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Der Welt den Rücken. Geschichten

Elke Heidenreichs Prosa kommt unverkrampft, stilsicher und - bei aller geschilderten Seelennot - aufreizend gelassen, ja geradezu heiter daher. Von der gelegentlichen Aufgekratztheit ihrer Fernseh- und sonstigen Auftritte hier keine Spur. Wenn es auch für die Figuren in den insgesamt sieben Geschichten nur wenig zu lachen gibt - mit ihrer souveränen Erzählhaltung deutet die Autorin die Versöhnung der Figuren mit ihren Krisen an. Die Krisen, von denen sie immer wieder erzählt, sind die der nicht älter werden wollenden, alten Zeiten nachhängenden Achtundsechziger. In "Der Tag, als Boris Becker ging" wird der Abschied des Tennisspielers mit dem Abtreten der Rebellen von damals, die keine Identitätsfigur mehr besitzen, in Einklang gebracht. "Wir fühlten uns, wie Eltern sich fühlen, wenn die Kinder endgültig das Haus verlassen und unsichtbar an die Tür schreiben: Jetzt seid ihr alt."

Hajo Steinert |
    Und wie sind die Kinder der Achtundsechziger? In "Karl, Bob Dylan und ich" läuft der Sohn einer Gesamtschullehrerin in einem Anti-Drogen-T-Shirt und Adidasjacke herum und ist auch sonst überaus angepaßt. Die alleinerziehende Mutter und ein wie sie einsam alternder Freund, der gerade einen WDR-Redakteur ("du schwindsüchtige Kulturwurst") verprügelt hat, weil er ihm die Frau ausgespannt hat, trösten sich mit Erinnerungen an die Demos und Rockbands von damals. Unter Tränen geben sie sich in einem herzzerreißenden Showdown einem Bob-Dylan-Konzert im Fernsehen hin. Bei allem Wehklang - Elke Heidenreich ist weit davon entfernt, die 68er-Jahre zu verklären. Genau so wenig begeht sie Verrat an den Träumen von damals.

    Sich treu bleiben in einer vergleichsweise seelenlosen, unfröhlichen und unpolitisch gewordenen Gegenwart - darum ringen ihre Figuren, darum ringt die Autorin selbst von Geschichte zu Geschichte. Und wenn es nun mal nicht anders geht, auch um den Preis der politischen Korrektheit. Bei der Schilderung eines Abendessens zu acht, in "Silberhochzeit", läßt sie ihre ehefrustrierte, trennungwillige Protagonistin Alma ihren "Widerwillen" gegen diese "ewig gleich aussehenden", ihre "fünfzigjährigen Bäuche in superenge Jeans" klemmenden schwule Paare loswerden. Das ist ein Tabubruch, den sich nur eine leisten kann, die den Ruf genießt, in puncto Heterosexualität oder Homosexualität im wirklichen Leben keinerlei Rangordnung vorzunehmen.

    Den Leser in das Leben anderer hineinzuziehen ohne sogenannte Verständigungstexte zu schreiben - darin besteht Elke Heidenreichs Kunst. Sie stiftet den Leser an, über das eigene Leben, über die vergangenen und gegenwärtigen Lieben nachzudenken, auch über die wenigen erfüllten. Einmal in den Sog einer Geschichte geraten, hat der Leser keine Chance mehr zur Flucht aus dem Text, aus dem erzählten Leben, aus dem Hin und Her im eigenen Kopf. Vor allem Leser zwischen 45 und 55 finden sich mit ihren Wehwehchen, ihren verblassten Träumen und sehr realen Ängsten in Elke Heidenreichs intensiven Geschichten wieder. Die, die jünger sind oder älter, lernen eine Generation kennen, die so schlecht wie ihr Ruf nicht ist, aber trotzdem ein bißchen lächerlich. Das Erstaunliche: Elke Heidenreich hat keine Theorie nötig, weder eine der Literatur noch der Politik, um ihre Erzählform zu wahren. Ihre wahrhaftigen Texte erzählen sich wie von selbst.

    Man kann sich angesichts ihrer flüssigen, völlig unmanirierten Art zu schreiben nicht vorstellen, daß sie für ihren zweiten Erzählungsband neun Jahre benötigte. Daß es tatsächlich so lange dauerte, hängt mit den durchweg existentiellen Lebensthemen zusammen, von denen sie erzählt. Nichts ist bei ihr belanglos. Elke Heidenreich schreibt nur über Menschen, die sie kennt, und Krisen, die sie am eigenen Leib erfahren hat und erfährt. Sie schreibt über das Altwerden, das Ende des Liebens, über Trennungen, über das Verlassen mehr als über das Verlassenwerden, über Neuanfänge, über den Tod.

    In zwei Geschichten gesteht die Autorin ihren Protagonistinnen zu, nach den gescheiterten Männer-Beziehungen ihr Glück bei den Frauen zu versuchen. Auch wenn die erste Person immer noch die von ihr bevorzugte Erzählstimme ist, autobiografisch im Sinne einer unmittelbaren Berichterstattung des tatsächlich Erlebten sind Elke Heidenreichs Geschichten allerdings nicht.

    In "Ein Sender hat Geburtstag" setzt sie sich selbstironisch mit ihren Jahren beim Südwestfunk auseinander, der ein Jubiläum feiert. Was da so alles an Pleiten, Pannen und Peinlichkeiten passiert, könnte allerdings auch in anderen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten über die Bühne gehen. Der Schlagersänger Tony Marshall gibt die meisten Autogramme, die Nachrichtensprecherin der ersten Stunde liest nochmals in rührender Umständlichkeit vom Teleprompter ab. Der pensionierte Literaturredakteur macht "mit hochrotem Kopf" den Intendanten an, es gebe zu wenig Literatur im Programm. Doch mit seinem forschen Auftritt sucht er im Grunde nur ein Ventil für die unbewältigten Krisen im Familienleben. Und wie sich am Ende dann doch wieder, nach etlichen Schnäpsen in der Hotellobby, alles in Wohlgefallen auflöst - das ist kein Abschied der ehemaligen Fernsehjournalistin Elke Heidenreich von ihrer aufgeregten Vergangenheit in Zorn, da schwingt eher Wehmut mit. Vor allem: das ist alles sehr unterhaltsam erzählt, voller Witz und Situationskomik, und doch voller Ernst.

    In der vergleichsweise luftigen Titelgeschichte "Der Welt den Rücken" geht es um die Suche einer Jungfrau nach dem ersten Mann. Der Verlust der Unschuld - bei Elke Heidenreich keine schmerzhafte, sondern eine höchst selbstbewußte Angelegenheit. Während die Kubakrise die Welt an den Rand eines Krieges drängt, liegt die neunzehnjährige Studentin mit einem Bundeswehrsoldaten eine Woche im Hotelbett am Ammersee und genießt die frühen Wonnen der Erotik. Siebenundzwanzig Jahre sucht die Frau ihren einstigen Erlöser wieder auf und geht mit ihm wieder ins Bett. Draußen fällt gerade die Berliner Mauer. Und wieder gilt: "Sie hatten nichts davon gemerkt." Ein schönes Märchen. In der Literatur wird möglich, was man sich im wirklichen Leben nur in seinen Träumen ausmalt und nie zu realisieren wagt.

    Die anrührendste Geschichte des Bandes stehen am Anfang. In "Die schönsten Jahre" erzählt Elke Heidenreich von einer Tochter, die nach einer einzigen gemeinsamen Urlaubsreise und nach dem Tod ihrer alten Mutter den Ursachen ihrer Männer-Müdigkeit und ihrer aufkeimenden Lust auf Frauen auf die Spur kommt. "Ich kann mich nicht erinnern, wann meine Mutter mich je in den Arm genommen , gestreichelt, getröstet, berührt hätte. Als Kind hat sie mich oft geohrfeigt. Das waren die einzigen Berührungen, an die ich mich erinnern konnte."

    Eine bleibende Zuneigung fand die Tochter in "Die schönsten Jahre" nicht, weder in der süddeutschen Kleinstadt, noch bei ihrem Mann, auch nicht bei ihren Kindern (die etwas barsch, kaum das sie erwähnt, aus dem Text entlassen werden) - sie erhofft sie sich von einer jungen Mailänderin, Flora, mit ihr sieht die Ich-Erzählerin eine gemeinsame Zukunft. Mit ihr, Flora, wird die Ich-Erzählerin nachzuholen versuchen, was die Mutter ihr zeitlebens nicht gab: Liebe, Zärtlichkeit, Vertrautheit. Aber sicher noch mehr als dies. So steht es jedenfalls im Buch.

    Elke Heidenreich macht um den Fortgang ihrer Geschichten nie großes Federlesen. Sie hat ein ausgetüfteltes Gespür für Erzähltempo, Abkürzungen, die Wesentlichkeit der Motive, für Parallelhandlungen und Plots. Kein Text ist länger als vierzig Seiten. Und doch hat man nach der Lektüre den Eindruck, sieben Romane gelesen zu haben. Einer schöner als der andere.