Reinhardt: In Paris konferierten bis heute Wissenschaftler und Diplomaten bei einer UN-Konferenz zum Thema Artenschutz. Die globale Biodiversität sei mindestens so bedroht, wie das Klima hieß es zum Auftakt. Der Verlust an Vielfalt ist aber nicht nur ein Phänomen, das in der Natur zu beobachten ist, sondern auch in der Kultur. Bei der abnehmenden Vielfalt von Büchern oder Filmen zum Beispiel, wie wir das heute in dieser Sendung schon thematisiert haben. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat letztes Jahr ein kleines Reclam-Buch mit dem Titel "Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt" geschrieben. Ich habe Thomas Bauer vor der Sendung gefragt: Welche kulturelle Vielfalt denn gemeint ist?
Thomas Bauer: Ja, es sind viele Arten von Vielfalt, die weniger werden, und das hat auch jeweils unterschiedliche Ursachen, wobei so unterschiedlich sind sie vielleicht nicht, weil meistens steckt doch so was wie Kapitalismus dahinter. Aber neben der Vielfalt in der Natur, in der abnehmenden Zahl der Tierarten und Pflanzenarten, gibt es ja auch Kulturgemachtes, zum Beispiel, dass es immer weniger Sprachen und Dialekte gibt. Das hat vor allem zwei Gründe. Der eine Grund ist die Globalisierung, die natürlich dafür sorgt, dass sich die großen Sprachen eher ausbreiten und auf Kosten der kleinen. Das andere ist aber, dass es auch von Menschen so gewollt wird, wie überhaupt – das ist ja eigentlich der Kernpunkt meines Buches – ich weniger aufzählen möchte, was alles an Vielfalt weg ist, sondern danach frage, warum man das so hinnimmt, auch über das Artensterben. Und was nun die Dialekte und Sprachen und Kulturen angeht, so war es vor allem auch oder ist es immer noch der Nationalismus, der dafür sorgt, dass es heute viel weniger gibt. Wenn Sie bedenken, dass noch bis zum Ersten Weltkrieg Istanbul eine Stadt war, die noch nicht mal eine muslimische Bevölkerungsmehrheit hatte, und es heute kaum mehr Minderheiten in der Türkei gibt, dann liegt das gar nicht an der Religion, sondern am Nationalismus. Dieses "ein Volk", "eine Sprache", "eine Religion", diese Vereindeutlichungs-, Vereinheitlichungstendenzen sehen Sie ja weltweit und das nimmt heute nicht ab.
Reinhardt: Jetzt haben Sie den Kapitalismus angesprochen. Was wir ja feststellen ist, dass wir mit einer immer größeren Vielfalt – das beschreiben Sie auch in Ihrem Buch - eigentlich umgeben sind. Wir haben eine unglaubliche Auswahl, nicht nur einfach an Produkten, sondern auch an Identitäten zum Beispiel. Was ist das für ein Widerspruch?
Konkurrenten und Konsumenten
Bauer: Der Kapitalismus gibt uns natürlich einmal – das ist nicht verwunderlich – eine immer größere Zahl an Konsumgütern an die Hand. Er führt aber auch zu einem Widerspruch, weil er das Individuum in eigentlich zwei Rollen hineindrängt. Die eine Rolle ist die des Konkurrenten, der sich gegen die anderen durchsetzen muss, und das andere ist die Rolle des Konsumenten, indem der Mensch dann zu sich selbst kommt, zu sich selbst findet. Diese Haltung geht natürlich auch auf Kosten unserer sozialen Kontakte. Das heißt, die Menschen sind ja von Natur aus auch soziale Wesen, die einander helfen etc. Das ist aber eine Haltung, die im Kapitalismus nicht erzieherisch gefördert wird, sondern eher im Gegenteil. Man findet sich als Konsument wieder, horcht in sich hinein. Heute horchen alle Menschen dauernd in sich hinein und fragen nach ihren Bedürfnissen oder nach ihrer Authentizität. Das ist dann der große Bezugspunkt, den wir haben: Nach außen schauen und sich an Vielfalt erfreuen. Das macht eher Angst, eher Unruhe. Auch Meinungsvielfalt zum Beispiel macht vielen Menschen heute eher Unruhe.
Reinhardt: Da würde ich gerne einhaken, denn das ist ja etwas, was wir tatsächlich nicht nur im politischen Bereich erleben, sondern durchaus auch in der Kultur zurzeit sehr stark erleben, dass Meinungsvielfalt nicht gewünscht ist und dass es auch in der Kultur doch einen sehr starken Drang dazu gibt, zu vereinheitlichen und Ambiguität, Mehrdeutigkeit nicht zuzulassen. Woher kommt das?
Bauer: Kunstwerke müssen eigentlich mehrdeutig sein. Sonst sind sie ja keine Kunstwerke. Aber wir haben heute schon auch die Tendenz, das als Kunst zu bezeichnen, was gar nicht mehrdeutig ist, zum Beispiel politische Aktionen, die ich oft sehr gut finde, die aber heute uneingeschränkt einfordern, Kunst zu sein, ohne mehrdeutig zu sein.
Reinhardt: Zum Beispiel das Zentrum für politische Schönheit.
Bauer: Das ist ein schönes Beispiel natürlich. – Auf der anderen Seite haben wir heute in Bereichen, in erster Linie ist es wohl der kulturelle Bereich, aber auch im Bereich der Religion und so, wo sich ein rigoroser Moralismus breitmacht, quasi als Kompensation dazu, dass man Widerspruchsfreiheit anderswo nicht herstellen kann. In allen kapitalistisch relevanten Bereichen kann man das nicht oder will man das nicht. Jeder weiß, dass er nicht einen Billigflug nehmen sollte am Wochenende; man macht es aber trotzdem. Das ist natürlich auch ein Widerspruch, aber den drückt man weg. Stattdessen kommt der Moralismus, dieser böse Mensch verwendet kein Gender-Sternchen, dieser Maler hat mal was Antisemitisches gesagt. Hier macht sich jetzt eigentlich eine Radikalität der Eindeutigkeit bemerkbar, die ja nicht auf Kosten von irgendetwas geht. Ich nehme mir ja nichts weg, wenn ich sage, diesen Maler darf man nicht mehr aufhängen.
Moralische Makellosigkeit versus ästhetische Kriterien
Reinhardt: Ich vermute mal, Sie spielen auf Emil Nolde an.
Bauer: Ja.
Reinhardt: Das war ja doch sehr prominent in den Medien, dieses Beispiel, die Bilder im Kanzleramt, und von Emil Nolde weiß man, dass er ein Verehrer Hitlers war und dass er eindeutig Nationalsozialist war. Und letztendlich verdeutlicht dieses Beispiel ja vielleicht ganz gut das Dilemma, das wir schon lange haben, zwischen Werk und Künstler, der Künstler, der moralisch oder politisch gefehlt hat. Ist das etwas, was wir heute weniger gut ertragen als, sagen wir, vor 50, 100, 200 Jahren?
Bauer: Ich glaube schon. Nun muss man sagen, dass Nolde tatsächlich ein schlimmer Finger war. Man sollte das durchaus aufarbeiten. Das muss man machen in diesem Fall. Aber heute nimmt das schon teilweise Züge an, die weit über das hinausgehen, was bisher üblich war. Das geht dann auch bis zur Verleumdung von einzelnen Künstlerpersönlichkeiten, die missverständliche Sachen gesagt haben und dann heute in bestimmte Ecken gestellt werden. Das gilt für alle ideologischen Richtungen gleichermaßen. Und das hängt auch damit natürlich zusammen, dass die Bewertung der Kunst nach rein innerkünstlerischen, etwa nach ästhetischen Kriterien heute immer mehr zurückgeht und man stattdessen lieber diese eindeutig ja herstellbaren Kriterien der moralischen Makellosigkeit, der ideologischen Richtigkeit anwendet.
Reinhardt: Trotzdem noch mal nachgefragt, weil sicher die Aufarbeitung wichtig ist und die Auseinandersetzung mit einem problematischen Künstler, der trotzdem vielleicht ein gutes Werk geschaffen hat. Müssen wir diesen Widerspruch trotzdem aushalten, dass es möglicherweise ein gutes Werk und einen problematischen Künstler gibt?
Bauer: Es wird ja seit langem diskutiert, zum Beispiel auch im Falle von Richard Wagner, wo meines Erachtens Reich-Ranicki das Beste gesagt hat, was man dazu sagen kann. Er sagte: Es mag sympathischere Menschen geben als Richard Wagner; allein sie haben den Tristan und die Meistersinger nicht komponiert. – Aufarbeiten ist absolut wichtig und es wird ja auch gemacht. Ich wüsste jetzt keinen bedeutenden Musiker, Künstler etc., dessen Vergangenheit nicht nachdrücklich, nachhaltig aufgearbeitet wird.
Rückgang an Ambiguitätstoleranz
Reinhardt: Jetzt müssen wir vielleicht noch mal ganz kurz darüber sprechen, dass Sie ja Islam-Wissenschaftler sind, und möglicherweise vielleicht nicht sofort auf der Hand liegt, wie Sie zu diesem Thema kommen, zu einer Analyse des Verlustes an Mehrdeutigkeit. Sie schreiben aber auch in Ihrem Buch, dass Europa eigentlich in der Geschichte immer schon eher ein Sonderfall war und zum Beispiel islamisch geprägte Länder, was Ambiguität, was Mehrdeutigkeit, was Vielfalt angeht, da eigentlich viel fortschrittlicher waren.
Bauer: Ich habe mich ja vor allem mit den früheren Jahrhunderten der Geschichte islamischer Kultur und vor allem arabischsprachiger beschäftigt, etwa Ägypten und Syrien von 1000 bis 1500, und da stellt man fest, dass die Menschen unglaublich ambiguitätstolerant waren und oft in einer einzigen Person es möglich war, Weingedichte und homoerotische Liebesgedichte zu dichten und andererseits ein sehr, sehr frommer Religionsgelehrter zu sein, und das zieht sich durch die ganze Gesellschaft, in ganz viele Bereiche. Das ist jetzt ja ganz offensichtlich nicht das, was dem heutigen Islam-Bild entspricht, und da war nun meine Beobachtung, dass wir eine ganz, ganz starke Abnahme an Ambiguitätstoleranz in islamischen Gesellschaften haben, vor allem während des 19. Und 20. Jahrhunderts. Dann tut sich da natürlich die Frage auf, wie war es denn dann in Europa, und da haben wir es, dass einmal die Zeit der Reformation und der Religionskriege zu einem Rückgang an Ambiguitätstoleranz geführt haben, weil man wollte dann doch Positionen, die eindeutiger sind, die überprüfbarer sind. Der nächste Schritt ist dann natürlich die Aufklärung und die Französische Revolution. Aber dann kam dazu, dass in der ohnehin schon unter Bedrängnis stehenden Ambiguitätstoleranz in Europa dann auch noch der Kapitalismus kam, der auch allem einen genauen Wert zuweisen kann, in dem alles so viel wert ist wie es halt kostet.
Reinhardt: Der Höhepunkt an Ambiguitätsintoleranz wurde ja im Grunde genommen im 20. Jahrhundert mit den diversen verbrecherischen totalitären Systemen erreicht.
Bauer: Absolut!
Reinhardt: Sie zitieren an einer Stelle Zygmunt Bauman, der gesagt hat, Ambiguität ist das einzige Mittel gegen die zerstörerische Kraft der Moderne.
Künstliche Intelligenz entscheiden nach null und eins
Bauer: Das 20. Jahrhundert hatte einen merkwürdigen Positionsklang, weil es eben die Moderne ist, und wir verbinden es gerne mit allen möglichen Befreiungsdingen, die es natürlich auch gegeben hat. Es ist aber andererseits auch die Zeit der Diktaturen, der Völkermorde, und sogar weltweit die Zeit auch noch eines sehr, sehr scharfen Kolonialismus und von Kolonialkriegen. Da steigerte sich es wirklich. Ich bin aber nicht sicher, ob das jetzt nach dem Schock von zwei Weltkriegen auf Dauer anders ist. Im Moment scheinen, die Zeichen wieder eher in Sachen weniger Ambiguitätstoleranz zu gehen. Und dann sehen wir ja auch Entwicklungen – ich erwähne nur Künstliche Intelligenz -, die mit einer Hoffnung auch verbunden sind, dass Maschinen endlich diese schreckliche Ambiguität überwinden und eindeutige Dinge tun.
Reinhardt: Maschinen entscheiden nach null und eins sozusagen. Da gibt es nicht viel Auswahl.
Bauer: Ja, genau. – Ja, sicher! Natürlich! Die Digitalisierung, die eben nur null und eins kennt, ist kein Werkzeug, um unbedingt Ambiguität zu steigern.
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