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Der ununterbrochene Dialog

Susan Sontag war eine Ikone der amerikanischen Linken, und sie war eine hervorragende Essayistin. Jüngst ist im Hanser Verlag die letzte Sammlung von Essays erschienen, die sie zu ihren Lebzeiten weitgehend noch selbst ausgewählt und gestaltet hat. Die Themen zeichnen ein ziemlich zutreffendes Bild von vielen, wenn auch längst nicht allen politischen, literarischen, intellektuellen und ethischen Fragen, die Susan Sontag am Herzen lagen.

Von Annette Brüggemann |
    Susan Sontag schrieb 1966 in "Kunst und Antikunst" von einer außergewöhnlichen Energie, Vitalität und Expressivität, die bei einem guten Gedicht spürbar werde. Den Maßstab, den sie in ihrem damaligen Essay für John Miltons "Paradise Lost" anlegte, gilt auch für ihr eigenes Schreiben. Ihre jüngsten, posthum veröffentlichten Essays in dem Band "Zur gleichen Zeit" vibrieren vor Vitalität. Sie sind geprägt von einer Lust an der Erkenntnis und einer überzeugenden Klarheit.

    Der Essayband ist unterteilt in drei Abschnitte. Der erste Abschnitt, den Susan Sontag in einem der Entwürfe für das Inhaltsverzeichnis mit "Forwarding" - auf Deutsch: "Weiterleiten" - bezeichnete, umfasst Essays, die Sontag als Einleitung zu Übersetzungen literarischer Werke schrieb. Darunter Essays über die italienische Schriftstellerin Anna Banti und den isländischen Autor Halldór Laxness.

    Der zweite Teil des Bandes ist vom politischen Engagement Susan Sontags geprägt. Er enthält Texte über die Auswirkungen des 11. September und auch zwei Stücke über Fotografie, die an ihren Essayband mit dem Titel "Das Leiden anderer betrachten" aus dem Jahr 2003 anschließen. Darin hatte Susan Sontag Kriegsfotografien zum Thema gemacht und nun wägt sie erneut das Pro und Kontra einer Veröffentlichung grausamer Schnappschüsse und Videos aus dem vom Krieg zerstörten Irak ab.

    Schließlich lassen sich noch einige der Reden entdecken, die Susan Sontag anlässlich von Preisverleihungen hielt. Gerade in ihren letzten Lebensjahren wurde ihr und ihrem Werk eine wachsende internationale Anerkennung zuteil. Sie erhielt den Jerusalem-Preis, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, den Prinz-von-Austrien-Preis und den Literaturpreis der Public Library in Los Angeles.

    "Über Mut und Widerstand" spricht sie bei der Verleihung des Oscar-Romero-Preises an Ishai Menuchin, der einer Bewegung israelischer Soldaten angehört, die den Dienst mit der Waffe selektiv verweigern.

    Es ist schwierig, der Weisheit des eigenen Stammes zu trotzen: der Weisheit, die das Leben der Stammesmitglieder über das aller anderen stellt. Es wird immer unpopulär sein - und immer als unpatriotisch gelten -, wenn man erklärt, das Leben der Angehörigen des anderen Stammes sei genauso viel wert wie das der eigenen Leute. Es ist leichter denen die Treue zu halten, die wir kennen, die wir sehen, in deren Mitte wir leben, mit denen wir - möglicherweise - eine Angstgemeinschaft bilden. Angst verbindet Menschen. Und Angst treibt sie auseinander. Mut inspiriert Gemeinschaften: der Mut, den ein Beispiel gibt - denn Mut ist so ansteckend wie Angst. Aber Mut, bestimmte Arten von Mut, kann die Tapferen auch isolieren.

    Auch Susan Sontag hat Isolation erlebt und ihr mit aufrichtiger Geste getrotzt. Nie war die Empörung größer, als nach ihrem kurzen Einwurf zum New Yorker Anschlag vom 11. September, den sie in Berlin nach einer Überdosis des Nachrichtensenders CNN schreibt. Ein Text, der sich ebenfalls in der Essaysammlung wiederfinden lässt. Darin nennt Susan Sontag das Attentat "Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten." Es hagelte Verratsvorwürfe und Morddrohungen.

    Als Susan Sontag wieder in New York eintrifft, stapft sie sofort "eine Stunde durch die Trümmerberge dieses qualmenden, übel riechenden Massenfriedhofs" - wie sie es nennt. In ihrer nächsten Reaktion auf den 11. September tritt die politische Rhetorik, die sie zuvor auf CNN wahrnahm in den Hintergrund.

    Es sind die Schwankungen und Suchbewegungen, die Susan Sontags Blick auf den 11. September interessant machen. In dem großen Konzert intellektueller Stimmen, das nach dem terroristischen Anschlag auf die USA anhob, besticht Sontag durch ihren Mut zur Unsicherheit und ihre aufmerksame Annäherung an die Realität.

    2003 erhält sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In der Paulskirchenrede macht Susan Sontag ihre Rolle als "intellektuelle Botschafterin zwischen den beiden Kontinenten", für die sie ausgezeichnet wurde, deutlich.

    Ich habe einen großen Teil meines Lebens darauf verwendet, polarisierende, Gegensätze aufbauende Denkweisen zu entmystifizieren. Auf die Politik übertragen, bedeutet dies, für das einzutreten, was pluralistisch und säkular ist. Wie manche Amerikaner und viele Europäer würde ich viel lieber in einer multilateralen Welt leben - einer Welt, die nicht von einem einzigen Land dominiert wird - auch nicht von meinem eigenen.

    Auf die Notwendigkeit einer vielschichtigen Betrachtung von Welt macht sie auch in ihrem Essay über den Schriftsteller und politischen Revolutionär Victor Serge aufmerksam. In diesem Essay versetzt sie sich in eine vergangene Zeit, die ihr bestimmt schien durch eine leidenschaftliche intellektuelle Suche und einer Ethik der Selbstaufopferung.

    In der Vielstimmigkeit seines Romans "Die große Ernüchterung" komme ein "Mitleid für alle" zum Tragen, wie sie schreibt, das in der Literatur nicht ausgelöscht werden dürfe.
    Ein Gedanke, den sie bereits zuvor bei der Entegegennahme des Jerusalem-Preises 2001 formuliert hatte. In ihrer Rede spricht sie sich gegen eine "heutzutage ständig betriebene Propaganda für das Individuum" und für den Glauben an eine Gemeinschaft aus. Ein Credo, das Susan Sontag in ihrer eigenen politischen, weltoffenen Haltung gelebt hat, wie es ihr Essayband "Zur gleichen Zeit" auf beeindruckende Weise unter Beweis stellt.

    Mir scheint, dass es Kultur ohne Altruismus, ohne Rücksicht auf andere nicht geben kann. Ich glaube aber fest daran, dass es aus sich heraus wertvoll ist, wenn wir unser Verständnis für das, was menschliches Leben sein kann, erweitern. Wenn mich das Projekt Literatur immer fasziniert hat, zuerst als Leserin, später als Schriftstellerin, so deshalb, weil es mich Anteil nehmen lässt - an anderen Individuen, anderen Sphären, anderen Träumen, anderen Wörtern, anderen Interessenfeldern.

    Susan Sontag: "Zur gleichen Zeit. Aufsätze und Reden" wurde übersetzt von Paolo Dilonardo und Anne Jump, umfasst rund 300 Seiten und ist als Hardcover im Hanser Verlag erschienen (ISBN: 978-3-446-23004-0)