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Der Versuch eine Demokratie mit Panzern zu verteidigen

Von Islamisten abgelehnt, vom säkularen Widerstand mal bekämpft und dann wieder herbeigesehnt: Das ägyptische Militär hat den ersten gewählten Präsidenten Ägyptens gestürzt. Was auf den ersten Blick wie eine Intervention nach dem Willen des Volkes aussieht, scheint das Land an den Rand eines Bürgerkriegs zu führen.

Von Susanne El Khafif | 06.07.2013
    "Was für eine Ehre haben wir als Streitkräfte? Glauben Sie mir, wenn das Volk bedroht ist und Angst hat, sind wir bereit, für das Volk zu sterben."

    Im Rückblick wirken die Worte General as-Sisis, Führer der ägyptischen Streitkräfte, fast wie eine Prophezeiung. Übergriffe auf Militärstützpunkte im Sinai, die Belagerung des Staatsfernsehens in Kairo, Protestmärsche, Tote und Verletzte im ganzen Land, unter ihnen Polizisten, Soldaten, Säkulare, Islamisten - so die Bilanz der letzten 24 Stunden. Die blutige Auseinandersetzung nun auch zwischen Militär und Islamisten hat - so scheint es - begonnen.

    Kairo, 30. Juni 2013, am vergangenen Sonntag. Es ist der Tag der Massenproteste gegen den zu diesem Zeitpunkt noch amtierenden Präsidenten Mursi. Auf dem Tahrir-Platz und auf dem gesamten umliegenden Gelände stehen Menschen, dicht an dicht gedrängt, ein Durchkommen ist nicht möglich. Es ist die von Säkularen und Liberalen angeführte Opposition. Über ihnen kreist ein Militärhubschrauber, lässt unzählige kleine Fahnen herunterschweben, Fahnen in den Farben Ägyptens, unbändiger Jubel bricht aus. "Inzil ya Sisi!" rufen die Menschen dem Hubschrauber zu, "komm herab, General Sisi, rette uns vor dem Untergang!"

    Kairo, derselbe Tahrir-Platz, November 2011. Säkulare Demonstranten liefern sich heftige Straßenschlachten mit Sicherheitskräften. Sie fordern ein Ende der Militärherrschaft, sie fordern, dass der "Oberste Militärrat" – SCAF – zurücktritt und ein ziviler Präsident das Land führen soll.

    Scheinbar unauflösbare Widersprüche und Ambivalenzen. Wenn es um das ägyptische Militär geht, gehen die Meinungen auseinander. Von Islamisten überwiegend abgelehnt, vom selben säkularen Widerstand wird es mal bekämpft und dann wieder herbeigesehnt, wie in diesen Tagen.
    Ein Wunder ist das nicht, steht doch das Militär für vieles – und, für vieles gleichzeitig: für Diktatur und Unterdrückung. Für Patriotismus, Freiheit und Stärke – und das von Anfang an:

    1952 setzt Oberst Gamal Abdel Nasser an der Spitze der "Jungen Offiziere" den damaligen König Faruk ab und führt sein Land in die Unabhängigkeit. Er verspricht, seinen Landsleuten Würde und Anstand zurückzugeben - und ihnen die Freiheit zu schenken.

    "Männer Ägyptens", ruft er den Massen zu, "haltet die Stellung! Ihr alle seid Gamal Abdel Nasser!"

    Nasser wird Präsident seines Landes, die Armee zum Motor von Aufbau und Entwicklung. Sie will erst soziale Gerechtigkeit, dann Demokratie. Doch sehr schnell bekommt die Regentschaft autoritäre Züge, am Ende durchdringt der Militärapparat die gesamte Gesellschaft, Widerspruch und Protest werden blutig unterdrückt – vor allem Islamisten werden zu Zehntausenden inhaftiert und gefoltert. Nicht anders verfahren Nassers Nachfolger, die Präsidenten Anwar as-Sadat und Husni Mubarak, ebenfalls Ex-Offiziere. Sie zementieren die zentrale Rolle des Militärs weiter, schaffen weitere Privilegien, fördern den Aufbau eines eigenen Finanz- und Wirtschaftsimperiums, in dem selbst Wehrpflichtige zur Fabrikarbeit herangezogen werden - das Militär wird zum Staat im Staate, eine Entwicklung, die sich über Jahrzehnte aufbauen wird. Einziges wichtiges Kriterium in der Auswahl der militärischen Führungskader: Ihre politische Neutralität.

    Als Husni Mubarak seinen Sohn zum Thronfolger machen will, begehren die Menschen auf. Ihr friedlicher, millionenfacher Protest führt am Ende zu seinem Rücktritt. Doch entscheidend ist die Rolle der Armee. Sie stellt sich gegen Mubarak, richtet die Gewehrläufe nicht auf das Volk. Das Photo vom Soldaten, der ein Baby auf Händen trägt, geht um die Welt. Die Armee, die einst das Land von den Briten befreite, wird jetzt zur "Retterin der Nation" – dahinter aber verbirgt sich ein weiteres Motiv: Die Generäle, allesamt Patrioten, fürchten um ihre wirtschaftlichen Interessen, dem Land, so heißt es, habe der Ausverkauf gedroht - durch die Söhne Mubaraks und deren neoliberale Günstlinge.

    Der "Oberste Militärrat", SCAF, übernimmt die Regierungsgeschäfte, vorübergehend, so heißt es, um die "Revolution" zu schützen. Doch seine Regentschaft endet erneut in einer Diktatur und Gewaltherrschaft, die der der Vorgänger ähnelt: Wieder gibt es Massenverhaftungen, Folter und Tote. Mit dem Amtsantritt Muhammad Mursys im Sommer 2012 - als erstem demokratisch gewählten Präsidenten - wird das Militär einer zivilen Ordnung unterstellt. Eine seiner ersten Amtshandlungen besteht darin, die Armeeführung zu verjüngen und die alten Kader, von denen es heißt, sie hätten "Schimpf und Schande" über die Armee gebracht, in Rente zu schicken. Die neue Garde unter den Generälen ist, anders als zuvor, in den USA ausgebildet, geleitet von einer modernen Militärdoktrin.

    Als das Militär unter General as-Sisi in diesen Tagen erneut in die Politik eingreift, den gewählten Präsidenten Mursi absetzt und eine Übergangsphase einleitet, die erst eine neue Verfassung, dann Wahlen vorsieht, stehen eine Mehrheit im Land, die politische Opposition und die religiösen Würdenträger hinter ihm.

    Vieles scheint darauf hinzuweisen, dass mit dem Eingreifen durch das Militär diesmal eine Kurskorrektur vorgenommen wurde. Und vieles legt nahe, dass das Militär aus der Vergangenheit gelernt hat, dass es halten wird, was es versprochen hat. Denn anstatt sich erneut der Kritik auszusetzen und sich der jetzt blutigen Auseinandersetzung mit den Islamisten stellen zu müssen, hätte es einen anderen Weg gehen können: Es hätte sich bequem zurücklehnen und zuschauen können, wie sich Säkulare und Islamisten gegenseitig vernichteten. Schließlich waren seine Rechte und Privilegien in der Verfassung, die Muhammad Mursi durchgesetzt hatte, erstmals und endgültig festgeschrieben worden.

    Doch Ägyptens Armee ist vieles: zutiefst patriotisch und dabei nicht uneigennützig. Denn was hätte es der Armee genutzt, wenn das Boot, in dem doch alle sitzen, am Ende unterginge.