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Der Untergang einer Epoche

Einen sizilianischen Fürsten kann nichts aus der Ruhe bringen. Schon gar nicht ein Feuerkopf namens Garibaldi, der ein Heer von Freiwilligen um sich versammelt, die Bourbonen von der Insel vertreiben will und für die Einheit Italiens kämpft. Einen sizilianischen Fürsten wie Don Fabrizio Salina kann erst recht nichts aus der Ruhe bringen, denn sein Geschlecht hat sich seit Jahrhunderten mit ausländischen Machthabern arrangiert. Ob Griechen, Normannen, Araber, Franzosen oder Spanier, alle waren auf seine Familie angewiesen. Ohne die alteingesessenen Feudalherren hätte Anarchie geherrscht. Zum Ausgleich behielt die Aristokratie ihre Privilegien und pflegte einen kultivierten Müßiggang. Warum sollte es also dieses Mal, im Frühjahr 1860, anders sein? Don Fabrizio ist ein Ehrfurcht gebietender Mann, hünenhaft, scharfsinnig, ein verdienter Astronom und ein allseits respektierter Familienvorstand mit einer Raubkatze auf dem Wappen. Vom täglichen Rosenkranz bis hin zu den ausgedehnten Mahlzeiten unter den Deckenfresken des Stadtpalastes, von den belanglosen Plaudereien der Töchter, den Spaziergängen durch den Garten mit dem Hund Bendicò, den hysterischen Anfällen der bigotten Fürstin bis hin zu seinen eigenen nächtlichen Eskapaden hat sich mit Garibaldis Freiheitskampf für Don Fabrizio nichts geändert. Nur sein geliebter Neffe Tancredi legt Extravaganzen an den Tag.

Von Maike Albath |
    Am nächsten Morgen beleuchtete die Sonne eine frischen, munteren Fürsten. Er hatte den Morgenkaffee getrunken und rasierte sich im schwarzgeblümten roten Morgenmantel vor dem kleinen Spiegel. Bendicòs großer Schädel ruhte auf seinem Pantoffel. Als er die rechte Wange rasierte, sah er im Spiegel das Gesicht eines Jünglings hinter sich, ein schmales adeliges Gesicht mit spöttisch besorgt blickenden Augen. Er wandte sich nicht um und rasierte sich ruhig weiter. "Tancredi, was hast du angestellt letzte Nacht?" "Guten Tag, Onkel. Was ich angestellt habe? Rein gar nichts: ich war mit den Freunden zusammen. Eine heilige Nacht. Nicht wie gewisse meiner Bekannten, die sich in Palermo herumgetrieben haben." Don Fabrizio konzentrierte sich darauf, den heiklen Hautstreifen zwischen Lippe und Kinn zu rasieren. In der leicht näselnden Stimme des jungen Mannes schwang so viel jugendlicher Übermut mit, dass es unmöglich war, wütend zu werden.

    Ironisch präsentiert Giuseppe Tomasi di Lampedusa, letzter Abkömmling einer adligen Familie, die selbstgenügsamen Gepflogenheiten seiner Gesellschaftsklasse. Sein einziger Roman Der Leopard, posthum 1958 in Italien erschienen und jetzt in einer erweiterten Neuübersetzung unter dem Titel Der Gattopardo herausgekommen, ist ein Epochenwerk: während die Zeitläufte Sizilien einholen und sich die historische Chance der italienischen Einigung bietet, sorgt sich der Fürst um einen Fleck auf seinem Gilet und geht auf die Jagd. Aber Don Fabrizios Neffe Tancredi Falconeri, ein mittelloser junger Charmeur mit taktischem Geschick, weiß die Zeichen der Zeit zu deuten:

    "Du bist wahnsinnig, mein Sohn! Dich mit diesen Leuten einzulassen! Alles Mafiosi und Betrüger. Ein Falconeri muss auf unserer Seite sein, für den König!" Die Augen funkelten spöttisch. "Für den König, gewiss, aber für welchen König?" Der junge Mann hatte eine seiner jähen Anwandlungen von Ernsthaftigkeit, die ihn undurchschaubar und um so liebenswerter erscheinen ließen. "Wenn wir nicht auch dabei sind, bescheren die uns die Republik. Wenn alles so bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?" Er umarmte leicht gerührt den Onkel. "Auf bald. Ich kehre mit der Trikolore zurück.

    Tancredi ist ein Sendbote der Umwälzungen, und sein Ausspruch, alles müsse sich ändern, damit alles beim Alten bliebe, wurde in Italien zum geflügelten Wort. Gattopardismo nennt man in Anlehnung an den Romantitel das passive Beharren auf den Gegebenheiten bei oberflächlichem Aktionismus. Hellsichtig hat Tomasi di Lampedusa damit ein Prinzip der italienischen Politik formuliert. Aber Der Gattopardo geht weit darüber hinaus: mit seinem grandiosen Sizilienfresko, den farbenprächtigen Schilderungen der Paläste, Gärten und Landschaften und den subtilen Charakterstudien liefert Tomasi eine Interpretation des Risorgimento aus sizilianischer Perspektive. 1860 tritt ein neuer Menschenschlag auf den Plan: korrupte Verwalter, die Bauern und Tagelöhner unterdrücken und sich an den landwirtschaftlich desinteressierten Feudalherren bereichern. Don Calogero Sedára heißt das Exemplar dieser Spezies, mit dem sich der Fürst auseinander setzen muss. Als sich die Familie wie jedes Jahr für drei Monate auf den Landsitz nach Donnafugata zurückzieht, wo der skrupellose Don Calogero inzwischen zum Bürgermeister aufgestiegen ist, wird er nach alter Sitte zum Diner geladen. Wie bei einem ungehobelten Neureichen nicht anders zu erwarten, begeht er einen fürchterlichen Fauxpas.

    Der Fürst hatte immer Wert darauf gelegt, dem ersten Abendessen in Donnafugata einen feierlichen Charakter zu verleihen: die Kinder unter fünfzehn waren vom Tisch verbannt, französische Weine wurden kredenzt, das Orangensorbett wurde vor dem Braten gereicht, und die Diener trugen Kniehose und gepuderte Perücke. Nur in einem Punkt machte er ein Zugeständnis: Er verzichtete auf den großen Gesellschaftsanzug, um die Gäste nicht in Verlegenheit zu bringen, die, natürlich, keinen besaßen. An jenem Abend also erwartete die Familie im so genannten Leopoldssalon die letzten Gäste. Die Petroleumlampen unter den Spitzenschirmen verbreiteten gelbe Lichtkegel; die riesigen Reiterporträts der verstorbenen Salina waren nur noch imposante Bilder, verschwommen wie die Erinnerung an sie. Don Onofrio mit Gattin war bereits da und auch der Dekan, der zum festlichen Anlass das von den Schultern abwärts plissierte Radmäntelchen angelegt hatte und sich mit der Fürstin über die endlosen Erbstreitigkeiten im Ausschuss des "Colleggio Maria", einer Stiftung für mittellose junge Waisen, unterhielt. Auch don Ciccio, der Organist, war eingetroffen und frischte mit dem Fürsten Erinnerungen an spektakuläre Jagdbeuten in den Dragonerschluchten auf. Alles war friedlich und wie immer, als Francesco Paolo, der sechzehnjährige Sohn, unziemlich in den kleinen Salon platzte: "Papa, don Calogero kommt die Treppe hinauf. Er ist im frack".

    Ein derartiger Verstoß gegen die Etikette schockiert Don Fabrizio mehr als die Landung Garibaldis auf Sizilien - sich feiner zu kleiden als der Fürst, wie beschämend! Dass das nachlässig rasierte Männlein nur die lachhafte, schlecht geschnittene Kopie eines Fracks am Leibe trägt, versteht sich von selbst. Mit vibrierender Boshaftigkeit schildert Tomasi den Auftritt Don Calogeros, um ihn im nächsten Moment mit dem Erscheinen seiner Tochter Angelica zu kontrastieren. Denn Angelica versetzt den Fürsten abermals in Aufregung. Doch jetzt ist der alte Schwerenöter von der Schönheit des Mädchens ergriffen, die auch Tancredi sofort zu Kopf steigt. In einem florentinischen Mädchenpensionat erzogen, versteht die grünäugige Angelica ihr Kapital geschickt einzusetzen. Was wie eine liebenswürdige Familienposse daher kommt, ist in Wirklichkeit hochpolitisch. Denn auch hier lässt Giuseppe Tomasi di Lampedusa seinen allwissenden Erzähler, der sich mit behaglicher Ironie über seine Figuren beugt und wie ein gestrenger Vater über sie urteilt, zum Beobachter einer unerhörten Begebenheit werden. Tancredi wird Angelica nämlich heiraten, und das wäre einige Jahre zuvor wegen unüberwindbarer Klassenschranken noch undenkbar gewesen. Skandalös ist nicht allein die Eheschließung, skandalös ist der damit verbundene Aufstieg Don Calogeros ins Zentrum der Macht, und zwar nur durch ein Mittel: Geld. Mit unredlich erwirtschafteten Reichtum konnte er Güter verarmter Adliger erwerben, seine Position im Dorf stärken und seine Tochter angemessen erziehen lassen, was ihm den Zutritt zu einer neuen Sphäre ermöglicht. Don Calogero ist der Prototyp eines mafiosen Aufsteigers. Leute wie er füllen ein gesellschaftliches Vakuum; mit allen Wassern frühkapitalistischer Ausbeutung gewaschen, profitieren sie von der neuen Einheit ohne etwas für ihr Land zu tun. Eine aufgeklärte, bürgerliche Schicht mit politischen Ambitionen gibt es nicht, die Aristokraten sind voller Standesdünkel und überlassen jegliche Aktivitäten subalternen Gestalten. Selbst ein kluger Kopf wie der Fürst erliegt dieser Haltung. Er, einst wie sein Wappentier ein stolzer Leopard, ist kaum mehr als eine harmlose Wildkatze, die müde mit der Pranke wedelt. Dass Tomasi vom gattopardo spricht, ist eine ironische Umwertung - beim gattopardo handelt es sich nämlich um einen Pardel oder einen Ozelot, der, anders als der Leopard, wegen seines verknöcherten Zungenbeins nicht mehr brüllen kann. Auf diese zoologischen Feinheiten weist uns der neue Übersetzer Gio Waeckerlin Induni hin: es war der Grund für die Ersetzung des wohlbekannten Leoparden aus der ersten deutschen Übertragung des Romans von Charlotte Birnbaum durch einen Pardel. Konsequenterweise hätte sich auch der Verlag für einen entsprechenden Titel entscheiden müssen: aber nein, das Buch heißt nicht "Der Pardel", nicht einmal "Il gattopardo", sondern, in bester deutscher Pidgin-Manier, "Der gattopardo". Das italienische Substantiv mit einem deutschen Artikel zu versehen, wirkt auf eine kleinbürgerliche Art weltläufig. Es ist aber ohnehin fragwürdig, ob man es hier mit der philologischen Genauigkeit nicht etwas übertrieben hat, zumal der Begriff il gattopardo im Italienischen viel gebräuchlicher ist als hierzulande der Pardel. Dass das einst so stolze Oberhaupt der Salina an der typischen sizilianische Schwäche, dem selbstzerstörerischen Fatalismus leidet, wird sowieso überdeutlich. Als ihm ein Senatorposten angetragen wird, erklärt er dem piemontesischen Gesandten Chevalley, weshalb er außerstande ist, die Bitte anzunehmen.

    In Sizilien ist es nicht von Belang, richtig oder falsch zu handeln: die Sünde, die wir Sizilianer niemals verzeihen, ist schlicht und einfach die, überhaupt 'zu handeln'. Wir sind alt, Chevalley, uralt. Seit mindestens fünfundzwanzig Jahrhunderten tragen wir die Last großartiger heterogener Kulturen auf unseren Schultern, alle bereits vollendet und vervollkommnet, keine einzige, in der wir den 'Ton' angegeben haben; wir sind Weiße, wie Sie, Chevalley, und wie die Königin von England; und dennoch sind wir seit zweitausendfünfhundert Jahren Kolonie. Ich sage das nicht, um mich zu beklagen: es ist zum großen Teil unsere Schuld; trotzdem sind wir müde und ausgelaugt." Chevalley war betroffen: "Wie auch immer, Fürst, das ist jetzt vorbei; jetzt ist Sizilien nicht mehr ein Eroberern ausgeliefertes Land, sondern Teil eines Freien Staates."
    "Lieber Chevalley: die Sizilianer werden nie den Wunsch haben, sich zu verbessern, aus dem einfach Grund, weil sie glauben, vollkommen zu sein: ihre Eitelkeit ist stärker als ihr Elend; jede fremde Einmischung, sei es wegen der fremden Herkunft, sei es aus Unabhängigkeitsgeist, bringt ihre Träume von einer erreichten Vollkommenheit durcheinander, ja sie könnte ihr selbstzufriedenes Warten auf das Nichts in Frage stellen; von Dutzenden verschiedenen Völkern mit Füßen getreten, glauben sie, eine kaiserliche Vergangenheit zu haben, die ihnen Anrecht auf pompöse Bestattungen gibt".


    Tomasi di Lampedusa legt seinem Helden eine historisch-anthropologische Deutung in den Mund, die es in sich hat. Auch das Klima, die unbarmherzige Sonne und die Hitze seien Schuld an dem phlegmatischen Gemütszustand, fügt Don Fabrizio hinzu und schlägt den gewissenhaften Gesandten aus dem kühlen Norden mit seiner Mischung aus Arroganz, Resignation und Selbstbezogenheit in die Flucht. Erschüttert reist Chevalley ab: von einem staatsbürgerlichen Pflichtgefühl ist hier nichts zu spüren. Mit seiner pessimistischen Einschätzung Siziliens stieß Tomasi di Lampedusa unter seinen Freunden nicht nur auf Zustimmung. Doch vor allem der plötzlich erwachte literarische Ehrgeiz des feinsinnigen Hedonisten rief Verblüffung hervor. Nur seine Ehefrau, die baltische Baronin Licy Wolff-Stomersee, eine der ersten Psychoanalytikerinnen Italiens, erkannte als Nicht-Sizilianerin die große Begabung ihres Gatten und ermutigte ihn zu seinem Projekt. In vielem ähnelte der Fürst von Lampedusa nämlich dem Fürsten von Salina. Der hochgebildete und sehr belesene Tomasi, der mehrere Sprachen beherrschte, ganz Europa kannte, eine hervorragende Bibliothek besaß und nur zum Vergnügen vor einem kleinen Kreis junger Leute Privatvorlesungen über französische und englische Literatur hielt, hatte sein Leben lang genau wie Don Fabrizio für seinen Broterwerb nicht gearbeitet. Schließlich war auch er ein sizilianischer Fürst. Die Melancholie, die im Gattopardo viele der großartigen Tableaus durchdringt, kommt nicht von ungefähr: trotz aller Kritik an der politischen Abstinenz seiner Klasse ist er voller Bewunderung für die Pracht, den Lebensstil mit seinen feinen Manieren, und die pompöse Architektur, in der eine große Liebe zur Schönheit zum Ausdruck kommt. Als Don Fabrizio seine zukünftige Schwiegertochter in die palermitanische Gesellschaft einführt, lässt er mit Wehmut sein Auge über die glanzvolle Ausstattung der Salons schweifen.

    Der Ballsaal strahlte in lauter Gold: mattes an den Kranzgesimsen, gepunztes an den Türeinfassungen, hell, fast silbern damasziertes auf dunklerem Goldgrund an den Türen selbst und an den inneren Läden, die die Fenster verdeckten und sie zum Verschwinden brachten und dadurch dem Raum die überhebliche Bedeutung eines Schreins verliehen, der jegliche Anspielung auf die plebejische Außenwelt im Keime erstickte. Es war nicht die aufdringliche Vergoldung, mit der heute die Dekorateure protzen, sondern ein verblichenes Gold, blaß wie das Haar kleiner Mädchen aus dem Norden, ein Gold, das sich bemüht, seinen Wert unter einer, heutzutage, abhanden gekommenen Zurückhaltung der kostbaren Materialien zu verbergen, die ihre Schönheit und den Preis vergessen lassen wollen; da und dort auf den Paneelen Rokoko-Blumenschleifen von einer derart subtilen Farbgebung, die bloß ein flüchtiges, vom Widerschein der Leuchter hervorgerufenes Erröten zu sein schien. Don Fabrizio, der schwarz und steif in der Tür stand, wurde von diesem Sonnenschimmer, von diesem Wechselspiel von Funkeln und Schatten schwer ums Herz.

    Dass Tomasi die ahnungsvolle Trauer Don Fabrizios teilt, macht seinen Blick für dessen Versäumnisse umso schärfer. Der Roman endet mit einer bewegenden Sterbeszene des Fürsten und einem atemberaubenden Bogenschlag ins 20. Jahrhundert, wo aller Glanz nur noch fahle Erinnerung ist. Erst gegen Ende seines Lebens begriff Tomasi, dass er einer der letzten Zeugen einer untergegangenen Welt war. 1954 begleitete er seinen Cousin Luccio Piccolo, einen Lyriker, auf einen Schriftstellerkongress nach Norditalien. Der stilvolle Auftritt der sizilianischen Fürsten mit einem Diener im Schlepptau muss für eine gewisse Aufregung gesorgt haben - Tomasi regte die Begegnung mit den Größen der italienischen Literatur zum Schreiben an. Ihm blieb nur wenig Zeit. Nach dem Abschluss des Manuskripts erkrankte er 1957 an Krebs. Kurz vor seinem Tod erreichte ihn das Ablehnungsschreiben des renommierten Einaudi-Verlages. Geschult an Thakerey, Stendhal und Flaubert knüpft Tomasi ästhetisch an die großen Traditionen des 19. Jahrhunderts an, was der damaligen Mode der politisch engagierten Literatur widersprach. Aber wenig später erkannte der Romancier Giorgio Bassani, Lektor bei Feltrinelli, die literarische Bedeutung dieses späten Debütanten, veröffentlichte im Frühjahr 1958 den Gattopardo und landete einen Welterfolg. Für Wirbel sorgte mehrfach die Editionsgeschichte, denn wegen seines überraschenden Todes existiert keine vom Urheber autorisierte Fassung. In Italien liegt schon seit 1969 eine auf der Grundlage sämtlicher Typoskripte besorgte Ausgabe mit einem Nachwort des Adoptivsohns Gioachino Lanza Tomasi vor, die Mitte der 90er Jahre um ein Fragment im Anhang ergänzt wurde. Als 1998 noch einmal ein paar Blätter aus den Kisten des Fürsten aufgetaucht waren, entschied man sich auch in Deutschland für eine Neuausgabe und eine Neuübersetzung. Die Formulierung im Klappentext, der Text läge jetzt erstmals seit fünfzig Jahren vollständig vor, ist irreführend - hinzugekommen sind lediglich wenige Seiten, die den Gesamteindruck des Romans nicht verändern. Die Neuausgabe ist dennoch zu begrüßen, zumal sie durch ein informatives Nachwort des Adoptivsohnes, einen Glossar, eine Zeittafel und einen kurzen Abriss der geschichtlichen Hintergründe ergänzt wurde. Wie sieht es nun mit der Übersetzung aus? Im Vergleich zu der 1959 erschienenen Übertragung von Charlotte Birnbaum, die ein wenig umständlich und hausbacken daher kommt, hat die neue Fassung einen anderen Schwung und liest sich wegen der syntaktischen Entschlackung flüssiger. Auch lexikalisch bemüht man sich um größere Genauigkeit. Die Vorliebe für Fremdwörter wirkt mitunter etwas technizistisch: da ist von einer "disparaten" Gruppe die Rede oder von einem "fiktiven" Löffelbiskuit, wo es vielleicht auch eine "bunt gemischte" Gruppe oder ein "eingebildeter" Löffelbiskuit getan hätten. Dafür ist der neue Übersetzer Giò Waeckerlin Induni bei allen Fachbegriffen aus der Kunstgeschichte und dem Kunsthandwerk vorbildlich genau. Unschön ist die Bezeichnung der Palermitaner und Piemontesen als Palermer und Piemonter. Mehr Einfallsreichtum, auch von Seiten des Lektorats, hätte man sich bei Wortwiederholungen gewünscht: da wird erzählt von Don Fabrizio, wie er am Morgen in seinem Morgenmantel da sitzt und seinen Morgenkaffee schon getrunken hat. Im Original ist nur von einem "caffé" die Rede, und die "veste da camera" hätte man getrost als Hausmantel oder Hausjacke übersetzen können - variatio delectat. Und warum Tancredis Angelica als "Gspusi" tituliert wird, wird nur ein Bayer verstehen. Aber all diese Mäkeleien sind Kinkerlitzchen, denn der neue Gattopardo hat seine Berechtigung. Warum soll sich nicht jedes Zeitalter die großen Klassiker durch Neuübersetzungen aneignen? Insgesamt flüssiger und weniger gestelzt entspricht Indunis Version der schleppenden sizilianischen Beiläufigkeit mit ihrem müden Genuss an der Tragik. Vor allem die ironischen Nuancen des vielschichtigen Fürsten kommen besser zum Ausdruck, und die sind zentral für seinen Blick auf die Welt. Induni gibt dem Gattopardo einen neuen Glanz. Und das ist die beste Empfehlung für ein Werk, das vom alten Europa erzählt.