Eine Pandemie wie die gegenwärtige ist, solang man drinsteckt, bedrohlich bis ermüdend. Früher oder später aber wird sie Stoff – als Sujet von Katastrophenfilmen und Setting von Verschwörungsthrillern, als Zutat oder Inspiration von Satiren, Popsongs, Gemälden und Opern. Noch ist es vielleicht zu früh, noch fühlen sich diejenigen, die aus dem Schrecken und der Lähmung einmal Kunst machen werden, selbst zu bedroht oder ermüdet. Und ratlos. Dies vor allem. Wann und wie wird es möglich sein, die Erfahrung schlechthinniger Fremdbestimmung, in die wir uns fügen, der Sorge um das eigene Leben oder das der Nächsten, dem Gemeinwohl und der Vernunft gehorchend, zu deuten als Quelle von Gefühlen, als Reibungsfläche der Fantasie – eben als persönliche Erfahrung, die ein Licht ebenso auf Wünsche und Bedürfnisse wirft wie auf die Verhältnisse?
Alexander Kluge hat damit schon einmal angefangen. Zu seinem 90. Geburtstag erscheinen zwei neue Bücher, in denen der ungeheuer produktive Schriftsteller, Filmemacher, Fernsehproduzent und Öffentlichkeitstheoretiker zahlreiche Fäden aus der Arbeit von mehr als 60 Jahren neu verknüpft. Dabei lässt er sich, wie man es von ihm kennt, von der gesamten Menschheitsgeschichte, ja, von der Geschichte des Universums entzünden. Beide Bücher aber beginnen mit Gegenwärtigstem: dem Virus.
Die Pulk-Intelligenz der Viren
Nimmermüde Neugier ist vermutlich Kluges herausragende Eigenschaft, und so hat er bereits im Frühjahr 2020 Gespräche mit der Virologin Karin Mölling geführt, aus denen in einem der beiden Bücher Passagen wie diese werden:
„Viren, sagte die Virologin – und wies zugleich darauf hin, dass der Ausdruck Virus immer, auch im schärfsten Elektronenmikroskop, eine Menge von einigen Millionen, Milliarden oder auch Billionen von Exemplaren, einen Klumpen – bezeichnet -, sind zur Vergesellschaftung verurteilt. Ein einzelnes Individuum seiner Art lebt nicht lange. Seit Jahrmillionen, wie gesagt: als Pulk, sind sie ,intelligent‘.“
Gut 80 Seiten später greift Kluge den Gedanken der Viren-Intelligenz wieder auf:
„Diese ,intelligente Gewalt‘ hat keinen Plan. Sie resultiert nicht aus der Funktion eines ,Verstandes‘. Die Viren werfen (entweder bei ihrer Teilung durch Fehler in der Weitergabe ihrer Codierung oder während ihrer kurzen Lebenszeit) eigene Moleküle ab und ersetzen sie durch fremde. So ,testen sie‘, berichtet Karin Mölling, ihre Umgebung, zum Beispiel eine Menschenlunge, einen Kälteschauer, eine Türklinke auf positive Antwort auf ihre Anfrage, ihr Bedürfnis nach massenhafter Vermehrung. Die Fraktion, auf welche die Umwelt positiv antwortet, überlebt.“
Alexander Kluge, promovierter Jurist und Arztsohn, nimmt das Virus und seine Möglichkeiten also mit kühler Faszination ins Visier. Unaufgeregt, aber getrieben vom Interesse am Detail der Machtentfaltung im Winzigsten.
Was denkt der Hund an Heiligabend?
Mit vergleichbarer Vorurteilslosigkeit bringt Kluge allerdings auch die Verwirrung des eigenen Hundes zu Heiligabend unter Pandemiebedingungen zur Sprache. Der Vorstellung vom Autor als unbeteiligtem Beobachter widerspricht eine kleine Szene, die sich mit ironischer Empathie in die missverstandene Kreatur hineinversetzt und mit dem schönen Satz überrascht:
„Ein Brocken Rindfleisch, und er wäre mit Jesus versöhnt.“
Dieses Buch, das umfangreichere der beiden, heißt „Das Buch der Kommentare“, Untertitel „Unruhiger Garten der Seele“, und es führt als kleineren Gefährten das zweite Buch, betitelt „Zirkus / Kommentar“ mit sich. Auch hier ist die Realität der Corona-Pandemie – der Todesstoß für die letzten kleinen Wanderzirkusse – Auslöser der Erinnerung wie der Erzählung. Ein poetischer Katalysator, der die verlorene, von der ewigen Gegenwart verdrängte Zeit wiederauffindbar macht:
„Ich war fünfeinhalb Jahre alt. Auf dem Burchardi-Anger: Herbstzirkus. In die Manege wird auf Rädern ein riesenhaftes Aquarium hereingefahren. Vor unseren Augen wird der durchsichtige Behälter mit Wasser gefüllt. Aus Bodenklappen tauchen im Unterwasserbassin Robben auf, durchschwimmen den Pool. Eine Dompteuse (…) ordnet die Robben zu einer Reihe, ähnlich einer Form von Flugzeugen, die eine Übung am Himmel durchführen. Himmel, Wasser, Manege – die Elemente verwirren sich. Ich kann mich für die korrekte Zeugenschaft meiner fünfeinhalbjährigen Augen nicht verbürgen. Ich habe das alles ‚mit den Ohren gesehen‘ (…)“
Die Skizze der Sinneseindrücke setzt sich fort mit charakteristischen Details der Robbendressur und einer Überlegung zur eigentlich unwahrscheinlichen technischen Machbarkeit des riesenhaften Aquariums. Sie schließt mit den Sätzen:
„Das war die ALLMACHT JENER TAGE. Die Wassernummer, die vielleicht eine halbe Stunde dauerte, trage ich in mir, wenn der Shutdown lang wird.“
Dass hier beides nebeneinander Erwähnung findet – das innere Sammelgut eines glücklichen Moments sinnlicher Verwirrung vor mehr als achtzig Jahren und der Begriff menschlich-technischer Allmacht –, ist bezeichnend für ein Lebenswerk in der Tradition der Kritischen Theorie. Als junger Rechtsanwalt war Kluge juristischer Berater des Frankfurter Institut für Sozialforschung und avancierte bald zum engen Vertrauten von Theodor W. Adorno. Diese Prägung verhindert jede Sentimentalität. Kluge weiß, dass ein ungetrübtes Glück auf Dauer nicht vorgesehen ist im Lauf der Geschichte und in der Kunst eine Lüge. Der Fünfeinhalbjährige erlebt zwar im Herbst 1937 etwas, wovon der Neunzigjährige noch in der Eingeschlossenheit der Pandemiemaßnahme erzählen kann, aber nur als unverhofften Kollateraleffekt innerhalb einer riesenhaften Machtdemonstration, die natürlich weit über den Zirkus hinausreicht.
Wo die Rebellion schon immer rumort
Überschrieben ist diese Erzählung lehrsatzhaft mit „Warum ich in den Zirkus als Thema meiner Filme vernarrt bin“. Von da aus erschließt sich bereits, warum die beiden Bücher das Wort „Kommentar“ im Titel führen. Was hier versammelt ist, bezieht sich in einem fort aufeinander und auf früher bereits Verarbeitetes.
Wie beispielsweise in der Allmachtsfantasie Zirkus die Rebellion gegen die Vernunft der Verhältnisse immer schon rumort, hat Kluge in seinen Filmen „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ und „Die unbezähmbare Leni Peickert“ gezeigt. Auch die Arbeit an diesen Zwillingsfilmen von 1968 schließt Kluge neu auf, verbindet sie mit der Erinnerung an seinen zirkusliebenden Vater und die 2017 verstorbene Schwester, die offenkundig auch ziemlich unbezähmbare Schauspielerin und Ärztin Alexandra.
Neue Fakten und alte Fiktionen, aufsteigende Reminiszenzen und aktuelle Beobachtungen, alles wird Kluge zum Anlass, die Gehäuse seines Lebens und Denkens zu erkunden, das „Bauerwartungsland“ – so eine wiederkehrende Lieblingsmetapher – von Individuum und Gesellschaft zu vermessen, weiter und tiefer im Bestand zu graben. Kluge eröffnet seinen Lesern gleich eingangs des „Buchs der Kommentare“:
„Kommentare sind kein lineares Narrativ. Sie berichten vertikal. Sie sind Bergwerke, Katakomben. (…) Die Arbeitsform der Kommentierung liegt näher bei der Idee des Sammelns als bei der Idee des Gestaltens. Sie steht der Poetik der Sammlungen der Brüder Grimm näher als der dramatischen oder der novellistischen Form.“
Im Zweifel für die Fragmentierung
Kommentare seien in diesem Sinn Ausdrucksweisen „kooperierender Öffentlichkeit“, sie respektierten zugleich das Besondere, die Einzelheit, das Prinzip der Fragmentierung und verteidigten diese, so weit reicht Kluges Anspruch, gegen das „bloß allgemein Verfügende“. Später vergleicht er das niemals abgeschlossene Ergebnis der „Arbeitsform“ Kommentar mit Brunnen, die in der Tiefe mit anderen Brunnen verbunden sind:
„In den Wüsten der Sahara, so beschreibt es Fernand Braudel, legen solche unterirdischen Wasseradern gewaltige Strecken zurück und verbinden Oasen. Braudel vergleicht sie mit den ,Flüssen des Unbewussten‘ in uns Menschen.
In den Wüsten des Ichs, sagt er, in der organisierten Gleichgültigkeit der Objektivität, dem Einerlei des Egos, sind solche Wasser die Adern der Lebendigkeit.“
Unter dem Rubrum „Kommentar“, wie Kluge es versteht, hat ganz Unterschiedliches Platz. Die 170 Seiten „Zirkus / Kommentar“ bilden ein eher spielerisches Panorama, in dem allerdings Schwergewichtiges seinen Auftritt hat: Zoo- und Zirkus-Elefanten, deren Urvertrauen der Mensch entgilt, indem er sie verbrennen lässt, das Spektakel der Französischen Revolution zwischen Festwagen und Schinderkarren, der Luftzirkus der Bomberpiloten im Zweiten Weltkrieg, „Völkerschauen“ mit vorgeblichen Kannibalen und nicht zuletzt all das, was den Zirkus selbst bedroht: Krieg, Faschismus, Systemwechsel. Zu den Texten gesellen sich Abbildungen, Fotos und Filmstills, grafische Darstellungen von Wortfeldern, dazu QR-Codes, die Links auf die charakteristischen Filmtriptychons von Kluges Produktionsfirma dctp.tv aufschließen.
Ein denkwürdiges Stück Fernsehgeschichte
Hinter einem dieser Links verbirgt sich ein bemerkenswertes Stück Fernsehgeschichte: der mehr als zweistündige Mitschnitt einer wundersam entgleisenden Diskussionsrunde von 1970. Der Westdeutsche Rundfunk hatte im Dritten Fernsehprogramm eine Reihe von Kluges Filmen, darunter „Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ gezeigt, und zum Abschluss sollte der Filmemacher sich mit dem Moderator und zwei weiteren Cinéasten unter dem Sendungstitel „Film und Gesellschaft“ austauschen. Das Gespräch wogte vierzig Minuten lang erregt und wenig ergiebig hin und her, bis der zuständige Redakteur Georg Alexander dem Moderator einen Zettel reichte. Die Folge: kurze Unterbrechung, gegenseitige Vorwürfe der Manipulation.
„Alexander Kluge: 'Ich muss Ihnen ganz hart etwas sagen, Herr Alexander. Ihre Methode, ja, ich meine, das fängt ja nicht hier an, ja, ist wirklich unmöglich, ja.'
Georg Alexander: 'Das finde ich von Ihrer auch, Herr Kluge. Sie haben sich hier vorher schon, bevor die Kameras gelaufen sind …'
Kluge: 'Ja … '
Alexander: '… haben Sie versucht, alle diese Leute hier … äh … abzubringen von bestimmten Themen …'
Kluge: 'Das sind doch keine dummen Jungs, die von Ihnen bevormundet werden müssen, um sich zu verteidigen!'
Alexander: '… was geredet würde, ja?'
Kluge: '… ja weil es über manche Themen technisch nicht möglich ist … wir können ja nicht über Gott und die Welt reden!'
Alexander: 'Es ist wirklich schade, dass es nicht weiterläuft …' “
Georg Alexander: 'Das finde ich von Ihrer auch, Herr Kluge. Sie haben sich hier vorher schon, bevor die Kameras gelaufen sind …'
Kluge: 'Ja … '
Alexander: '… haben Sie versucht, alle diese Leute hier … äh … abzubringen von bestimmten Themen …'
Kluge: 'Das sind doch keine dummen Jungs, die von Ihnen bevormundet werden müssen, um sich zu verteidigen!'
Alexander: '… was geredet würde, ja?'
Kluge: '… ja weil es über manche Themen technisch nicht möglich ist … wir können ja nicht über Gott und die Welt reden!'
Alexander: 'Es ist wirklich schade, dass es nicht weiterläuft …' “
Die Aufnahme lief dann doch weiter, inklusive Diskussion und Abstimmung unter den im Studio anwesenden Mitarbeitenden von Regie und Technik. Sie behielt aus heutiger Sicht auf weite Strecken den Charakter eines Streits um Kaisers Bart beziehungsweise die „richtige“ Theorie und Praxis kapitalismuskritischen Filmschaffens – und wurde am Ende in voller Länge gesendet. Alexander Kluge brachte sie später unter dem Titel „Reformzirkus“ auf DVD heraus. Wie Fernsehen aussehen sollte, konnte er selbst dann ab 1988 zeigen, in der Kulturkonterbande, die er ins Privatfernsehen geschmuggelt hatte: Formaten wie „News & Stories“, „Primetime / Spätausgabe“ oder „10 vor 11“.
Wundertüte und Stationenweg
Das gewichtige Gegenstück zur Wundertüte „Zirkus / Kommentar“ ist das „Buch der Kommentare“. Neben den Früchten der Gespräche, die Alexander Kluge zu Beginn der Pandemie mit der Virologin Karin Mölling geführt hat, geben hier zwei weitere große Komplexe Anlass zu umfangreicher Kommentar-Arbeit. Sie könnten gegensätzlicher nicht sein.
Der eine ist die nicht nur für Intellektuelle verstörende Erfahrung der Präsidentschaft von Donald Trump und ihres Endes. Am 6. Januar 2021 sitzen wie wohl überall in der westlichen Welt in einer Münchner Wohnung mit Blick auf den Park Alexander Kluge und seine Frau vor dem Fernseher und können den Blick nicht von CNN wenden, während ein gewaltbereiter Mob, teils in grotesken Kostümen, ins Washingtoner Capitol eindringt und um ein Haar seine brachialen Drohungen gegen gewählte Volksvertreter wahrmachen kann. Wie schon in der nicht enden wollenden Wahlnacht, zwei Monate zuvor, hält sich Kluge an einen Satz von Adorno:
„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht, sich dumm machen zu lassen.“
Die Kostümierten im Capitol, ruchlos
An die Geltung dieses Satzes zu glauben, erfordere, wie Kluge weiter schreibt, „Schwerstarbeit der Phantasie“. – Man könnte auch sagen, der politischen Vorstellungskraft. Die führt bei Kluge zu einem Blick auf die Dinge aus einer Art Vogelperspektive.
„Es ist ein Irrtum, dass im Prachtbau der Gesetzesmacher, dem Capitol, sich die Macht der USA mit menschlichen Fäusten und Füßen erobern lässt. Diese Macht der USA ist längst digitalisiert und war immer schon im Lande verteilt. In einem im Baustil Roms errichteten Gebäude lässt sie sich nicht unterbringen.“
Das könnte auf paradoxe Weise tröstlich sein, wenn es nicht so unheimlich wäre. Auch die Entlastung durch ästhetizistische Kritik am Erscheinungsbild der Randalierer ist nur vorläufig:
„Die KOSTÜMIERTEN REBELLEN (…) zerschlagen Fenster, dringen in die Räume ein, besetzen Sessel und das Mobiliar, erkunden das seltsame Schloss. Ich glaube nicht einmal an die Wut, von der die Szene handelt. Sie sind als Schauspieler nicht professionell.“
Tatsächlich geht es Kluge um anderes:
„Sie kommen nicht aus alter Zeit. Unruhig beseelt sind sie vom Jetzt. Voll automatisierter, ganz heutiger Energie!“
In den als Rebellen Kostümierten verkörpert sich, um es mit dem Titel eines anderen Films von Alexander Kluge zu sagen, „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“: die Gewalt, die in Zeiten „alternativer Fakten“ allem moralischen Gefühl des einzelnen und aller historischen Wahrheit angetan wird.
Kommentatoren als Kontextproduzenten
Der andere große Gegenstand der Narrationsform Kommentar ist Kluges Lektüre des jüngsten und vielleicht letzten Werks seines drei Jahre älteren Weggefährten und Gesprächspartners Jürgen Habermas: „Auch eine Geschichte der Philosophie“. Neben vielerlei anderem bezieht Kluge aus diesem 2300 Jahre umfassenden Überblick den Ursprung seines Begriffs vom Kommentator. Seit der Gründung der Universitäten von Bologna und Paris im zwölften Jahrhundert erweiterten die juristischen Kommentatoren von Gesetzessammlungen ihre Aufgaben deutlich, verglichen mit den Glossatoren, die sich auf Anmerkungen und Erklärungen beschränkt hatten. Die neue Schule der Kommentatoren führte das seit den Zeiten des Kaisers Justinian codifizierte Zivilrecht an die herrschende Rechtspraxis heran, verflüssigte und verjüngte es, schuf Kontext.
„Den KOMMENTATOREN geht es um die Herstellung eines neuen Zusammenhangs.“
Das „Buch der Kommentare“ ist mit Reproduktionen von Kunstwerken, etwa von Gerhard Richter und Sigmar Polke, mit Tafeln und QR-Codes ebenso multimedial wie der „Zirkus / Kommentar“, gliedert aber seine vierhundert Seiten in zwölf Stationen plus ausführlichem Anhang. Er bietet zahlreiche Anregungen zum Weiterlesen in Kluges älteren Sammlungen, die ja ebenfalls – wie die zur Jahrtausendwende erschienene „Chronik der Gefühle“ – frühere Arbeiten enthalten.
Die Frage drängt sich auf, wie die Kommentare als Form der Narration sich von Kluges Erzählen etwa in den „Chronik“-Bänden unterscheiden. Vielleicht besteht die Antwort lediglich in einer Steigerung des Verfahrens, in der Erhöhung der Reaktionsenergie. Zu dieser Energie muss die Leserin allerdings einiges beitragen:
„Ich rate (das bezieht sich auf meine Bücher) zu Folgendem: In der Regel stehen die Geschichten eines Kapitels in einem inneren Zusammenhang, der sich nicht aus den Überschriften oder sonst äußerlich feststellen lässt. Sie haben einen Subtext. Wenn der Leser also Freundschaft geschlossen hat mit einem Wort (es ist ihm aufgefallen, er hat es in seiner Erinnerung verankert), dann soll er das Wort im Kopf haben, wenn er eine der umstehenden vorherigen oder nächsten Geschichten liest. Das Wort verändert sich, und die Geschichten ebenso, die mit dem fremden Wort im Kopf gelesen werden.“
Einladung in die Gehäuse der Seele
Sich den untergründigen Zusammenhang dieser Brunnen zu erschließen, wird glücklicherweise dadurch erleichtert, dass die Kommentare in Textform mitnichten allein Tagebuchnotizen, Gesprächsprotokolle oder essayistische Skizzen umfassen, sondern eben auch zahlreiche Erinnerungsbilder. Die Räume des 1945 zerbombten, fast schon großbürgerlichen Elternhauses in Halberstadt erstehen wieder als Gehäuse der Seele. In der eigenen Kopfgrippe, in einer Infektion des Vaters mit der Ruhr spiegeln sich die Pandemien, die Cholera des 19. Jahrhunderts ebenso wie die Corona-Wellen dieser Tage. All dies ist eine Einladung, diese Bücher nicht von vorn nach hinten zu lesen, sondern in ihnen lesend herumzuflanieren.
Zuweilen nimmt Kluge so etwas wie posthume Legendenbildung souverän vorweg. Etwa, wenn er erzählt, wie er vor sieben Jahren wegen sich häufender Tagträume am Steuer das Autofahren aufgab. In den sechziger Jahren hatte er nach dem Vorbild seines Freundes Edgar Reitz einen Citroen gekauft, aber nicht, wie dieser, eine schicke „Deesse“, sondern einen pragmatischeren Kombi, mit dem er umgehend zwei Unfälle mit Blechschäden baute.
„Tatsächlich war die Idee des Autofahrens, was die Innenausstattung meiner Person betrifft, bereits ein Phantasma. Während Edgar Reitz wirklich ein ,geborener Autofahrer‘ ist, war ich stets ein sicherer Fahrer nur auf dem Fahrrad.“
Wie es ist, sehr alt zu werden
Wie die Geschichte von der Irritation des Hundes an Heiligabend widerlegt diese die Auffassung, Kritische Theorie schließe zwangsläufig das Komische aus und die fleißige Ernsthaftigkeit seiner Arbeit lasse bei Alexander Kluge keine Selbstironie zu. Freilich ist solche Selbstironie – neben Wissbegier und Erfahrungsvirulenz – wohl eines der Mittel, die krisenhafte Selbsterfahrung des sehr hohen Alters, von der im „Buch der Kommentare“ viel zu erfahren ist, erträglich zu halten.
„Das Murmeln der Pilotfische“, so ist die letzte der zwölf Stationen, die nichts von einem schicksalsergebenen Kreuzweg haben, überschrieben. Die Pilotfische mit ihrer erregbaren Haut – einer eingebauten Alarmanlage – leben in Symbiose mit den großen Räubern der Meere, im Maul der Haie, und gelten als hervorragende Navigatoren. Als Pilotfisch versteht Alexander Kluge sich immer noch. Und wenn es nicht die großen Räuber sind, denen er die Orientierung ermöglicht, so sind es seine Leser doch allemal.
Alexander Kluge: „Zirkus /Kommentar“
Suhrkamp Verlag, Berlin. 176 Seiten, 28 Euro.
Alexander Kluge: „Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele"
Suhrkamp Verlag, Berlin. 400 Seiten, 32 Euro.
Suhrkamp Verlag, Berlin. 176 Seiten, 28 Euro.
Alexander Kluge: „Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele"
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