Stattdessen soll nun Parlamentspräsident Foued Mbazaa die Lage unter Kontrolle bekommen, eine Einheitsregierung soll gebildet werden. Bereits in zwei Monaten soll es Wahlen geben. Doch die Lage bleibt gespannt, Tunesien blickt in den Abgrund. Wie konnte es so weit kommen, wo steht das Land heute, wie hat das Regime des Zine El Abidine Ben Ali in 23 Jahren Tunesien verändert und was haben die Ereignisse in Tunesien für die Region zu bedeuten, für den Maghreb, für ganz Nordafrika, ja auch für Europa? Diesen Fragen wollen wir in dieser Sendung nachgehen. Am Mikrofon ist Thilo Kößler! Und in einem Studio in Potsdam begrüße ich Isabelle Werenfels. Sie ist Nordafrika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik – schönen guten Abend, Frau Werenfels.
Isabelle Werenfels: Guten Abend, Herr Kößler!
Kößler: Die Ereignisse überschlagen sich seit gestern – haben Sie mit einer derartig dramatischen Entwicklung gerechnet, mit einem Umsturz, mit der Flucht des Präsidenten?
Werenfels: Also vor einer Woche sicherlich nicht, aber ich denke, ab Dienstag wurde klar, dass Ben Ali die Verantwortung nicht mehr auf andere abwälzen kann. Sein System war ja ein hoch personalisiertes, und ich glaube, das ist ihm zu Verhängnis geworden, die Leute wollten, dass er weggeht. Und er hat auch den Zeitpunkt verpasst, um politische Konzessionen zu machen. Er hat in diesen letzten vier Wochen immer nur wirtschaftliche gemacht, bis einen Tag bevor er dann gehen musste.
Kößler: Eine Rückkehr halten Sie für ausgeschlossen?
Werenfels: Absolut.
Heute Vormittag gab es erste Gespräche, an denen auch einige wenige Oppositionelle teilgenommen haben. Die Machthaber des Übergangs haben erste Weichen gestellt, doch die Lage ist immer noch chaotisch. Auch heute gab es viele Tote und Szenen der Gewalt. Über den Stand der Dinge an diesem Tag eins nach Ben Ali berichtet Alexander Göbel:
In Tunis feuerten am Samstagnachmittag bewaffnete Angreifer aus fahrenden Autos wahllos auf Passanten. Es kam zu Plünderungen und Schlägereien. Bei einem Gefängnisbrand in der Touristenhochburg Monastir soll es mehr 40 Tote gegeben haben. Die Tunesier befürchten, dass es weitergeht mit der Gewalt. Am Ende von Tag eins nach Ben Ali bleibt ein Gefühl tiefer Unsicherheit. Unterdessen ist der Machtkampf um Ben Alis Nachfolge entbrannt. Weniger als 24 Stunden nach der Flucht des Expräsidenten musste Premierminister Ghannouchi sein Amt als Übergangspräsident schon wieder abgeben. Am Samstag Mittag erklärte der Verfassungsrat den 77-jährigen Parlamentspräsidenten Foued Mbazaa zum Nachfolger von Ben Ali – ein Amtseid zwischen Tür und Angel:
"Ich schwöre, die Unabhängigkeit und die Souveränität Tunesiens zu wahren, die Verfassung und ihre Institutionen zu achten, und ich verspreche, im Interesse des tunesischen Volkes zu regieren."
Ein Versprechen, das auf große Skepsis stößt. Gemeinsam mit seinem Premierminister Ghannouchi und erstmals auch Teilen der Opposition will Mbazaa eine Koalitionsregierung bilden und Neuwahlen organisieren. Es ist fraglich, ob Mbazaa und Ghannouchi in der Lage sind, das Land zu beruhigen. Nadia Hammami, die Tochter des mittlerweile wieder freigelassenen Chefs der kommunistischen Partei Tunesiens glaubt nicht daran. Mit zwei alten Herren könne nichts Neues entstehen, kritisiert sie im französischen Fernsehen:
"Hier wird versucht, dem tunesischen Volk seine Revolution zu stehen. Sowohl Ghannouchi als auch Mbazaa sind enge Vertraute von Ben Ali, sie gelten als linientreu, und sie haben viel von der brutalen Repression zu verantworten, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Also mit diesen Männern ist keine Demokratie zu machen."
Sollte es tatsächlich innerhalb der nächsten 60 Tage Wahlen geben, dann muss die Opposition sich mächtig ins Zeug legen, um Kandidaten und Programme zu präsentieren. Lange war Tunesien nur eine Papierdemokratie, und nun, mitten im tunesischen Chaos nach Ben Ali, tickt auch die Uhr für die letzten alten Ben-Ali-Vertrauten. Viel Zeit haben sie nicht, denn die Geduld der Menschen ist riesengroß. Die Straße hat gesprochen, viele wollen das gesamte Regime verjagen.
Kößler: Der Tag danach, die Lage in Tunesien heute – Alexander Göbel war das. Und er hat es angesprochen, Frau Werenfels, zwei Namen immer wieder genannt, Mohamed Ghannouchi und Foued Mbazaa. Sind das die beiden, die wirklich glaubwürdig einen Neuanfang repräsentieren können?
Werenfels: Sicherlich nicht, aber eigentlich geht es ja für die beiden im Moment darum, den Übergang zu managen, und da ist die Frage, wie sie das machen. Ich meine, beide sind – der eine seit 97, der andere seit 99 – in den Diensten Ben Alis, das kam ja auch, im Beitrag wurde das sehr deutlich, und es ist sicherlich kein Generationenwandel, den die beiden Herren darstellen. Aber ich glaube, die Frage ist jetzt wirklich, wen werden sie in den nächsten Wochen einbinden und werden sie die angekündigten Neuwahlen durchziehen?
Kößler: Sind die Ankündigungen glaubwürdig Ihrer Meinung nach, also eine Regierung zu bilden der nationalen Einheit, Wahlen in zwei Monaten, kann man ihnen Glauben schenken?
Werenfels: Also ich denke, sie werden nicht um die Wahlen rumkommen. Sie haben Glück, wenn sie bis dahin noch da sind, so, wie es im Moment aussieht. Ich meine, die Frage ist auch, wie viel Gewalt in den nächsten Tagen angewendet wird, um die Lage zu beruhigen. Also das kann sein, dass es so eskaliert, dass tatsächlich auch diese beiden Herren schon sehr bald nicht mehr da sein werden. Was zu hoffen ist, ist, dass es jetzt möglich ist, diese Neuwahlen zu planen und eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden unter Einbindung gewisser oppositioneller Parteien, die bisher ausgeschlossen waren.
Ben Ali hat gestern Hals über Kopf sein Land verlassen, er ist nach Saudi-Arabien geflohen. Ben Ali hat sich 1987 an die Macht geputscht – wie sieht Tunesien heute aus, wollen wir fragen, nach 23 Jahren der autokratischen Herrschaft. Welche Machtstrukturen haben sich ausgeprägt, welche Spuren hat sein Regime in der Gesellschaft hinterlassen? Claudia Altmann wirft einen Blick auf die tunesischen Verhältnisse heute:
"Ich habe den Innenminister entlassen und entschieden, dass nicht mehr scharf geschossen wird. Mit scharfer Munition zu schießen, ist nicht hinnehmbar. Dafür gibt es bei uns keinerlei Rechtfertigung – keinerlei Rechtfertigung."
Dies waren die letzten öffentlichen Worte eines autokratischen Herrschers an sein Volk, das ihm längst nicht mehr glaubte. Die beschwörerischen Reden gingen unter in Schüssen und Blut. Ein Spot, unterlegt mit den Bildern getöteter Tunesier, ausgestrahlt vom tunesischen Privatsender nessma tv. Nur wenige Minuten, nachdem der verhasste Präsident Zine El Abidine Ben Ali wie ein Dieb geflohen war. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Lande. Es war wie ein Befreiungsschlag für die 23 Jahre lang unterdrückten Menschen. Endlich hatten sie sich von der Last befreit, die ihren Mund verschlossen und ihre Heimat in ein riesiges Gefängnis verwandelt hatte. Als Ben Ali 1987 an die Macht gekommen war, hatten viele Menschen große Hoffnungen in ihn gesetzt. Der ehemalige Innenminister und Regierungschef sollte das verkrustete System des senilen Staatschefs Habib Bourguiba aufbrechen. Anfangs gelang das Ben Ali auch, die politische Landschaft öffnete sich, die Wirtschaft wurde reformiert. Selbst als er mit harter Hand Anfang der 1990er-Jahre gegen die Islamisten vorging, hatte er die Unterstützung der Mehrheit der Tunesier. Aber spätestens, als sich sein Verfolgungsapparat auch immer mehr gegen demokratische Oppositionelle, linke Gruppen und Gewerkschaften richtete, zeigte der ehemalige Geheimdienstchef sein wahres Gesicht. Im ganzen Land installierte er einen Spitzelapparat. Unliebsame Geister wurden eingeschüchtert, ihre Familien bedroht. Wer nicht kuschte, kam ins Gefängnis oder wurde ins Exil getrieben. Anwälte klagten immer wieder Folter und Selbstmord an politischen Gefangenen an. Irgendwann trauten sich die Menschen nicht einmal mehr, im Familienkreis den Mund aufzumachen. Bei seiner allgegenwärtigen Kontrolle nutzte der Herrscher die bis ins kleinste Dorf reichenden Strukturen seiner Regierungspartei, der demokratischen konstitutionellen Sammlungsbewegung RCD. Wer Karriere machen wollte, trat ihr bei. Das Ganze Land stand unter der Kontrolle des allmächtigen und dem Personenkult verfallenen Ben Ali. Es gab ein engmaschiges Überwachungssystem. Jedem Bürger wurde ein Strichcode verpasst. Über zentrale Datenbanken konnten zum Beispiel Reisen und Lebensgewohnheiten abgefragt werden. Hinzu kam eine strenge Internetzensur. Offen an ihm Kritik zu üben, konnte tödlich enden. Bis gestern. In einer Fernsehdiskussion sprach ein Journalist offen aus, worin das Übel bislang bestand:
"Es ist die Fusion von Partei, Staat und Verwaltung. Alles steht im Dienste des Staates. Das Medien- und Propagandasystem dient einzig und allein der Regierungspartei und weder der Information noch dem Land oder dem Bürger. Dasselbe gilt für das Rechtswesen. Sämtliche Institutionen, das Parlament und alle staatlichen Einrichtungen, sind den Interessen der allein herrschenden Partei des Präsidenten unterstellt. Dieser war zugleich Parteichef und konzentrierte alle Macht auf seine Person. Und das alles ohne die geringste Kontrolle – keine parlamentarische und keine politische, absolut nichts."
Diese Alleinherrschaft nutzten Ben Ali und sein Umfeld zugleich aus, um sich schamlos zu bereichern. Seit Jahren wird das Land von einer Handvoll Klans ausgeplündert. Allen voran die Familie Ben Ali und die seiner zweiten Ehefrau Leila Trabelsi. Für den tunesischen Anwalt Faisal Abdelmalik lagen hier Grundübel und Hauptursache, die die Leute derart massiv zum Protest getrieben haben:
"Alle wissen es. Sie können jeden beliebigen Tunesier und vor allem die tunesischen Unternehmer fragen: Der Klan Trabelsi hatte bisher leider alles im Griff. Er wird als echte Besatzung betrachtet. Und genau gegen diese Besatzung ist das tunesische Volk aufgestanden. Es ist eklatanter Sieg, der hier über die Willkür davongetragen wurde."
Während sich die gierige und korrupte Obrigkeit mithilfe des Staates – vor allem von Justiz, Verwaltung und Zoll – die Taschen vollschaufelte, wurde es für die Bevölkerung immer schwerer, ein würdiges Leben zu führen. Vor allem junge Hochschulabsolventen bekamen die verfehlte Politik des Präsidenten zu spüren. Die Wirtschaft wurde auf die Interessen des Auslands ausgerichtet, in erster Linie auf die der Investoren aus Europa. In der Tourismus-, Textil- und Elektroindustrie sind billige Arbeitskräfte gefragt, billigere als in Osteuropa. Die sicherte Ben Ali den Partnern zu. Er ging mit harter Hand gegen Islamisten vor und hielt afrikanische Armutsflüchtlinge davon ab, Tunesien als Transitland zu nutzen. Im Gegenzug verließ er sich darauf, dass die europäischen Regierungen, vor allem Frankreichs, Italiens und Deutschlands, die Augen vor den wahren Zuständen im vermeintlichen Musterland schließen würden. Sie ließen sich zudem von dem Argument blenden, Tunesien ginge mit harter Hand gegen Islamisten und afrikanische Einwanderer vor. Menschenrechte waren kein Thema. Unterdessen schoben die Parteibonzen die kaum noch vorhandenen Arbeitsplätze ihren eigenen Kindern zu. Jenseits der Küstenstädte mit ihren schillernden Touristenzentren versank das Land in Perspektivlosigkeit. Es war der Mut der Verzweiflung, der die jungen Tunesier schließlich dazu gebracht hat, die Angst abzuschütteln. Ihr Signal wurde rasch von allen Schichten der Bevölkerung erhört – Anwälte, Lehrer, Ärzte, Gewerkschafter solidarisierten sich mit ihnen: Schluss mit der Unterdrückung, Schluss mit dem Stillhalten! Anwalt Abdelmalik sieht genau wie sie nur einen Ausweg und ist optimistisch:
"Wir brauchen einen Wandel. Die Welt muss erfahren, dass es aufrechte Tunesier gibt, dass es eine Opposition gibt, dass es kluge Leute gibt, Menschen, die sich nach Neuem sehnen, nach Freiheit. In Tunesien gibt es nicht nur die Regierungspartei des Präsidenten, es gibt Parteien, die aber eben massiv unterdrückt werden, deren Mitglieder Verfolgung und Gefängnis ausgesetzt sind, Parteien, die von innen systematisch zersetzt wurden, aber die es dennoch gibt."
Kößler: Tunesische Innenansichten. Claudia Altmann war das mit der Vorgeschichte der tunesischen Revolution, wie sie bereits genannt wird. Sie hören den Deutschlandfunk, die Sendung "Hintergrund". Unser Studiogast ist Isabelle Werenfels, die Nordafrika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik. Frau Werenfels, es ist die Rede von einer Regierung der nationalen Einheit, es ist davon die Rede, alle Kräfte einzubinden, auch die Opposition. Aber wenn man nach 23 Jahren Diktatur von Opposition spricht in Tunesien, wovon redet man dann?
Werenfels: Man spricht von einigen ganz wenigen legalen Oppositionsparteien, die sich aber kaum organisieren konnten und die säkular sind, demokratisch, und dann spricht man von einer großen oder ehemals großen islamistischen Oppositionspartei, die verboten ist – ihr Präsident oder Generalsekretär sitzt in London – und es wird ... man darf, glaube ich, sehr gespannt sein, wie diese Partei wieder eingebunden wird. Die Islamisten sind in Tunesien nie sehr, sehr stark gewesen, sie haben einmal bei Wahlen gut abgeschnitten und wurden danach unterdrückt, das war Ende der 80er-Jahre, und sie gehören auch zu den Fortschrittlichsten in der Region.
Kößler: Das heißt, sie sind nicht so militant wie El Kaida, wie Hamas, wie Hisbollah?
Werenfels: Nein, kann man nicht vergleichen. Und sie haben sich in den vergangenen Jahren auch immer wieder mit der linken Opposition, säkularen Opposition geeinigt in Tunesien auf gewisse Punkte, wie zum Beispiel Frauenrechte, Anerkennung der sehr fortschrittlichen Frauengleichstellung in Tunesien. Also ich glaube, die müsste man einbinden, sonst wird es auch nicht wirklich funktionieren, dass man ein demokratisches Tunesien hat, und ich bin sehr gespannt darauf, ob das jetzt in dieser Übergangsphase geschehen wird oder nicht.
Kößler: Das Schweigen, das man in der offiziellen arabischen Welt, in den Regierungszentralen heute gehört hat, das war schon ausgesprochen laut, Frau Werenfels. Wie werden die Ereignisse in Tunesien bei den Regimen in der Nachbarschaft wahrgenommen?
Werenfels: Also ich vermute, dass die alle relativ nervös werden, die wissen aber auch, dass sie andere Rahmenbedingungen haben . Also wenn wir uns zum Beispiel Algerien anschauen, dann sieht man da, da gibt es mehrere Machtzentren, das ist nicht so personalisiert, da gibt es oft Unruhen. Aber wenn die Leute jetzt auf die Straße gehen in den Massen, in denen sie in Tunesien auf die Straße gehen, und sagen, Bouteflika soll zurücktreten – das ist der Präsident dort –, dann kann der zurücktreten, er kann verreisen, am System wird es nichts ändern, weil es noch die sehr starken Militärs gibt. Und dazu kommt noch, dass sehr viele der anderen Staaten mehr politische Ventile haben. Die haben eine gewisse Pressefreiheit, das heißt, die Leute können sich ein bisschen äußern, können sich ein bisschen Luft verschaffen, das war in Tunesien ja überhaupt nicht möglich. Hier konnten sich nicht mehr als fünf Leute versammeln, die irgendwelche politischen Absichten hatten.
Kößler: Das heißt, man kann Tunesien nicht mit Algerien vergleichen.
Werenfels: Absolut nicht!
Kößler: Das sind zwei Paar Stiefel. Aber wie sieht es mit der Situation in Ägypten aus? In Ägypten kam es heute zu ausgesprochenen Sympathiekundgebungen, auch Ägypten steht am Scheideweg, kurz nach den Wahlen zum Parlament, kurz vor den Wahlen der Präsidentschaft?
Werenfels: Ja, und Ägypten hat auch ein sehr personalisiertes System, aber eben nicht so personalisiert. Ich kann mir vorstellen, es gibt da auch in Ägypten andere Machtzentren, es gibt nicht nur Mubarak. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass sich die Eliten jetzt überlegen, was tun. Was mir relativ sicher scheint, ist, dass sich alle mächtigen Eliten dagegen wehren werden, dass Mubarak seinen Sohn einsetzt, weil das könnte zu einem ähnlichen Szenario führen wie in Tunesien. Es könnte sein, dass jemand wie Mohammed el-Baradei aus der Opposition, der früher die Atomenergieagentur geleitet hat, dass so jemand dann, der auch innerhalb von Teilen des Regimes verankert ist, dass so jemand dann Mubarak entgegengesetzt werden könnte.
Kößler: Was lernen wir aus der Affäre Tunesien, was lernen die Europäer über den Umgang mit Regimen wie das von Ben Ali?
Werenfels: Also erstens, Diktatoren garantieren keine Stabilität. Die Europäer haben den Fehler gemacht, immer wieder, dass sie Staaten wie Tunesien, die – wir haben es gehört in dem Beitrag auch – ein Bollwerk gegen Islamisten, gegen irreguläre Migration darstellen, dass wir solche Regime unterstützt haben in Europa. Ich glaube, man muss sich so ein bisschen auf die europäischen Werte besinnen und auch den Mut haben, zu sagen, wir unterstützen auch Öffnungen, die mit Unsicherheiten verbunden sind oder politische Reformen. Die Europäer sind immer sehr nervös geworden, wenn es um freie Wahlen ging in arabischen Staaten. Ich denke, die Erfahrung mit Hamas, die Europäer wollten Wahlen, danach haben sie es nicht akzeptiert. Also ich denke, das ist einfach nicht weise, diese Politik zu fahren, das hat sich jetzt am Beispiel Tunesiens sehr deutlich gezeigt.
Tunesien vor einer ungewissen Zukunft. Diese Tage sind eine tiefe Zäsur in der Geschichte des Landes und in der Geschichte der gesamten Region. Noch ist dieses Kapitel nicht zu Ende geschrieben, es gibt noch viele Unwägbarkeiten. Niemand weiß, wie es weitergehen wird. Ich bedanke mich bei Isabelle Werenfels, der Nordafrika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, und ich wünsche Ihnen und uns einen schönen guten Abend!
Isabelle Werenfels: Guten Abend, Herr Kößler!
Kößler: Die Ereignisse überschlagen sich seit gestern – haben Sie mit einer derartig dramatischen Entwicklung gerechnet, mit einem Umsturz, mit der Flucht des Präsidenten?
Werenfels: Also vor einer Woche sicherlich nicht, aber ich denke, ab Dienstag wurde klar, dass Ben Ali die Verantwortung nicht mehr auf andere abwälzen kann. Sein System war ja ein hoch personalisiertes, und ich glaube, das ist ihm zu Verhängnis geworden, die Leute wollten, dass er weggeht. Und er hat auch den Zeitpunkt verpasst, um politische Konzessionen zu machen. Er hat in diesen letzten vier Wochen immer nur wirtschaftliche gemacht, bis einen Tag bevor er dann gehen musste.
Kößler: Eine Rückkehr halten Sie für ausgeschlossen?
Werenfels: Absolut.
Heute Vormittag gab es erste Gespräche, an denen auch einige wenige Oppositionelle teilgenommen haben. Die Machthaber des Übergangs haben erste Weichen gestellt, doch die Lage ist immer noch chaotisch. Auch heute gab es viele Tote und Szenen der Gewalt. Über den Stand der Dinge an diesem Tag eins nach Ben Ali berichtet Alexander Göbel:
In Tunis feuerten am Samstagnachmittag bewaffnete Angreifer aus fahrenden Autos wahllos auf Passanten. Es kam zu Plünderungen und Schlägereien. Bei einem Gefängnisbrand in der Touristenhochburg Monastir soll es mehr 40 Tote gegeben haben. Die Tunesier befürchten, dass es weitergeht mit der Gewalt. Am Ende von Tag eins nach Ben Ali bleibt ein Gefühl tiefer Unsicherheit. Unterdessen ist der Machtkampf um Ben Alis Nachfolge entbrannt. Weniger als 24 Stunden nach der Flucht des Expräsidenten musste Premierminister Ghannouchi sein Amt als Übergangspräsident schon wieder abgeben. Am Samstag Mittag erklärte der Verfassungsrat den 77-jährigen Parlamentspräsidenten Foued Mbazaa zum Nachfolger von Ben Ali – ein Amtseid zwischen Tür und Angel:
"Ich schwöre, die Unabhängigkeit und die Souveränität Tunesiens zu wahren, die Verfassung und ihre Institutionen zu achten, und ich verspreche, im Interesse des tunesischen Volkes zu regieren."
Ein Versprechen, das auf große Skepsis stößt. Gemeinsam mit seinem Premierminister Ghannouchi und erstmals auch Teilen der Opposition will Mbazaa eine Koalitionsregierung bilden und Neuwahlen organisieren. Es ist fraglich, ob Mbazaa und Ghannouchi in der Lage sind, das Land zu beruhigen. Nadia Hammami, die Tochter des mittlerweile wieder freigelassenen Chefs der kommunistischen Partei Tunesiens glaubt nicht daran. Mit zwei alten Herren könne nichts Neues entstehen, kritisiert sie im französischen Fernsehen:
"Hier wird versucht, dem tunesischen Volk seine Revolution zu stehen. Sowohl Ghannouchi als auch Mbazaa sind enge Vertraute von Ben Ali, sie gelten als linientreu, und sie haben viel von der brutalen Repression zu verantworten, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Also mit diesen Männern ist keine Demokratie zu machen."
Sollte es tatsächlich innerhalb der nächsten 60 Tage Wahlen geben, dann muss die Opposition sich mächtig ins Zeug legen, um Kandidaten und Programme zu präsentieren. Lange war Tunesien nur eine Papierdemokratie, und nun, mitten im tunesischen Chaos nach Ben Ali, tickt auch die Uhr für die letzten alten Ben-Ali-Vertrauten. Viel Zeit haben sie nicht, denn die Geduld der Menschen ist riesengroß. Die Straße hat gesprochen, viele wollen das gesamte Regime verjagen.
Kößler: Der Tag danach, die Lage in Tunesien heute – Alexander Göbel war das. Und er hat es angesprochen, Frau Werenfels, zwei Namen immer wieder genannt, Mohamed Ghannouchi und Foued Mbazaa. Sind das die beiden, die wirklich glaubwürdig einen Neuanfang repräsentieren können?
Werenfels: Sicherlich nicht, aber eigentlich geht es ja für die beiden im Moment darum, den Übergang zu managen, und da ist die Frage, wie sie das machen. Ich meine, beide sind – der eine seit 97, der andere seit 99 – in den Diensten Ben Alis, das kam ja auch, im Beitrag wurde das sehr deutlich, und es ist sicherlich kein Generationenwandel, den die beiden Herren darstellen. Aber ich glaube, die Frage ist jetzt wirklich, wen werden sie in den nächsten Wochen einbinden und werden sie die angekündigten Neuwahlen durchziehen?
Kößler: Sind die Ankündigungen glaubwürdig Ihrer Meinung nach, also eine Regierung zu bilden der nationalen Einheit, Wahlen in zwei Monaten, kann man ihnen Glauben schenken?
Werenfels: Also ich denke, sie werden nicht um die Wahlen rumkommen. Sie haben Glück, wenn sie bis dahin noch da sind, so, wie es im Moment aussieht. Ich meine, die Frage ist auch, wie viel Gewalt in den nächsten Tagen angewendet wird, um die Lage zu beruhigen. Also das kann sein, dass es so eskaliert, dass tatsächlich auch diese beiden Herren schon sehr bald nicht mehr da sein werden. Was zu hoffen ist, ist, dass es jetzt möglich ist, diese Neuwahlen zu planen und eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden unter Einbindung gewisser oppositioneller Parteien, die bisher ausgeschlossen waren.
Ben Ali hat gestern Hals über Kopf sein Land verlassen, er ist nach Saudi-Arabien geflohen. Ben Ali hat sich 1987 an die Macht geputscht – wie sieht Tunesien heute aus, wollen wir fragen, nach 23 Jahren der autokratischen Herrschaft. Welche Machtstrukturen haben sich ausgeprägt, welche Spuren hat sein Regime in der Gesellschaft hinterlassen? Claudia Altmann wirft einen Blick auf die tunesischen Verhältnisse heute:
"Ich habe den Innenminister entlassen und entschieden, dass nicht mehr scharf geschossen wird. Mit scharfer Munition zu schießen, ist nicht hinnehmbar. Dafür gibt es bei uns keinerlei Rechtfertigung – keinerlei Rechtfertigung."
Dies waren die letzten öffentlichen Worte eines autokratischen Herrschers an sein Volk, das ihm längst nicht mehr glaubte. Die beschwörerischen Reden gingen unter in Schüssen und Blut. Ein Spot, unterlegt mit den Bildern getöteter Tunesier, ausgestrahlt vom tunesischen Privatsender nessma tv. Nur wenige Minuten, nachdem der verhasste Präsident Zine El Abidine Ben Ali wie ein Dieb geflohen war. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Lande. Es war wie ein Befreiungsschlag für die 23 Jahre lang unterdrückten Menschen. Endlich hatten sie sich von der Last befreit, die ihren Mund verschlossen und ihre Heimat in ein riesiges Gefängnis verwandelt hatte. Als Ben Ali 1987 an die Macht gekommen war, hatten viele Menschen große Hoffnungen in ihn gesetzt. Der ehemalige Innenminister und Regierungschef sollte das verkrustete System des senilen Staatschefs Habib Bourguiba aufbrechen. Anfangs gelang das Ben Ali auch, die politische Landschaft öffnete sich, die Wirtschaft wurde reformiert. Selbst als er mit harter Hand Anfang der 1990er-Jahre gegen die Islamisten vorging, hatte er die Unterstützung der Mehrheit der Tunesier. Aber spätestens, als sich sein Verfolgungsapparat auch immer mehr gegen demokratische Oppositionelle, linke Gruppen und Gewerkschaften richtete, zeigte der ehemalige Geheimdienstchef sein wahres Gesicht. Im ganzen Land installierte er einen Spitzelapparat. Unliebsame Geister wurden eingeschüchtert, ihre Familien bedroht. Wer nicht kuschte, kam ins Gefängnis oder wurde ins Exil getrieben. Anwälte klagten immer wieder Folter und Selbstmord an politischen Gefangenen an. Irgendwann trauten sich die Menschen nicht einmal mehr, im Familienkreis den Mund aufzumachen. Bei seiner allgegenwärtigen Kontrolle nutzte der Herrscher die bis ins kleinste Dorf reichenden Strukturen seiner Regierungspartei, der demokratischen konstitutionellen Sammlungsbewegung RCD. Wer Karriere machen wollte, trat ihr bei. Das Ganze Land stand unter der Kontrolle des allmächtigen und dem Personenkult verfallenen Ben Ali. Es gab ein engmaschiges Überwachungssystem. Jedem Bürger wurde ein Strichcode verpasst. Über zentrale Datenbanken konnten zum Beispiel Reisen und Lebensgewohnheiten abgefragt werden. Hinzu kam eine strenge Internetzensur. Offen an ihm Kritik zu üben, konnte tödlich enden. Bis gestern. In einer Fernsehdiskussion sprach ein Journalist offen aus, worin das Übel bislang bestand:
"Es ist die Fusion von Partei, Staat und Verwaltung. Alles steht im Dienste des Staates. Das Medien- und Propagandasystem dient einzig und allein der Regierungspartei und weder der Information noch dem Land oder dem Bürger. Dasselbe gilt für das Rechtswesen. Sämtliche Institutionen, das Parlament und alle staatlichen Einrichtungen, sind den Interessen der allein herrschenden Partei des Präsidenten unterstellt. Dieser war zugleich Parteichef und konzentrierte alle Macht auf seine Person. Und das alles ohne die geringste Kontrolle – keine parlamentarische und keine politische, absolut nichts."
Diese Alleinherrschaft nutzten Ben Ali und sein Umfeld zugleich aus, um sich schamlos zu bereichern. Seit Jahren wird das Land von einer Handvoll Klans ausgeplündert. Allen voran die Familie Ben Ali und die seiner zweiten Ehefrau Leila Trabelsi. Für den tunesischen Anwalt Faisal Abdelmalik lagen hier Grundübel und Hauptursache, die die Leute derart massiv zum Protest getrieben haben:
"Alle wissen es. Sie können jeden beliebigen Tunesier und vor allem die tunesischen Unternehmer fragen: Der Klan Trabelsi hatte bisher leider alles im Griff. Er wird als echte Besatzung betrachtet. Und genau gegen diese Besatzung ist das tunesische Volk aufgestanden. Es ist eklatanter Sieg, der hier über die Willkür davongetragen wurde."
Während sich die gierige und korrupte Obrigkeit mithilfe des Staates – vor allem von Justiz, Verwaltung und Zoll – die Taschen vollschaufelte, wurde es für die Bevölkerung immer schwerer, ein würdiges Leben zu führen. Vor allem junge Hochschulabsolventen bekamen die verfehlte Politik des Präsidenten zu spüren. Die Wirtschaft wurde auf die Interessen des Auslands ausgerichtet, in erster Linie auf die der Investoren aus Europa. In der Tourismus-, Textil- und Elektroindustrie sind billige Arbeitskräfte gefragt, billigere als in Osteuropa. Die sicherte Ben Ali den Partnern zu. Er ging mit harter Hand gegen Islamisten vor und hielt afrikanische Armutsflüchtlinge davon ab, Tunesien als Transitland zu nutzen. Im Gegenzug verließ er sich darauf, dass die europäischen Regierungen, vor allem Frankreichs, Italiens und Deutschlands, die Augen vor den wahren Zuständen im vermeintlichen Musterland schließen würden. Sie ließen sich zudem von dem Argument blenden, Tunesien ginge mit harter Hand gegen Islamisten und afrikanische Einwanderer vor. Menschenrechte waren kein Thema. Unterdessen schoben die Parteibonzen die kaum noch vorhandenen Arbeitsplätze ihren eigenen Kindern zu. Jenseits der Küstenstädte mit ihren schillernden Touristenzentren versank das Land in Perspektivlosigkeit. Es war der Mut der Verzweiflung, der die jungen Tunesier schließlich dazu gebracht hat, die Angst abzuschütteln. Ihr Signal wurde rasch von allen Schichten der Bevölkerung erhört – Anwälte, Lehrer, Ärzte, Gewerkschafter solidarisierten sich mit ihnen: Schluss mit der Unterdrückung, Schluss mit dem Stillhalten! Anwalt Abdelmalik sieht genau wie sie nur einen Ausweg und ist optimistisch:
"Wir brauchen einen Wandel. Die Welt muss erfahren, dass es aufrechte Tunesier gibt, dass es eine Opposition gibt, dass es kluge Leute gibt, Menschen, die sich nach Neuem sehnen, nach Freiheit. In Tunesien gibt es nicht nur die Regierungspartei des Präsidenten, es gibt Parteien, die aber eben massiv unterdrückt werden, deren Mitglieder Verfolgung und Gefängnis ausgesetzt sind, Parteien, die von innen systematisch zersetzt wurden, aber die es dennoch gibt."
Kößler: Tunesische Innenansichten. Claudia Altmann war das mit der Vorgeschichte der tunesischen Revolution, wie sie bereits genannt wird. Sie hören den Deutschlandfunk, die Sendung "Hintergrund". Unser Studiogast ist Isabelle Werenfels, die Nordafrika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik. Frau Werenfels, es ist die Rede von einer Regierung der nationalen Einheit, es ist davon die Rede, alle Kräfte einzubinden, auch die Opposition. Aber wenn man nach 23 Jahren Diktatur von Opposition spricht in Tunesien, wovon redet man dann?
Werenfels: Man spricht von einigen ganz wenigen legalen Oppositionsparteien, die sich aber kaum organisieren konnten und die säkular sind, demokratisch, und dann spricht man von einer großen oder ehemals großen islamistischen Oppositionspartei, die verboten ist – ihr Präsident oder Generalsekretär sitzt in London – und es wird ... man darf, glaube ich, sehr gespannt sein, wie diese Partei wieder eingebunden wird. Die Islamisten sind in Tunesien nie sehr, sehr stark gewesen, sie haben einmal bei Wahlen gut abgeschnitten und wurden danach unterdrückt, das war Ende der 80er-Jahre, und sie gehören auch zu den Fortschrittlichsten in der Region.
Kößler: Das heißt, sie sind nicht so militant wie El Kaida, wie Hamas, wie Hisbollah?
Werenfels: Nein, kann man nicht vergleichen. Und sie haben sich in den vergangenen Jahren auch immer wieder mit der linken Opposition, säkularen Opposition geeinigt in Tunesien auf gewisse Punkte, wie zum Beispiel Frauenrechte, Anerkennung der sehr fortschrittlichen Frauengleichstellung in Tunesien. Also ich glaube, die müsste man einbinden, sonst wird es auch nicht wirklich funktionieren, dass man ein demokratisches Tunesien hat, und ich bin sehr gespannt darauf, ob das jetzt in dieser Übergangsphase geschehen wird oder nicht.
Kößler: Das Schweigen, das man in der offiziellen arabischen Welt, in den Regierungszentralen heute gehört hat, das war schon ausgesprochen laut, Frau Werenfels. Wie werden die Ereignisse in Tunesien bei den Regimen in der Nachbarschaft wahrgenommen?
Werenfels: Also ich vermute, dass die alle relativ nervös werden, die wissen aber auch, dass sie andere Rahmenbedingungen haben . Also wenn wir uns zum Beispiel Algerien anschauen, dann sieht man da, da gibt es mehrere Machtzentren, das ist nicht so personalisiert, da gibt es oft Unruhen. Aber wenn die Leute jetzt auf die Straße gehen in den Massen, in denen sie in Tunesien auf die Straße gehen, und sagen, Bouteflika soll zurücktreten – das ist der Präsident dort –, dann kann der zurücktreten, er kann verreisen, am System wird es nichts ändern, weil es noch die sehr starken Militärs gibt. Und dazu kommt noch, dass sehr viele der anderen Staaten mehr politische Ventile haben. Die haben eine gewisse Pressefreiheit, das heißt, die Leute können sich ein bisschen äußern, können sich ein bisschen Luft verschaffen, das war in Tunesien ja überhaupt nicht möglich. Hier konnten sich nicht mehr als fünf Leute versammeln, die irgendwelche politischen Absichten hatten.
Kößler: Das heißt, man kann Tunesien nicht mit Algerien vergleichen.
Werenfels: Absolut nicht!
Kößler: Das sind zwei Paar Stiefel. Aber wie sieht es mit der Situation in Ägypten aus? In Ägypten kam es heute zu ausgesprochenen Sympathiekundgebungen, auch Ägypten steht am Scheideweg, kurz nach den Wahlen zum Parlament, kurz vor den Wahlen der Präsidentschaft?
Werenfels: Ja, und Ägypten hat auch ein sehr personalisiertes System, aber eben nicht so personalisiert. Ich kann mir vorstellen, es gibt da auch in Ägypten andere Machtzentren, es gibt nicht nur Mubarak. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass sich die Eliten jetzt überlegen, was tun. Was mir relativ sicher scheint, ist, dass sich alle mächtigen Eliten dagegen wehren werden, dass Mubarak seinen Sohn einsetzt, weil das könnte zu einem ähnlichen Szenario führen wie in Tunesien. Es könnte sein, dass jemand wie Mohammed el-Baradei aus der Opposition, der früher die Atomenergieagentur geleitet hat, dass so jemand dann, der auch innerhalb von Teilen des Regimes verankert ist, dass so jemand dann Mubarak entgegengesetzt werden könnte.
Kößler: Was lernen wir aus der Affäre Tunesien, was lernen die Europäer über den Umgang mit Regimen wie das von Ben Ali?
Werenfels: Also erstens, Diktatoren garantieren keine Stabilität. Die Europäer haben den Fehler gemacht, immer wieder, dass sie Staaten wie Tunesien, die – wir haben es gehört in dem Beitrag auch – ein Bollwerk gegen Islamisten, gegen irreguläre Migration darstellen, dass wir solche Regime unterstützt haben in Europa. Ich glaube, man muss sich so ein bisschen auf die europäischen Werte besinnen und auch den Mut haben, zu sagen, wir unterstützen auch Öffnungen, die mit Unsicherheiten verbunden sind oder politische Reformen. Die Europäer sind immer sehr nervös geworden, wenn es um freie Wahlen ging in arabischen Staaten. Ich denke, die Erfahrung mit Hamas, die Europäer wollten Wahlen, danach haben sie es nicht akzeptiert. Also ich denke, das ist einfach nicht weise, diese Politik zu fahren, das hat sich jetzt am Beispiel Tunesiens sehr deutlich gezeigt.
Tunesien vor einer ungewissen Zukunft. Diese Tage sind eine tiefe Zäsur in der Geschichte des Landes und in der Geschichte der gesamten Region. Noch ist dieses Kapitel nicht zu Ende geschrieben, es gibt noch viele Unwägbarkeiten. Niemand weiß, wie es weitergehen wird. Ich bedanke mich bei Isabelle Werenfels, der Nordafrika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, und ich wünsche Ihnen und uns einen schönen guten Abend!