"Jetzt fahren wir dorthin, wo der Durchbruch beim 'Paneuropäischen Picknick' war. Dorthin, wo die Ostdeutschen am 19. August 1989 die Grenze durchbrachen. Hier von Sopron-Köhida gibt es eine etwa drei Kilometer lange Straße."
László Magas biegt in die kleine Straße ein, hält an einer Sperre. Ein Bauarbeiter kommt aus der Bauhütte, tritt ans Fenster, er rät zur Vorsicht, die Straßengräben seien tief. Es regnet.
Magas hat eine Sondergenehmigung, um die Straße zu benutzen, die gerade erneuert wird. Der einstige Organisator des Paneuropäischen Picknicks hat viel zu tun in diesem Jahr – zum 30. Jahrestag war auch Angela Merkel da. Der Bauarbeiter räumt das Gatter beiseite, weiter geht es im Regen in Richtung Österreich.
"Als der Eiserne Vorhang errichtet wurde 1947 – da haben sie diese Straße gesperrt. Bis 1989 waren hier viele Schlaglöcher. Der Eiserne Vorhang verlief nicht an der Landesgrenze, sondern drei Kilometer vorher. An der Grenze gab es ein Meldesystem. Wenn hier jemand rüber wollte, gab es genug Zeit, um die sogenannten Grenzverletzer zu schnappen."
Ungarn war Treffpunkt der Ost- und der Westdeutschen
Zur linken Hand erstreckt sich eine Busch-bestandene Ebene. Grenzer sind hier heute nicht mehr. Österreich und Ungarn sind längst zusammengewachsen. Pendler überqueren die Grenze jeden Tag. Wo früher der Eiserne Vorhang verlief, gibt es heute einen europäischen Radweg. Vor 30 Jahren sind hier einige Hundert Ostdeutsche entlang gekommen, erzählt der 70-jährige Zeitzeuge:
"Ungarn war der Treffpunkt der Ostdeutschen und ihrer westdeutschen Verwandten. Sie haben zusammen am Plattensee Urlaub gemacht. Und im Sommer 1989, als der Eiserne Vorhang abgebaut wurde, bekamen sie das mit, mit dem Ziel: Nach dem Urlaub gehen sie nicht zurück. In den Flüchtlingscamps bekamen auch sie die deutschsprachigen Plakate in die Finger und schon am Morgen brachen sie auf nach Sopron."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Ungarn und Europa - 30 Jahre Umbruch.
In Soprons Innenstadt gibt es einen kleine Freiluft-Ausstellung: Ein Wachturm steht da, ein Trabant, das Original-Tor, stacheldrahtbewehrt. Im Hotel liegen die Originalflugblätter als Kopien zum Mitnehmen aus.
László Magas hält auf dem Parkplatz der Gedenkstätte. Ein Informationspavillon ist dort mittlerweile entstanden. Er deutet hinter sich: "Hier drüben ist schon Österreich." Eine offene Tür aus Granit und Marmor symbolisiert die Grenzöffnung. An der Klinke hängt ein Gebinde in den Nationalfarben rot-weiß-grün, am steinernen Türstock die Farben der EU: blauer Grund, Sternenkranz. "Hier war das Tor, das die Ostdeutschen durchbrochen haben."
"Wir wurden eine immer lautere Opposition"
Magas zeigt rundherum: auf den Gedenkpark, den Weg, wo früher der Eiserne Vorhang verlief, einen geschnitzten Holzpfahl, typisch siebenbürgisch, eine große Steinskulptur. Wir gehen zu einem überdachten Pavillon, um uns vor dem Regen zu schützen. Der Forstwirt legt einen Fotoband auf den Tisch im Pavillon: Schwarz-weiß-Bilder. Ostdeutsche, die die Grenze durchbrechen, Politprominenz am Zaun. Magas erzählt von der Wendezeit, er war damals beim "Ungarischen Demokratischen Forum" engagiert, einer national-konservativen Oppositionspartei. Sie ist im "Fidesz" aufgegangen, der Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán.
"1989 kann man das Jahr der Wunder nennen. Wir hier in Sopron wurden damals eine immer lautere Opposition gegen die Kommunisten. Der Zündfunke war damals die Wiederbestattung von Imre Nagy und seinen Märtyrer-Kollegen. Und damals hat ein junger 26-Jähriger namens Viktor Orbán gefordert, die Russen müssten das Land verlassen. "
Heldengeschichten über Viktor Orbán
Ab da war die Entwicklung nicht mehr zu bremsen, sagt Magas. Und ab hier spricht der Fidesz-Politiker, der Magas mittlerweile ist. Er erzählt eine Heldengeschichte von Viktor Orbán, der sich gerne als Freiheitskämpfer inszeniert. Doch der eigentliche Zaunöffner 1989 war der frühere Ministerpräsident Miklós Németh. Der frühere Reformkommunist war aber zum 30. Jubiläum des Picknicks in diesem Jahr gar nicht eingeladen.
Solange wir über das Picknick und die Wendezeit sprechen, ist der Fidesz-Politiker freundlich zugewandt. An dem Ort, an dem wir stehen, hat der heutige Ministerpräsident Viktor Orbán vor fünf Jahren die Abkehr vom Westen beschworen. Ich frage Magas danach.
"1989 schauten wir staunend zum Westen auf. Nicht nur auf die persönlichen Freiheiten, sondern auch auf den Wohlstand, den der Westen symbolisierte." Die Verlierer des Zweiten Weltkrieges – wie Deutschland - hätten den Marshall-Plan gehabt und sich entwickelt. Ungarn dagegen habe unter dem Joch der Sowjets gelitten, sagt Magas mit einem bitteren Unterton. "Seitdem sind 30 Jahre vergangen – und heute sehen wir vieles anders."
Als Fidesz-Politiker im Verteidigungsmodus
Magas blättert weiter im Buch, zeigt Fotos. Merkel. Die ostdeutschen Grenzgänger. Die neuen Themen – der Ausverkauf der ungarischen Wirtschaft an die Multis, der Streit mit Brüssel, all das regt ihn sichtlich auf, seine Stimme wird gepresster. Die Stimmung angespannter. Der Fidesz-Politiker Magas ist im Verteidigungsmodus. Die Grenzanlagen an den Übergängen nach Österreich sollen bis zum nächsten Jahr abgebaut sein. Den Eisernen Vorhang hat Magas vor 30 Jahren in Zehn-Zentimeter-Stücken an die Besucher des Picknicks verteilt. Heute steht ein neuer Zaun im Süden des Landes, Ministerpräsident Orbán warnt im Radio vor einer neuen Flüchtlingswelle. Wie passt das für ihn zusammen?
"Das passt ganz einfach zusammen: Wenn wir nicht die Grenze der Europäischen Union errichtet hätten, dann hätte Österreich hier an der Grenze zwischen zwei EU-Staaten schon längst wieder eine neue Grenze errichtet. Das konnten wir verhindern, indem wir einen Zaun an der Grenze der Europäischen Union errichtet haben."
Das Europa des László Magas ist christlich
Es geht also um die ungarischen Pendler. Magas weiß, dass gerade aus der Grenzstadt Sopron und Umgebung jeden Tag viele Ungarn zum Arbeiten nach Österreich fahren – weil sie dort das Dreifache verdienen. Im Auto haben wir darüber gesprochen. An den Straßen, die nach Sopron führen, werben Zahnärzte auf deutsch-sprachigen Plakaten für Implantate und schöne Zähne. Die ganze Region profitiert von der offenen Grenze.
"1989 haben wir eine kleine Schrift veröffentlicht. Dort haben wir die Einheit Europas als Ziel formuliert. Diese Schrift hat auch heute noch ihren Platz. Auch heute kann es ein freies und einiges Europa geben, dann, wenn es seine europäische Identität schützt. Und das bedeutet für mich: Entweder ist Europa christlich, oder es wird nicht sein. "
In diesem Weltbild haben muslimische Migranten keinen Platz. Der Fidesz-Politiker Magas möchte keine Fremden in Ungarn haben, es sei eine größere Sünde, Terroristen und Kriminelle nach Europa zu lassen, als einen Zaun zu bauen, ereifert sich der 70-Jährige.
Schimpfen auf die Landsleute im EU-Parlament
Dann schwärmt er von der "guten alten Zeit" – vor 30 Jahren – sagt er, habe er mit Politikern aller Couleur selbst nach hartem politischen Streit noch ein Bier trinken können. Das sei heute unmöglich. Die Schuld sucht er beim politischen Gegner: "Im Europaparlament überbieten sich die Oppositionspolitiker darin, ihre eigene Heimat mit Dreck zu bewerfen. Als ich Student war, nannte man so etwas 'Vaterlandsverräter'."
Die Opposition verrate die Heimat, die einzigen Patrioten säßen in seiner Partei, der Westen höre Ungarn nicht zu, sagt Magas – der Mann, der vor 30 Jahren für die Freiheit kämpfte, ist heute ein linientreuer Fidesz-Parteisoldat. "Wer die eigenen Parteiinteressen über die des eigenen Landes stellt, ist für mich ein Vaterlandsverräter."
Genau das wirft die Opposition der Regierung von Ministerpräsident Orbán auch vor. Er, seine Familie, seine Partei verfolgten nur eigene Interessen. Ungarn gilt laut Transparency International als einer der korruptesten EU-Mitglied-Staaten.