Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe. Seit dem Moment, als es geschehen war, erinnere ich mich an keinen Tag, da ich nicht Bedauern empfunden hätte darüber. Niemals hätte mir irgendeine Strafe gedroht, denn es passierte unter ganz ungewöhnlichen Umständen. Auch war klar, dass ich nicht anders hatte handeln können. Niemand außer mir selbst wusste im Übrigen davon. Es war dies eine der zahllosen Episoden des Bürgerkriegs; im Zuge der damaligen Ereignisse mochte sie als unbedeutende Einzelheit anzusehen sein, zumal im Verlauf der wenigen Sekunden, die der Episode vorausgingen, ihr Ausgang nur uns beide interessierte – mich und noch einen, mir unbekannten Menschen.
Während des Bürgerkriegs, der nach der Oktoberrevolution um die Macht im ehemaligen Zarenreich tobte, hat der junge Ich-Erzähler in der einsamen, glutheißen südrussischen Steppe auf einen Verfolger geschossen und ihn, wie er glaubt, tödlich verletzt. Als er andere Reiter näherkommen hört, schwingt er sich auf das Pferd des Sterbenden, einen riesenhaften weißen Hengst, und entkommt.
Der Held überlebt den Bürgerkrieg, ihm gelingt die Flucht ins Ausland, er landet, wie so viele russische Flüchtlinge, in Paris, wo er sich mit Rezensionen und kleineren journalistischen Arbeiten für die Emigrantenpresse über Wasser hält. Doch den Erinnerungen an dieses Ereignis entkommt er ebenso wenig wie seinem Schicksal.
15 Jahre nach dem fatalen Schuss meldet es sich machtvoll zurück: Dem jungen Mann, er ist jetzt Anfang 30, fällt der Erzählband eines englischen Autors mit Namen Alexander Wolf in die Hände. Das Buch trägt den beziehungsreichen Titel "I'll come tomorrow" und eine der Erzählungen darin heißt "The adventure in the Steppe" – sie beschreibt in makelloser Prosa eben jenes Geschehen aus ferner Bürgerkriegszeit, bis in alle Einzelheiten genau, wie nur ein Beteiligter sie kennen kann und dazu aus der Perspektive des anderen, des vermeintlich Getöteten.
Das beste Pferd, das mir jemals gehört hat, war ein weißer Hengst, ein Halbblut von gewaltiger Statur und besonders ausgreifendem und schwungvollem Trab. Er war so großartig, dass ich ihn am liebsten mit einem der Pferde verglichen hätte, von denen in der Apokalypse die Rede ist. Diese Ähnlichkeit trat – für mich persönlich – noch dadurch zutage, dass ich auf eben diesem Pferd meinem eigenen Tod entgegengaloppiert bin, über glühende Erde und an einem der heißesten Tage meines ganzen Lebens.
Der erschütterte junge Mann macht sich auf die Suche nach dem Autor Alexander Wolf, der ein Phantom zu sein scheint, nicht nur weil, er offenbar den sicheren Tod überlebt hat, sondern auch, weil alle Nachforschungen nach ihm scheitern. Doch je erfolgloser die planvolle Recherche, desto energischer greift der Zufall ein: Schließlich lernt der Held sogar den Schriftsteller Alexander Wolf selbst kennen, der tatsächlich jener Mann ist, den er getötet zu haben glaubte. Mit geradezu kriminalistischem Gespür arrangiert der Romanautor die vielen zufälligen Begebenheiten, die den vermeintlichen Mörder und sein damals dem Tod entronnenes Opfer in einer neuen fatalen Konstellation aufeinandertreffen lassen.
Das Schicksal mag in der Wahl seiner Protagonisten blind sein, aber wen es einmal füreinander bestimmt hat, der entgeht seinem vorgezeichneten Weg nicht. Über Zeitenwechsel und Ländergrenzen hinweg, die das Exil für russische Menschen in den 20er-, 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts mit sich bringt, behält es seine Opfer fest im Auge und lässt sich auch durch neue Identitäten nicht täuschen.
Gaito Gasdanows Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" ist subtil und kunstvoll erzählt. Ganze Motivketten durchziehen das Werk. In vielfältigen Spiegelungen variiert der Autor sein Grundthema des unaufhaltsam und unausweichlich wirkenden Schicksals. Obwohl er seine Helden ausführliche Seelenschau betreiben und sowohl die Vorherbestimmtheit ihrer Existenz als auch die Möglichkeiten der Literatur diskutieren lässt, verliert sein Roman nicht an Spannung. "Das Phantom des Alexander Wolf" wäre ein kapitaler Filmstoff. Es ist alles vorhanden, was großes Kino braucht – spektakuläre Schauplätze, markante Helden, Geheimnis, Dramatik, Liebe und ein grandioser Showdown am Schluss.
Die Übersetzerin Rosemarie Tietze spricht in ihrem kundigen Nachwort über den bislang in deutschen Sprachraum so gut wie unbekannten Autor Gasdanow von "der Magie seiner meditativen, weit schwingenden Satzbögen". Wie es ihr gelungen ist, diesen stilistischen Zauber auch im Deutschen zu entfalten und den Leser in seinen Bann zu schlagen – dazu kann man ihr nur gratulieren.
Viele Male, ganz gleich, ob es im Sommer war oder im Winter, am Meeresufer oder in der Tiefe des europäischen Kontinents – schloss ich, ohne an etwas zu denken, die Augen, und plötzlich tauchte aus der Tiefe meines Gedächtnisses erneut der glutheiße Tag im Süden Russlands auf, und alle meine damaligen Empfindungen kehrten mit der früheren Eindringlichkeit zurück. Wieder sah ich den riesigen graurosa Schatten des Waldbrands und sein langsames Vordringen unter dem Knacken der brennenden Äste und Zweige. Ich empfand jene unvergessliche, zermürbende Müdigkeit und den fast unbezwingbaren Wunsch, zu schlafen, die erbarmungslosen Sonnenstrahlen, die dröhnende Hitze, schließlich die stumme Erinnerung meiner rechten Hand an die Schwere der Pistole. Ich fühlte ihren rauhen Griff, der sich gleichsam für immer meiner Haut eingeprägt hatte, sah das leichte Schwanken des schwarzen Korns vor meinem rechten Auge – und dann den blonden Kopf auf dem grauen und staubigen Weg und das Gesicht, verwandelt vom Nahen des Todes, jenes Todes, den ich, ja, ich, einen Augenblick zuvor aus der unbekannten Zukunft herbeigerufen hatte.
Wer hätte gedacht, dass die in den letzten Jahrzehnten so kreuz und quer nach Fundstücken durchwühlte russische Literatur noch ein so funkelndes Kleinod wie diesen Roman bereithielt? Es wäre schön, wenn Rosemarie Tietze uns weitere Arbeiten von Gaito Gasdanow erschließen könnte. Das Gesamtwerk dieses russischen Exilautors, vor drei Jahren in Russland veröffentlicht, umfasst immerhin neun Romane und über 50 Erzählungen.
Gasdanow, 1903 in Petersburg als Sohn ossetischer Eltern geboren – daher der exotisch klingende Vorname "Gaito" –, lebte seit 1923 als Emigrant in Paris. Trotz achtbaren literarischen Erfolgen und Anerkennung von Seiten so verschiedener Kollegen wie Gorki und Nabokov blieb seine materielle Existenz prekär – Gasdanow fuhr Taxi, wie viele seine Landsleute in Paris. Seit 1953 war er als Redakteur für den Amerika-Sender Radio Liberty in München tätig, wo er lange lebte und wo er 1971 auch gestorben ist. Viel ist nicht über ihn bekannt - der Schriftsteller Gasdanow besaß, nach Rosemarie Tietzes Auskünften im Nachwort zu urteilen, ein unfehlbares Talent, sich zwischen alle Stühle zu setzen und selbst ein wenig phantomhafte Züge anzunehmen.
Buchinfos:
Gaito Gasdanow: "Das Phantom des Alexander Wolf", Deutsch und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze, Hanser Verlag, München 2012, 190 Seiten
Während des Bürgerkriegs, der nach der Oktoberrevolution um die Macht im ehemaligen Zarenreich tobte, hat der junge Ich-Erzähler in der einsamen, glutheißen südrussischen Steppe auf einen Verfolger geschossen und ihn, wie er glaubt, tödlich verletzt. Als er andere Reiter näherkommen hört, schwingt er sich auf das Pferd des Sterbenden, einen riesenhaften weißen Hengst, und entkommt.
Der Held überlebt den Bürgerkrieg, ihm gelingt die Flucht ins Ausland, er landet, wie so viele russische Flüchtlinge, in Paris, wo er sich mit Rezensionen und kleineren journalistischen Arbeiten für die Emigrantenpresse über Wasser hält. Doch den Erinnerungen an dieses Ereignis entkommt er ebenso wenig wie seinem Schicksal.
15 Jahre nach dem fatalen Schuss meldet es sich machtvoll zurück: Dem jungen Mann, er ist jetzt Anfang 30, fällt der Erzählband eines englischen Autors mit Namen Alexander Wolf in die Hände. Das Buch trägt den beziehungsreichen Titel "I'll come tomorrow" und eine der Erzählungen darin heißt "The adventure in the Steppe" – sie beschreibt in makelloser Prosa eben jenes Geschehen aus ferner Bürgerkriegszeit, bis in alle Einzelheiten genau, wie nur ein Beteiligter sie kennen kann und dazu aus der Perspektive des anderen, des vermeintlich Getöteten.
Das beste Pferd, das mir jemals gehört hat, war ein weißer Hengst, ein Halbblut von gewaltiger Statur und besonders ausgreifendem und schwungvollem Trab. Er war so großartig, dass ich ihn am liebsten mit einem der Pferde verglichen hätte, von denen in der Apokalypse die Rede ist. Diese Ähnlichkeit trat – für mich persönlich – noch dadurch zutage, dass ich auf eben diesem Pferd meinem eigenen Tod entgegengaloppiert bin, über glühende Erde und an einem der heißesten Tage meines ganzen Lebens.
Der erschütterte junge Mann macht sich auf die Suche nach dem Autor Alexander Wolf, der ein Phantom zu sein scheint, nicht nur weil, er offenbar den sicheren Tod überlebt hat, sondern auch, weil alle Nachforschungen nach ihm scheitern. Doch je erfolgloser die planvolle Recherche, desto energischer greift der Zufall ein: Schließlich lernt der Held sogar den Schriftsteller Alexander Wolf selbst kennen, der tatsächlich jener Mann ist, den er getötet zu haben glaubte. Mit geradezu kriminalistischem Gespür arrangiert der Romanautor die vielen zufälligen Begebenheiten, die den vermeintlichen Mörder und sein damals dem Tod entronnenes Opfer in einer neuen fatalen Konstellation aufeinandertreffen lassen.
Das Schicksal mag in der Wahl seiner Protagonisten blind sein, aber wen es einmal füreinander bestimmt hat, der entgeht seinem vorgezeichneten Weg nicht. Über Zeitenwechsel und Ländergrenzen hinweg, die das Exil für russische Menschen in den 20er-, 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts mit sich bringt, behält es seine Opfer fest im Auge und lässt sich auch durch neue Identitäten nicht täuschen.
Gaito Gasdanows Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" ist subtil und kunstvoll erzählt. Ganze Motivketten durchziehen das Werk. In vielfältigen Spiegelungen variiert der Autor sein Grundthema des unaufhaltsam und unausweichlich wirkenden Schicksals. Obwohl er seine Helden ausführliche Seelenschau betreiben und sowohl die Vorherbestimmtheit ihrer Existenz als auch die Möglichkeiten der Literatur diskutieren lässt, verliert sein Roman nicht an Spannung. "Das Phantom des Alexander Wolf" wäre ein kapitaler Filmstoff. Es ist alles vorhanden, was großes Kino braucht – spektakuläre Schauplätze, markante Helden, Geheimnis, Dramatik, Liebe und ein grandioser Showdown am Schluss.
Die Übersetzerin Rosemarie Tietze spricht in ihrem kundigen Nachwort über den bislang in deutschen Sprachraum so gut wie unbekannten Autor Gasdanow von "der Magie seiner meditativen, weit schwingenden Satzbögen". Wie es ihr gelungen ist, diesen stilistischen Zauber auch im Deutschen zu entfalten und den Leser in seinen Bann zu schlagen – dazu kann man ihr nur gratulieren.
Viele Male, ganz gleich, ob es im Sommer war oder im Winter, am Meeresufer oder in der Tiefe des europäischen Kontinents – schloss ich, ohne an etwas zu denken, die Augen, und plötzlich tauchte aus der Tiefe meines Gedächtnisses erneut der glutheiße Tag im Süden Russlands auf, und alle meine damaligen Empfindungen kehrten mit der früheren Eindringlichkeit zurück. Wieder sah ich den riesigen graurosa Schatten des Waldbrands und sein langsames Vordringen unter dem Knacken der brennenden Äste und Zweige. Ich empfand jene unvergessliche, zermürbende Müdigkeit und den fast unbezwingbaren Wunsch, zu schlafen, die erbarmungslosen Sonnenstrahlen, die dröhnende Hitze, schließlich die stumme Erinnerung meiner rechten Hand an die Schwere der Pistole. Ich fühlte ihren rauhen Griff, der sich gleichsam für immer meiner Haut eingeprägt hatte, sah das leichte Schwanken des schwarzen Korns vor meinem rechten Auge – und dann den blonden Kopf auf dem grauen und staubigen Weg und das Gesicht, verwandelt vom Nahen des Todes, jenes Todes, den ich, ja, ich, einen Augenblick zuvor aus der unbekannten Zukunft herbeigerufen hatte.
Wer hätte gedacht, dass die in den letzten Jahrzehnten so kreuz und quer nach Fundstücken durchwühlte russische Literatur noch ein so funkelndes Kleinod wie diesen Roman bereithielt? Es wäre schön, wenn Rosemarie Tietze uns weitere Arbeiten von Gaito Gasdanow erschließen könnte. Das Gesamtwerk dieses russischen Exilautors, vor drei Jahren in Russland veröffentlicht, umfasst immerhin neun Romane und über 50 Erzählungen.
Gasdanow, 1903 in Petersburg als Sohn ossetischer Eltern geboren – daher der exotisch klingende Vorname "Gaito" –, lebte seit 1923 als Emigrant in Paris. Trotz achtbaren literarischen Erfolgen und Anerkennung von Seiten so verschiedener Kollegen wie Gorki und Nabokov blieb seine materielle Existenz prekär – Gasdanow fuhr Taxi, wie viele seine Landsleute in Paris. Seit 1953 war er als Redakteur für den Amerika-Sender Radio Liberty in München tätig, wo er lange lebte und wo er 1971 auch gestorben ist. Viel ist nicht über ihn bekannt - der Schriftsteller Gasdanow besaß, nach Rosemarie Tietzes Auskünften im Nachwort zu urteilen, ein unfehlbares Talent, sich zwischen alle Stühle zu setzen und selbst ein wenig phantomhafte Züge anzunehmen.
Buchinfos:
Gaito Gasdanow: "Das Phantom des Alexander Wolf", Deutsch und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze, Hanser Verlag, München 2012, 190 Seiten