießt. Und dann haben sie innerhalb von - ich weiß nicht wie viel - Minuten eine totale Verblutung und einen wirklichen Exitus, weil eben der Mensch total verblutet ist.
"Körperliche Verletzungen nicht so gravierend"
Main: Man nimmt jetzt also diesen Jesus, der aus Ihrer Sicht keine Leiche ist, nimmt ihn vom Kreuz, übergibt ihn denjenigen, die ihn beerdigen. Die versorgen ihn, machen das, was nach jüdischem Ritual üblich ist, und stellen dann irgendwann fest, dass er gar nicht tot ist und pflegen ihn dann andernorts. Und das ist dann der Grund aus Ihrer Sicht, dass das Grab leer ist?
Fried: Sie pflegen ihn, ja, andernorts, weiß ich nicht, wo auch immer.
Man muss auch davon ausgehen, dass die Verletzungen, die körperlichen Verletzungen gar nicht so gravierend waren. Er ist geprügelt worden. Gut, es gab ein paar offene Stellen am Rücken. Die sind irgendwie schon verkrustet. Die gebrochenen Rippen, die das Rippenfell verletzt haben, schmerzen. Aber damit kann man leben. Und die Seitenwunde sollte nicht tödlich sein.
Das Durchnageln der Arme, genauer gesagt der Unterarme zwischen Elle und Speiche, das ist ebenfalls nicht tödlich und sollte auch gar nicht zu Blutungen führen, sondern nur stabilisieren am Kreuz. Die Füße waren sicher nicht durchnagelt, denn wir haben ja Hinweise auf die Wunden. Und da gibt es an keiner Stelle Hinweise auf Fußwunden.
"Der Mann lebt noch, er atmet"
Main: Aber es ist aus Ihrer Sicht schon ein Wunder, dass Jesus überlebt hat, aber es ist eben keine Auferstehung?
Fried: Es ist ein Wunder, weil man mit seinem Tod gerechnet hat. Aber da er nicht tot war, das konnten die Zeitgenossen nicht so merken. Insofern war es für sie nicht unbedingt ein Wunder.
Wunderbar war es dann für die beiden, die ihn abgenommen haben, ins Grab gelegt haben und dann feststellten: Der Mann lebt noch, er atmet, er lebt noch, er kann sich bewegen, und dann langsam ihn wieder zum Leben erweckt haben. Und das muss man sich nun auch theologisch klarmachen, was das bedeutet.
Die Folie einer handbemalten Magischen Laterne (um 1900) zeigt den toten Christus am Fuße des Kreuzes.
Nikodemus und Josef von Arimathäa bei der Kreuzabnahme (picture alliance / Design Pics)
Beide – also Josef von Arimathäa und Nikodemus – sind gläubige, gebildete Juden. Das heißt, sie konnten lesen und schreiben, kannten sicher das Alte Testament, also die Bibel, auch in der griechischen Version, der Septuaginta. Zitierten dann diese Septuaginta für den Bericht, den sie erstatteten über das, was da geschehen ist, nämlich, dass er aufgewacht ist und nicht auferweckt und nicht erweckt worden ist. Von daher sind es griechische Begriffe, die gebraucht werden, die den schlichten Jesusjüngern sicher nicht vertraut waren. Und diese Begriffe stammen aus der Prophetie des Jesaja und beziehen sich auf das Ende der Tage, auf den Jüngsten Tag gleichsam.
Wenn die Toten sich aus den Gräbern erheben, dann taucht der Messias spätestens auf, um das Volk Israel zur neuen Stärkung und zur Erlösung zu führen. Und das genau müssen die geglaubt haben, dass jetzt der Messias, für den sie den Jesus gehalten haben, dass der Messias jetzt wiedergekommen ist, vom Tod erweckt. Und damit haben wir zwei Phänomene, erstens die Botschaft "er ist erweckt worden" und zweitens die Botschaft "er lebt". Und beide Botschaften laufen dann theologisch gesehen auseinander. Das hängt mit der Geschichte der frühen Kirche zusammen.
"Der Überlebende und seine Anhänger mussten Angst haben"
Main: Herr Fried, an diesem Punkt kommt die nächste Pointe: Sie sagen, die Anhänger dieses Jesus hätten unbedingt den Eindruck aufrechterhalten müssen, er sei tot. Denn er ist ja verurteilt worden, weil er den Mächtigen suspekt erscheint oder weil er gar verbandelt ist mit jüdischen Oppositionsgruppen, die die Römer nervös gemacht haben. Wenn Jesus also nicht tot war, was er ja aus Ihrer Sicht nicht war - warum verhielten sich die kleinen Kreise, die von seinem Weiterleben wussten, genau so, wie sie sich verhielten?
Fried: Ja, sie mussten Angst haben, schlichtweg Angst, weil verschiedene Gruppen gegen sie waren, nicht zuletzt die Tempelpriesterschaft. Das zeigen die beiden Toten, die es dann in der frühchristlichen Zeit gegeben hat. Der Erzmärtyrer Stephanus und der Bruder des Herren, Jakobus. Beide wurden gesteinigt. Das sind also Hinweise darauf, dass es nicht ganz ohne Gefahr war, sich dieser Jesusgruppe anzuschließen.
Das Gemälde "Die Steinigung des Hl. Stephanus" von dem Künstler Giandomenico Tiepolo hängt am Donnerstag (29.05.2008) in der Residenz in Würzburg.
Das Gemälde "Die Steinigung des Hl. Stephanus" von dem Künstler Giandomenico Tiepolo (picture alliance / dpa / Marcus Führer)
Der Meister selbst zeigte sich und musste dann verschwinden. Er war gefährdet, weil er vom Staat zur Todesstrafe verurteilt war. Und man könnte meinen, wer das Kreuz überlebt, genießt dann einen besonderen Schutz. Das habe ich aber nirgends feststellen können, dass dem so ist. Also, nach dem Prinzip ‚Ne bis in idem’, niemand soll zweimal für dasselbe Vergehen verurteilt werden. Das habe ich hier nicht realisieren können.
Dagegen ist die Mitkreuzigung durch zwei beziehungsweise drei, wenn Sie an den Barabbas denken, drei Leute, die den Zeloten, den gewalttätigen Oppositionellen gegen die römische Herrschaft, zusammen verurteilt worden ist, da steckt schon ein bisschen Brisanz dahinter. Und dann auch in der Überschrift über das Kreuz – ‚König der Juden’. Die Juden sollen sich gewehrt haben dagegen und Pilatus soll gesagt haben: "Nein, ich lasse, was ich geschrieben habe."
"Nach Himmelfahrt für uns auf Erden nicht mehr gefährlich"
Main: Aber aus Ihrer Sicht ist es so, dass kurz nach der Kreuzigung die effektivste Geschichte um den verletzten und überlebenden Jesus zu schützen und zu retten, jene Geschichte ist von der Auferstehung und vor allem dann auch von der Himmelfahrt. Denn, wenn Jesus im Himmel ist, kann er nicht mehr auf der Erde die Römer stören.
Fried: Ja, das ist richtig. Das ist eine Konstruktion, die in der damaligen Zeit gleichsam in der Luft lag. Sowohl im Judentum gibt es Himmelfahrt. Henoch und Elias fahren in den Himmel auf. Im 1. Jahrhundert nach wird sogar eine Himmelfahrt des Mose ins Auge gefasst. Bei den Römern gibt es die Himmelfahrt. Nach dem Tod fahren sie vom Scheiterhaufen - entweder in der Gestalt eines Adlers oder sonst wie - in den Himmel auf. Das sind also Konstruktionen oder Bilder, Vorstellungen, die in der damaligen Zeit gang und gäbe waren. An die konnte man appellieren. Nicht nur für jüdische Ohren, sondern gerade auch für römische Ohren. Die verstanden, was eine Himmelfahrt bedeutet. Der Mann ist tot; seine Seele oder sein Nachleben ist im Jenseits angesiedelt und ist für uns hier auf Erden nicht mehr gefährlich.
Bäuerliche Deckenmalerei (um 1700) mit der Darstellung von Christi Himmelfahrt in der evangelischen Kilianskirche in Bad Lausick in Sachsen.
Die Erzählung von der Himmelfahrt Christi (Bild, Darstellung um 1700) habe den überlebenden Jesus und seine Anhänger geschützt, so Fried. (picture alliance/dpa/Foto: Rainer Oettel)
"Nach seiner Grabflucht"
Main: Ihr Buch hat ja den Untertitel "Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus". Welche Spuren machen Sie denn aus? Wo finden Sie diesen jüdischen Wanderprediger, der überlebt hat?
Fried: Also, ich gehe davon aus, dass er nach seiner Grabflucht das geblieben ist, was er vorher war: ein Wanderprediger und Wunderheiler, ein heiliger Mann. Die Spuren eines solchen Wanderpredigers sind natürlich nicht leicht zu identifizieren. Wir haben durchaus solche Spuren, aber sie sind alle nicht mit dem Namen Jesu verbunden. Das ist aber auch nicht weiter verwunderlich, denn schauen Sie, wir wissen auch von dem Jesus vor seiner Jerusalemfahrt von seiner Biografie nahezu nichts.
Main: Aber Sie haben schon Theorien, wo er sich aufgehalten haben könnte? Es ist ganz grob gesprochen das, was wir heute als Nahen Osten bezeichnen.
Fried: Das ist richtig. Also, es sind Spuren, die man hat, und zwar Spuren, die frühchristliche Autoren, etwa Eusebius oder Lukas in der Apostelgeschichte andeuten und die ich aufgreife und sage, die könnten sich auf den Jesus bezogen haben. Das eine ist der Bericht des Philosophen Philon von Alexandrien - ein jüdischer Philosoph, der eine hochinteressante Schrift über die sogenannten Therapeuten schreibt, eine Einsiedlergemeinschaft am Maryut See. Der ist südöstlich von Alexandria. Den gibt es heute noch, allerdings eher Brackwasser als ein ordentlicher See.
Aber da war diese Gemeinschaft von Männern und Frauen, die jeweils separat in ihren eigenen Hütten lebten, sich alle Sonntage trafen und alle 50 Tage, alle 49 Tage ein großes Fest veranstalteten. Und darin wurde dann gelehrt und gepredigt. Dieses, was der Philon da beschreibt, das klang dem Eusebius so christlich, dass er sagte, das waren die ersten christlichen Mönche. Sie heißen noch nicht Christen, weil es den Namen Christen noch nicht gab.
Das Zweite, was man dann hat als Möglichkeit: Um das Jahr 52 taucht in Jerusalem "der Ägypter" auf – "der Ägypter". Und zwar soll er mit 30.000 Mann aufgetaucht sein, die vom Ölberg herab Jerusalem erobern und von den Römern befreien wollten.
Main: Wer bezeichnet ihn als "den Ägypter"?
Fried: "Der Ägypter" ist die Benennung durch Josephus, Flavius Josephus, den großen Geschichtsschreiber des Judentums am Ende des 1. Jahrhunderts. Der hat diese Geschichte. Einen anderen Namen haben wir nicht. ‚Der Ägypter’ taucht ohne Namen auf.
Main: Und Sie meinen, dieser ‚Ägypter’ sei der überlebende Jesus?
Fried: Er könnte von Maryut See aus gekommen sein. Deswegen ‚der Ägypter’. Und hochbemerkenswert ist dann: Es gibt auch noch eine zweite Spur von diesem Ägypter, nämlich als Paulus ein letztes Mal in Jerusalem war. Unmittelbar bevor er festgenommen wird und nach Rom überstellt wird, wird er zwei Dinge gefragt: "Kannst du Griechisch?" Hochinteressant, denn Jesus sprach offenbar kein Griechisch.
Main: Er sprach Aramäisch.
Fried: Er sprach Aramäisch. Und zweitens: "Bist du ‚der Ägypter’?" Da taucht er wieder auf. "Bist du ‚der Ägypter’?" Und dann kommt die Antwort von Paulus: "Nein, ich bin ein römischer Bürger aus Tarsos. Das heißt also, ‚der Ägypter’ konnte kein Griechisch. So, und er trat da auf. Und er trat auf vom Ölberg herab - so wie Jesus unmittelbar vor seiner Kreuzigung vom Ölberg runter nach Jerusalem kommt. Und er will mit seinem gewaltigen Wort Jerusalem befreien.
Das sind die einzigen Hinweise, die wir haben, mehr nicht. Doch, noch einen, nämlich dieser ‚Ägypter’ verschwand. Während seine Mitkämpfer, die 30.000 oder wie viele es auch waren, mehrere Tausend könnten es gewesen sein, werden von der römischen Armee zusammengehauen, gefangengenommen, getötet.
Main: Und als gäbe es nicht Pointen genug: Diese Jesusgruppe endet nicht mit Jesu Tod, von dem Sie nichts wissen. Also, Sie gehen davon aus, dass er nicht am Kreuz gestorben ist, sondern später irgendwann.
Fried: Ja.
"Nachwirken des dem Kreuz entkommenen Jesus im Islam"
Main: So, diese Gruppe aber lebt weiter über die Jahrhunderte. Es ist eine kleine Gruppe, längst nicht so wirkmächtig wie das entstehende Christentum, aber Sie sehen eine Verbindung zum Islam. Dann wäre der Islam eine Fortführung der Jesusbewegung?
Fried: Das ist nicht auszuschließen, denn es gibt die Gruppe der Nazoräer. Das ist eine Gruppe, die heißt tatsächlich so, wird so genannt. Sie nennt sich auch selbst so. Es ist eine religiöse Gruppe, die sich auf den Jesus, den Messias beruft und die ein eigenes Evangelium entwickelt hat. Wir haben die Spuren dieser Gruppe bis ins 5. oder 6. Jahrhundert - nachweisbare Spuren, so muss man sagen. Wie lange diese Gruppe überdauert hat, das wissen wir nicht. Aber am Ende des 7. Jahrhunderts haben wir die erste Inschrift, den ersten Text, der heute als ältestes datierbares Zeugnis des Islam betrachtet wird, nämlich die große Inschrift "Im Felsendom von Jerusalem". Da taucht manches auf, aber vor allen Dingen taucht dreimal der Name des Messias auf. Er wird auch so genannt: Meschiah.
Der Messias Isa ibn Maryam, also der Messias, Jesus, der Sohn der Maria. Er wird dreimal in dieser Inschrift genannt, während Mohammed nur in einer kryptischen Form in Erscheinung tritt, durch das in seiner Bedeutung umstrittene Wort "mohammadun": "gepriesen sei, zu preisen ist". Und, ob Mohammad hier als der Gepriesene angesprochen wird, oder ob nur der Prophet zu preisen ist und dieser Jesus wird als Prophet, explizit als Prophet, als Diener, als Knecht Gottes angesprochen in dieser Inschrift, das scheint mir darauf hinzuweisen, dass diese Inschrift tatsächlich, ja, einen judenchristlichen, einen nazoräischen Ursprung haben könnte und von daher nicht unbedingt ein Zeugnis des Islam ist.
Im Koran haben sie dann das Weiterwirken solcher Vorstellungen. Da gibt es verschiedene Suren, die ganz stark an das Christliche erinnern. Eine Sure etwa ist sogar überschrieben: Maria. Sie finden da einen Hinweis auf die Kreuzigung, und dass nur die Juden geglaubt hätten, er sei tot am Kreuz, aber er sei nicht tot, er habe das Kreuz überhaupt überlebt.
Und von daher zieht diese Vorstellung von einem überlebenden Jesus bis in den Koran hinein, bis in den frühen Islam. Und, wenn ich da die Tradition ziehe, die Traditionslinie von den Nazoräern, die bis in das fünfte und sechste Jahrhundert verfolgt werden können und damit einen Hinweis bieten können, dass die Tradition des dem Grab entkommenen Jesus bis dahin lebendig blieb. Das sind für mich doch Hinweise, dass es da eine Tradition geben könnte, die ein Nachwirken des dem Kreuz entkommenen Jesus verdeutlichen können.
"Ich muss Jesus historisch verstehen können und dürfen"
Main: Johannes Fried, Sie sind Historiker. Nun müssen wir einfach mal die Bedenken thematisieren, dass Sie theologische Texte, wie zum Beispiel das Johannesevangelium, nehmen und es historisch analysieren. Aber die Autoren dieses Evangeliums wollten überhaupt keine Geschichtsschreibung, sondern sie wollten Theologie treiben. Nehmen Sie also womöglich all diese Texte, auch die anderen erwähnten, viel zu wörtlich, viel zu ernst?
Fried: Das trifft die moderne Theologie insgesamt, denn die moderne Theologie ist vielfach historisch ausgerichtet und versteht die Evangelien-Texte durchaus in einem historischen Sinne. Und das halte ich für nicht verkehrt. Denn Jesus der Nazaräer war ein Mensch. Er lebte in einer bestimmten Zeit. Und als solcher muss ich ihn historisch verstehen können und verstehen dürfen. Insofern glaube ich nicht, dass es verkehrt ist, die Evangelien historisch zu betrachten. Dann aber müssen die quellenkritischen Momente einen Gesichtspunkt darstellen. Und die sprechen in meinen Augen ganz deutlich gegen die Synoptiker im Hinblick auf die Kreuzigung.
Wenn ich da lese, dass der Himmel erbebte und die Erde wackelte und die Sonne sich verfinsterte, dass die Toten in der Stadt aus den Gräbern auffuhren im Augenblick von Christi Tod, dann kann ich da nur sagen, das sind Wunderberichte. Die erklären mir historisch gar nichts. Die erklären mir nur einen späten Glauben oder bezeugen einen späten Glauben, der nicht früher ist als – sagen wir mal – zwischen 100 und 150 entstanden. Ob er früher ist, kann kein Mensch sagen.
"Paulus ist der Erfinder des Christentums"
Main: Dass die Evangelien sich widersprechen, das ist geschenkt. Aber dennoch, was sagen Sie zu dem Einwand, dass alle biblischen Texte, auch andere antike Texte, vom Tod Jesu ausgehen?
Ein Mosaik des Apostel Paulus in der Chora Kirche / Kariye-Museum
Ein Mosaik des Apostel Paulus in der Chora Kirche / Kariye-Museum (imago / imagebroker)
Fried: Ja, das ist die Tradition, die von der Schutzerklärung ausgegangen ist. Freilich, es ist die Richtung, die Paulus gepredigt hat. Für mich ist der eigentliche Erfinder des Christentums der Prediger Paulus, der das Ganze unter die Heidenschaft bringt und in der Heidenschaft Anklang findet mit all seinen Thesen und unter den orthodoxen Juden – ich meine jetzt mit "orthodox" die strenggläubigen Juden der damaligen Zeit – auf erheblichen Widerspruch gestoßen ist.
Das Entscheidende ist die Überlieferung des Auferstandenen, des Kreuzestods. Die ist in der paulinischen Tradition entsprechend formuliert. Paulus sagt ja explizit: Bis hin zum Tod am Kreuz. Das sind Formulierungen bei Paulus, da ist also die Kreuzigung durchaus in den Glauben hineingenommen.
Main: Johannes Fried, emeritierter Professor fürs Mittelalter, über sein Buch "Kein Tod auf Golgatha – Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus". 189 Seiten, erschienen im Verlag C.H. Beck, kosten rund 20 Euro. Johannes Fried, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, nach Mannheim zu kommen, danke für das Gespräch.
Fried: Vielen Dank, Herr Main, meinerseits.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Johannes Fried: "Kein Tod auf Golgatha"
Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus
C. H. Beck, 190 Seiten, 19,95 Euro.