"Der Freund und der Fremde" heißt das schöne Buch, das Uwe Timm darüber schrieb – "der Fremde" natürlich in Anlehnung an den gleichnamigen berühmten Roman von Camus mit seinem literarischen Ideal der "indifférence", der Gleichgültigkeit gegenüber dem Treiben der Welt und dem Gang der Geschichte; diese Gleichgültigkeit hätte Benno Ohnesorg womöglich das Leben retten können, denn wäre er wirklich so gleichgültig gewesen zum Beispiel gegenüber dem Regime des Schahs von Persien, dann hätte er wohl kaum an jener Demonstration vor der Berliner Oper teilgenommen, die ihn das Leben kosten sollte. Die Geschichte ist voller dunkler Ironien, und auch davon handelt Uwe Timms Werk, handeln die sogenannten autobiografischen Romane, zu denen auch die "Römischen Aufzeichnungen" und "Am Beispiel meines Bruders" gehören.
Karl-Heinz Timm, der große Bruder, 16 Jahre älter als der Nachkömmling Uwe, hat sich mit 19 zur Waffen-SS gemeldet, ist in der Ukraine schwer verletzt worden und wenige Wochen später im Lazarett gestorben. Er hat Briefe und ein fragmentarisches Tagebuch hinterlassen, aber auch er ist natürlich ein Fremder geblieben, in jeder Hinsicht: Uwe Timm hat nur eine einzige lebhafte Erinnerung an ihn, und die überlieferten Dokumente enthüllen eine dem Nachgeborenen höchst fremde Ideologie, affiziert vom Furor der Nazis. Timm entwickelt, indem er der kurzen Biografie des Bruders nachforscht, daraus eine moralische Fragestellung: Wie hätte ich mich an seiner Stelle verhalten, in welcher Weise hätte ich die traditionellen, auch vom Vater verbürgten Werte wie Pflicht, Gehorsam, Tapferkeit internalisiert oder im Gegenteil abgestoßen – eine allenfalls hypothetisch zu beantwortende Frage.
Uwe Timm: "Das ist mit ein Movens gewesen, warum ich das geschrieben habe: Wie hätte ich mich verhalten? Hätte ich mich anders verhalten? Und das Erschreckende ist, nach der Arbeit an dem Buch über Monate hinweg: Ich kann nicht sagen, ich hätte mich anders verhalten. Ich würde es mir wünschen."
"Am Beispiel meines Bruders" entwickelt eine Methodik der Mutmaßung, die helfen soll, der historischen Wahrheit und der Psyche eines konkreten Menschen auf die Spur zu kommen, was doch nur annäherungsweise gelingen kann.
"Die Mutmaßung, die sich am Leben des Bruders entlang rankt, das ist natürlich immer nur eine Fragestellung. Entscheidend für meine Arbeit ist immer gewesen, dass ich nicht feste Antworten geben konnte, sondern dass ich auf einer Recherche war."
Unheimlich bleibt in jedem Fall die Nähe des Monströsen, die Ideologievergiftung in der eigenen Familie, die man eben nicht in einer Haltung der "Gleichgültigkeit" oder "Unentschiedenheit" aus großer Distanz untersuchen kann wie ein Forscher in einem sterilen Labor.
"Es fehlt ein Moment des Innehaltens, der Kritik in den Aufzeichnungen des Bruders. Noch erstaunlicher ist, dass jede Empathie fehlt, dass kaum über seine Gefühle, seine Ängste, seine Wünsche gesprochen wird. Und nicht über Mitleid. Nicht einmal über Selbstmitleid. Man ist eben der 'Tapfere'."
Anders ist es bei dem gleichaltrigen Benno Ohnesorg, der, allerdings für eine kurze Zeitspanne, denn die Wege trennen sich bald wieder, so etwas wie ein geistiger Bruder für Uwe Timm wird; man lebt zusammen im Kolleg, zeigt sich gegenseitig das Geschriebene, denn auch Ohnesorg ist ein literarisch affiner Mensch, ein Kenner namentlich der französischen Literatur; gut denkbar, dass man sich, wäre die Geschichte anders verlaufen, später auf der literarischen Szene wiederbegegnet wäre. In einem Gutachten über den jungen Ohnesorg heißt es bezeichnend: "Er hat durchaus Ansätze, jemand zu werden, der nicht ganz alltäglich ist." Diese pädagogische Prognose sollte sich in einem tragischen Sinn erfüllen.
"Er war ein zurückhaltender, nachdenklicher Mensch, der sehr belesen war, was die französische Moderne betraf. Es war erstaunlich, er war 20, 21, und er hatte in einem ganz erstaunlichen Maß gelesen, Apollinaire, Rimbaud, Verlaine und hatte das in einer Weise umgesetzt, dass man merkte, da findet eine Auseinandersetzung mit Sprache statt, wie sich dann auch zeigte, dass er selbst schrieb. Er war der Erste, dem ich meine Sachen, Gedichte, kurze Texte, gezeigt habe, er ist für mich der erste Leser gewesen und auch der erste Kritiker, mit dem ich über meine Texte sprechen konnte."
Wie aber entsteht so ein Text, von dem Uwe Timm sagt, er hätte einen "autobiografischen Zugriff"? Die beiden Bücher über den Bruder und über den Kolleg-Freund waren keineswegs als autobiografische Texte konzipiert; erst beim Schreiben hat Uwe Timm festgestellt, dass er auch von sich selbst erzählen müsse, um von den beiden anderen Menschen zu erzählen – und so wird beispielsweise "Der Freund und der Fremde" auch zu einer kleinen "Education sentimentale". Und zum Schreiben, das notiert Timm in seiner Frankfurter Poetikvorlesung unter dem Titel "Von Anfang und Ende", gehöre das Vergessen als hochproduktiver Vorgang ebenso sehr wie das Erinnern.
"Was täglich auf uns eindringt, was wir sehen, erleben und so weiter, all das muss erst mal verschwinden, damit einige Dinge, die wirklich wichtig sind, herausgehoben werden können. Und diese wichtigen Dinge können auch nur wichtig sein, weil vieles andere verschwunden ist. Insofern ist das ein wichtiger Prozess, dies zu trennen, die 'Spreu' von dem, was wirklich wichtig ist. Wobei man auch sehen muss, dass unter Umständen Dinge verschwinden, die auch wieder wichtig werden können."
Bestimmte Vorgänge sind eher Auslöser als alleinige Ursachen von Prozessen, für die einfach die Zeit gekommen ist. Dennoch scheint es gerade in seinem, Uwe Timms Fall einen unmittelbaren Zusammenhang zu geben zwischen den Ereignissen des 2. Juni, von denen er in Paris erfährt, und seinem "Eintritt" ins politische Engagement.
"Man kann einfach feststellen, sehr viele meiner Generation, der 68er Generation, sind aus dieser existenzialistischen Phase gekommen. Fast alle haben sehr intensiv Camus und Sartre gelesen. Diese 'Gleichgültigkeit' ist überwunden worden, auch bei Camus übrigens, in der Revolte. Es gibt bei Camus so etwas wie eine Solidarität gegenüber dem Leiden, dem Tod. Das ist das Fundament für jede Art von Engagement."
Die Absurdität erscheint rückblickend fast als ein überschätztes Phänomen: Liest man heute den "Fremden" von Camus wieder, ist es vielleicht gar nicht so sehr die abstrakte Absurdität, die als etwas vages Lebensgefühl ins Auge springt, als vielmehr eine Eigenschaft, die man "Acedia" nenne könnte: die Herzensträgheit eines Menschen, der niemanden zu lieben vorgibt und der den Willen zu leben erst in dem Augenblick entdeckt, da er wegen eines "zufällig" begangenen Totschlags zum Tode verurteilt wird.
"Es gibt eben Handlungsweisen, die sind nicht von der Alltagslogik oder Alltagsmoral ableitbar. Was bei dem Fremden nach dem Mord kommt, zeigt allerdings, dass er in den Protest geht: er will leben. Er will aus dieser Herzensträgheit, aus dem absurden Gefühl raus. Er will leben, und das Leben ist das, was gegen das Gefühl der Absurdität oder Beliebigkeit steht."
In den 70er-Jahren, unter dem Eindruck des Radikalenerlasses und der Notstandsgesetze, hat man oft leichtfertig dazu geneigt, ein eher liberales politisches System für faschismusähnlich zu halten. Uwe Timm aber hat gewisse Kontinuitäten nie leichtfertig unterstellt, sondern hat sie buchstäblich am eigenen Leib erfahren und hat ihnen am Beispiel konkreter Personen intensiv nachgespürt. Der Wahrheit aber ist immer und unter allen Umständen nur schwer auf die Spur zu kommen.
"Dieses Moment der Wahrheit ist sehr schwer zu beschreiben. Das ist ja nicht eine naturwissenschaftliche Wahrheit, die man verifizieren oder falsifizieren kann, sondern das ist eben eine existenzielle Wahrheit. Diese kleinen Sprachkosmogonien, die damit geschaffen werden, mit einem Roman, einer Erzählung, einer Novelle, die haben eine Wahrheit, die sich auch für den Leser erst wieder öffnen muss."
Uwe Timm: Am Beispiel eines Lebens. Autobiografische Schriften. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 570 S., 20 Euro.
Uwe Timm: Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt. Frankfurter Poetikvorlesung. 143 S., 16,95 Euro.
Karl-Heinz Timm, der große Bruder, 16 Jahre älter als der Nachkömmling Uwe, hat sich mit 19 zur Waffen-SS gemeldet, ist in der Ukraine schwer verletzt worden und wenige Wochen später im Lazarett gestorben. Er hat Briefe und ein fragmentarisches Tagebuch hinterlassen, aber auch er ist natürlich ein Fremder geblieben, in jeder Hinsicht: Uwe Timm hat nur eine einzige lebhafte Erinnerung an ihn, und die überlieferten Dokumente enthüllen eine dem Nachgeborenen höchst fremde Ideologie, affiziert vom Furor der Nazis. Timm entwickelt, indem er der kurzen Biografie des Bruders nachforscht, daraus eine moralische Fragestellung: Wie hätte ich mich an seiner Stelle verhalten, in welcher Weise hätte ich die traditionellen, auch vom Vater verbürgten Werte wie Pflicht, Gehorsam, Tapferkeit internalisiert oder im Gegenteil abgestoßen – eine allenfalls hypothetisch zu beantwortende Frage.
Uwe Timm: "Das ist mit ein Movens gewesen, warum ich das geschrieben habe: Wie hätte ich mich verhalten? Hätte ich mich anders verhalten? Und das Erschreckende ist, nach der Arbeit an dem Buch über Monate hinweg: Ich kann nicht sagen, ich hätte mich anders verhalten. Ich würde es mir wünschen."
"Am Beispiel meines Bruders" entwickelt eine Methodik der Mutmaßung, die helfen soll, der historischen Wahrheit und der Psyche eines konkreten Menschen auf die Spur zu kommen, was doch nur annäherungsweise gelingen kann.
"Die Mutmaßung, die sich am Leben des Bruders entlang rankt, das ist natürlich immer nur eine Fragestellung. Entscheidend für meine Arbeit ist immer gewesen, dass ich nicht feste Antworten geben konnte, sondern dass ich auf einer Recherche war."
Unheimlich bleibt in jedem Fall die Nähe des Monströsen, die Ideologievergiftung in der eigenen Familie, die man eben nicht in einer Haltung der "Gleichgültigkeit" oder "Unentschiedenheit" aus großer Distanz untersuchen kann wie ein Forscher in einem sterilen Labor.
"Es fehlt ein Moment des Innehaltens, der Kritik in den Aufzeichnungen des Bruders. Noch erstaunlicher ist, dass jede Empathie fehlt, dass kaum über seine Gefühle, seine Ängste, seine Wünsche gesprochen wird. Und nicht über Mitleid. Nicht einmal über Selbstmitleid. Man ist eben der 'Tapfere'."
Anders ist es bei dem gleichaltrigen Benno Ohnesorg, der, allerdings für eine kurze Zeitspanne, denn die Wege trennen sich bald wieder, so etwas wie ein geistiger Bruder für Uwe Timm wird; man lebt zusammen im Kolleg, zeigt sich gegenseitig das Geschriebene, denn auch Ohnesorg ist ein literarisch affiner Mensch, ein Kenner namentlich der französischen Literatur; gut denkbar, dass man sich, wäre die Geschichte anders verlaufen, später auf der literarischen Szene wiederbegegnet wäre. In einem Gutachten über den jungen Ohnesorg heißt es bezeichnend: "Er hat durchaus Ansätze, jemand zu werden, der nicht ganz alltäglich ist." Diese pädagogische Prognose sollte sich in einem tragischen Sinn erfüllen.
"Er war ein zurückhaltender, nachdenklicher Mensch, der sehr belesen war, was die französische Moderne betraf. Es war erstaunlich, er war 20, 21, und er hatte in einem ganz erstaunlichen Maß gelesen, Apollinaire, Rimbaud, Verlaine und hatte das in einer Weise umgesetzt, dass man merkte, da findet eine Auseinandersetzung mit Sprache statt, wie sich dann auch zeigte, dass er selbst schrieb. Er war der Erste, dem ich meine Sachen, Gedichte, kurze Texte, gezeigt habe, er ist für mich der erste Leser gewesen und auch der erste Kritiker, mit dem ich über meine Texte sprechen konnte."
Wie aber entsteht so ein Text, von dem Uwe Timm sagt, er hätte einen "autobiografischen Zugriff"? Die beiden Bücher über den Bruder und über den Kolleg-Freund waren keineswegs als autobiografische Texte konzipiert; erst beim Schreiben hat Uwe Timm festgestellt, dass er auch von sich selbst erzählen müsse, um von den beiden anderen Menschen zu erzählen – und so wird beispielsweise "Der Freund und der Fremde" auch zu einer kleinen "Education sentimentale". Und zum Schreiben, das notiert Timm in seiner Frankfurter Poetikvorlesung unter dem Titel "Von Anfang und Ende", gehöre das Vergessen als hochproduktiver Vorgang ebenso sehr wie das Erinnern.
"Was täglich auf uns eindringt, was wir sehen, erleben und so weiter, all das muss erst mal verschwinden, damit einige Dinge, die wirklich wichtig sind, herausgehoben werden können. Und diese wichtigen Dinge können auch nur wichtig sein, weil vieles andere verschwunden ist. Insofern ist das ein wichtiger Prozess, dies zu trennen, die 'Spreu' von dem, was wirklich wichtig ist. Wobei man auch sehen muss, dass unter Umständen Dinge verschwinden, die auch wieder wichtig werden können."
Bestimmte Vorgänge sind eher Auslöser als alleinige Ursachen von Prozessen, für die einfach die Zeit gekommen ist. Dennoch scheint es gerade in seinem, Uwe Timms Fall einen unmittelbaren Zusammenhang zu geben zwischen den Ereignissen des 2. Juni, von denen er in Paris erfährt, und seinem "Eintritt" ins politische Engagement.
"Man kann einfach feststellen, sehr viele meiner Generation, der 68er Generation, sind aus dieser existenzialistischen Phase gekommen. Fast alle haben sehr intensiv Camus und Sartre gelesen. Diese 'Gleichgültigkeit' ist überwunden worden, auch bei Camus übrigens, in der Revolte. Es gibt bei Camus so etwas wie eine Solidarität gegenüber dem Leiden, dem Tod. Das ist das Fundament für jede Art von Engagement."
Die Absurdität erscheint rückblickend fast als ein überschätztes Phänomen: Liest man heute den "Fremden" von Camus wieder, ist es vielleicht gar nicht so sehr die abstrakte Absurdität, die als etwas vages Lebensgefühl ins Auge springt, als vielmehr eine Eigenschaft, die man "Acedia" nenne könnte: die Herzensträgheit eines Menschen, der niemanden zu lieben vorgibt und der den Willen zu leben erst in dem Augenblick entdeckt, da er wegen eines "zufällig" begangenen Totschlags zum Tode verurteilt wird.
"Es gibt eben Handlungsweisen, die sind nicht von der Alltagslogik oder Alltagsmoral ableitbar. Was bei dem Fremden nach dem Mord kommt, zeigt allerdings, dass er in den Protest geht: er will leben. Er will aus dieser Herzensträgheit, aus dem absurden Gefühl raus. Er will leben, und das Leben ist das, was gegen das Gefühl der Absurdität oder Beliebigkeit steht."
In den 70er-Jahren, unter dem Eindruck des Radikalenerlasses und der Notstandsgesetze, hat man oft leichtfertig dazu geneigt, ein eher liberales politisches System für faschismusähnlich zu halten. Uwe Timm aber hat gewisse Kontinuitäten nie leichtfertig unterstellt, sondern hat sie buchstäblich am eigenen Leib erfahren und hat ihnen am Beispiel konkreter Personen intensiv nachgespürt. Der Wahrheit aber ist immer und unter allen Umständen nur schwer auf die Spur zu kommen.
"Dieses Moment der Wahrheit ist sehr schwer zu beschreiben. Das ist ja nicht eine naturwissenschaftliche Wahrheit, die man verifizieren oder falsifizieren kann, sondern das ist eben eine existenzielle Wahrheit. Diese kleinen Sprachkosmogonien, die damit geschaffen werden, mit einem Roman, einer Erzählung, einer Novelle, die haben eine Wahrheit, die sich auch für den Leser erst wieder öffnen muss."
Uwe Timm: Am Beispiel eines Lebens. Autobiografische Schriften. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 570 S., 20 Euro.
Uwe Timm: Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt. Frankfurter Poetikvorlesung. 143 S., 16,95 Euro.