War es so? Per Holm weiß das so wenig wie all die anderen, aber er traut den offiziellen Bulletins nicht. Wenn Journalisten ihre Theorien nicht beweisen können, schreiben sie Romane. "Docu-Fiction" mit vielen Fakten und magerer Psychologie, das Herzblut steckt in der Recherche, nicht in der Personenführung, und die Konstruktion wird von der Realität vorgegeben. Gewiß, das tragische Unglück birgt einen Stoff, einen großen sogar, aber man muß sich ihn zurechtbiegen, und für künstlerische Freiheiten liegen die Geschehnisse offensichtlich zu kurz zurück. So bleibt dieses in den Personen nur notdürftig fiktionalisierte Epos ein Materiallager für spätere Schreibergenerationen, die sich etwas trauen dürfen. Gewagt – aber denkbar – die Verschwörungshypothese Holms: Die "Estonia" trug einen LKW mit gestohlenen Kernbrennstäben an Bord. Weil in Stockholm aber bereits die Zollfahndung wartete, beschlossen die Schmuggler, den LKW auf hoher See zu entsorgen. Im Buch schwammig umschrieben, erscheint diese Szene höchst phantastisch: Bei fünf Meter hohen Wellen hätten auch absolute Laien sofort gemerkt, daß die mit Hochklappen des Visiers und Absenkung der Laderampe verbundene Aktion auf reinen Selbstmord hinauslief. Wahrscheinlicher ist die aktuellste, von Unterwasservideos gestützte Vermutung, nach der die "Estonia" von mehreren Sprengsätzen beschädigt wurde. Das läßt genügend Raum für Spekulationen, denn warum – warum jemand dieses Schiff mit über tausend Passagieren versenken wollte, bleibt weiterhin ungeklärt. Es wird noch viele Romane über den Untergang der Estonia geben.
Der Untergang der Estonia
In der Nacht vom 28. auf den 29. September 1994 ging es über dem baltischen Teil der Ostsee nicht gerade gemütlich zu. Ein schwerer Herbststurm fegte über das oft unterschätzte Binnenmeer und trieb fünf Meter hohe Wellen vor sich her. Der Kapitän des Fährschiffs "Estonia" fuhr dennoch volle Kraft voraus; im Straßenverkehr würde man dies "unangepaßte Geschwindigkeit" nennen. Der Rest ist traurige Geschichte – die der größten europäischen Schiffahrtskatastrophe seit Ende des 2. Weltkriegs. 852 Menschen, fast zwei Drittel von Besatzung und Passagieren, büßten in den kalten Ostseefluten für Schlamperei und Unachtsamkeit ihr Leben ein. Aber hier muß man schon innehalten. Als die internationale Havariekommission drei Jahre später ihren Abschlußbericht vorlegt, kann sie mit den darin festgeschriebenen Schuldzuweisungen an die schwedische Reederei, die estnische Besatzung, eine französische Sicherheitsfirma und die deutsche Meyer-Werft die grassierenden Verschwörungstheorien kaum entkräften. Zu viele Merkwürdigenkeiten bleiben unaufgeklärt, allen voran die Frage, warum gleich drei Staaten, Estland, Schweden und Finnland, ein Sondergesetz erließen, das ihren Bürgern verbietet, sich dem Schiffswrack zu nähern. Verdächtiger noch, machte man alle Anstalten, den in achtzig Metern Tiefe liegenden Stahlkoloss mit einer an Tschernobyl gemahnenden Betonhülle zu ummanteln. Um die Totenruhe zu bewahren? Skeptiker wiesen auf die ungeheuren Kosten eines solchen Unterfangens hin, das prompt nach einigen Kiesladungen abgebrochen wurde. Eine Hebung – die bis heute keine offizielle Stelle will – wäre billiger gekommen.
War es so? Per Holm weiß das so wenig wie all die anderen, aber er traut den offiziellen Bulletins nicht. Wenn Journalisten ihre Theorien nicht beweisen können, schreiben sie Romane. "Docu-Fiction" mit vielen Fakten und magerer Psychologie, das Herzblut steckt in der Recherche, nicht in der Personenführung, und die Konstruktion wird von der Realität vorgegeben. Gewiß, das tragische Unglück birgt einen Stoff, einen großen sogar, aber man muß sich ihn zurechtbiegen, und für künstlerische Freiheiten liegen die Geschehnisse offensichtlich zu kurz zurück. So bleibt dieses in den Personen nur notdürftig fiktionalisierte Epos ein Materiallager für spätere Schreibergenerationen, die sich etwas trauen dürfen. Gewagt – aber denkbar – die Verschwörungshypothese Holms: Die "Estonia" trug einen LKW mit gestohlenen Kernbrennstäben an Bord. Weil in Stockholm aber bereits die Zollfahndung wartete, beschlossen die Schmuggler, den LKW auf hoher See zu entsorgen. Im Buch schwammig umschrieben, erscheint diese Szene höchst phantastisch: Bei fünf Meter hohen Wellen hätten auch absolute Laien sofort gemerkt, daß die mit Hochklappen des Visiers und Absenkung der Laderampe verbundene Aktion auf reinen Selbstmord hinauslief. Wahrscheinlicher ist die aktuellste, von Unterwasservideos gestützte Vermutung, nach der die "Estonia" von mehreren Sprengsätzen beschädigt wurde. Das läßt genügend Raum für Spekulationen, denn warum – warum jemand dieses Schiff mit über tausend Passagieren versenken wollte, bleibt weiterhin ungeklärt. Es wird noch viele Romane über den Untergang der Estonia geben.