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Der Weltliterat Maarten ‘t Hart
"Ich bin kein Eremit"

Pastor Kleinjan sucht für die Trauerfeier einen Organisten. Annegien Heuvelink, junge Mutter von zwei kleinen Töchtern, ist gestorben. Ein Fall für Maarten `t Hart. Seine autobiografischen Erzählungen sind akustische Novellen über existentielle Situationen. Tragisch. Komisch. Menschlich.

Von Michael Köhler           |
Der niederländische Schriftsteller Maarten 't Hart
Der niederländische Schriftsteller Maarten´t Hart (dpa / Jörg Carstensen)
"Ich spiele ziemlich oft in der Kirche bei Beerdigungen und bei Eheschließungen. Da man am Tag hat man kein Organist, die arbeiten allemal, so dann fragt man mich." – "Und da haben Sie die Fuge a -Moll Bach-Werke Verzeichnis BWV 904 gespielt?" - "Ja, das ist richtig, ein sehr schönes Stück. Das passt sehr gut bei einer Beerdigung."
In der Erzählung "Young Amadeus" wünscht aber ein Freund der Verstorbenen ebenfalls bei der Trauerfeier aufzutreten, um zu spielen. Es handelt sich um eine Art Pop-Bearbeitung eines Klarinettenkonzerts von Mozart. Das ginge vielleicht noch. Nur, sein Instrument ist eine Trompete.
"Bach hat auch immer die Trompete eingesetzt, wenn wir was zu feiern haben und niemals bei dem Tod. Bach hat unglaublich viel Musik über den Tod geschrieben, aber niemals mit einer Trompete."
Es gibt die triumphierende Kirche
Der Trompeter beschimpft den erfahrenen Organisten, er sei ein Stümper und proben müsse man auch nicht. Was zunächst ungewöhnlich und befremdlich beginnt, steigert sich zunehmend bis zum Argwohn. Der Organist, das ist Maarten ´t Hart, versucht, ruhig und vernünftig zu bleiben, aber es gelingt nicht. In existentiellen Situationen ist Vernunft fehl am Platz
"Ja, das ist richtig so gegangen wie ich das geschrieben habe! Daran habe ich nichts ändern müssen, da das einfach so eine tolle Geschichte war, dass ich dachte, das kann ich sofort so aufschreiben"
Er bestätigt, es hat sich so zugetragen. Das ist autobiografisch. Die ganze Kirche schluchzt und weint und schreit ihren Kummer heraus. Maarten ´t Hart schreibt: "Es gibt die streitende Kirche, dachte ich, und es gibt die triumphierende Kirche, aber dies ist die weinende Kirche."
"Ja, es gibt in diesem Fall die weinende Kirche. Die Menschen hatten so unglaublich weinen müssen, das hab ich noch niemals so erfahren. Das war unglaublich. Eine ganze Kirche, der so am Schreien ist (er lacht). Das war surrealistisch."
Es ist alles so passiert
Den Tod in den Tod zu trompeten ist unmöglich. Aber einen Versuch war es wert. Maarten `t Harts akustische Novellen kommen leise daher und lärmen im Namen des Menschlichen. Zuweilen ist das so komisch, dass man laut lachen muss. Es ist realistisch, tragisch und komisch zugleich, ohne Übertreibung. So ist es geschehen.
"Ja, der Mensch ist das Tier, das weinen kann, obschon ein Seehund auch weinen kann. Nicht lange. Man weiß nicht, ob das Tränen sind, oder ein Tröpfchen Wasser."
Diese Erzählung ist natürlich auch eine Geschichte darüber, wie wir Anteil nehmen. Die Wahrnehmung ist in existentiellen Situationen verändert. "Eigentlich nichts dabei, was ich erfunden habe. Es ist alles so passiert, so wie ich es geschrieben habe, eigentlich auch nicht geändert."
Nein, das ist kein Landleben
Maarten `t Hart schreibt im Grunde klingende Novellen über unerhörte Begebenheiten, die etwas verändern und Erwartungen durchkreuzen, eine Art akustische Literatur. "Ah, das hat noch niemals jemand zu mir gesagt, aber ich finde das sehr schön, ja!"
Manche denken beim Titel der Erzählungen "So viele Hähne, so nah beim Haus" vielleicht an Landleben. "Nein, das ist kein Landleben, natürlich."
Es geht in der Titelgeschichte um schönen Gesang der Nachtigall, aber auch um Gekrächze von Hähnen. Hähne, die ausgesetzt wurden, weil sie nicht mehr benötigt wurden, zu nichts nutze und nun Lärm machen.
"Ich bin ein Tierfreund, das glaube ich doch. Ja, ich bin vielleicht ein wenig misanthropisch, aber nicht ein richtiger Misanthrop. Nein, ich habe viel zu viel Pläsier in all die Leute und Menschen. Nein, ein richtiger Misanthrop bin ich nicht, glaube ich nicht."
Die alte Zeit ist repressiv
Die erste Erzählung heißt "Die Stieftöchter von Stoof". Sie schildert, was sich in einer holländischen Backstube der Fünfziger Jahre veränderte. Die Suche nach einem Nachfolger gestaltet sich schwierig. Tradition ist nicht mehr selbstverständlich. Die calvinistische Enge und Prüderie wird von einem Bäckergesellen durchbrochen, der die Tochter vergewaltigen will. Die gute alte Zeit - spürt der Leser rasch - ist nie nur die gute alte Zeit. Sie ist immer auch ein bisschen repressiv.
"Das ist natürlich auch so… ziemlich repressiv, doch, ja. Auch in Deutschland, denke ich." Plötzlich kommt zum Dorfbäcker Schevenanger etwas Neues: eine Schneidemaschine. "Eigentlich macht die Schneidemaschine alles ganz anders, glaube ich. Sie ist viel mehr als nur eine Schneidemaschine. Die Leute essen anders. Das Brot ist anders. Und man verkauft es anders. Die ganze Welt ändert sich mit der Schneidemaschine. Die ist viel wichtiger als man denken kann"
Buchcover: Maarten`t Hart: „So viele Hähne, so nah beim Haus“
Buchcover: Maarten`t Hart: „So viele Hähne, so nah beim Haus“ (Piper Verlag)
Der Totenacker ist fruchtbar
Am Ende soll ein Unschuldiger, aus christlicher Nächstenliebe, die Schuld auf sich nehmen. Maarten `t Hart treibt seinen Spuk auch mit der christlichen Botschaft. Seine autobiografischen Erzählungen lesen sich wie ein Roman mit einer Hauptperson, die sich erinnert, was ihr zugestoßen ist. Nacherzählen heißt immer auch ein wenig lügen. Sich erinnern, heißt auswählen und umformen. Man kann nicht sicher wissen, wie es passiert ist. Gelegentlich ist zu lesen, Maarten `t Hart sei ein realistischer Erzähler im Sinn des 19. Jahrhunderts. Aber das stimmt gar nicht.
"Eine realistische Literatur ist niemals so skurril. Nein, ich finde das nicht. Ich stehe mehr in eine Tradition, man muss mehr an Jean Paul Richter denken und an Charles Dickens und an diese Leute. Nicht Realismus, kein Zola, oder so etwas."
In der Erzählung "Die Knochengrube" soll der Erzähler bei einem Aufenthalt in England berichten wie in Holland auf Friedhöfen die Liegezeit geregelt ist. Nun könnte man eine Art kulturvergleichende Beschreibung über Begräbnisrituale und veränderte Gedächtniskultur erwarten. Aber es läuft aus dem Ruder. Die Stimmung wird feindselig. Die Zuhörer nehmen Anstoß an den Pachtgebühren. Kremation wird abgelehnt. Leichen zu "schreddern" wäre eine ökologische Lösung. Denn, ein Totenacker ist fruchtbar. Im doppelten Sinn.
"Sehr fruchtbar. Mein Vater hat immer gesagt – der war Totengräber – der hat immer gesagt, als ich hier einen Garten hatte, da konnte ich alles zählen, alles züchten. Ja, sehr fruchtbar. Ja, literarisch auch fruchtbar. Das haben Sie Recht, ja."
Ein hungriger Magen auf Pfoten
In der Erzählung "Hundemusik" geht es um Maarten ´t Harts Liebe zur klassischen Musik und um seine Tierkenntnis: "Wir haben noch immer so einen Club mit Leute, die klassische Musik hören. Dann war eine dabei, der einen Hund mit sich genommen hat. Und so ist es einfach passiert, was ich erzähle."
Die Mitglieder des Clubs erraten klassische Musik, die gespielt wird. Der Hund eines Teilnehmers bellt nicht nur heiser zum symphonischen Gedicht "Penthesilea" von Hugo Wolff, sondern schlägt wiederholt mit dem Schanz vor den Heizkörper. Musikalisch sei ein Hund deshalb nicht, sondern nur ein hungriger Magen auf Pfoten: "Ja, das ist richtig. Das ist wahr. Alles geht bei einem Hund durch das Essen. Das Essen ist das Wichtigste im Leben eines Hundes. Ja, egal zu welcher Musik. Das macht keinen Unterscheid."
Maarten `t Hart liebt die klassische Musik. Das spiegelt nicht nur die große Rolle der Musik in seiner Literatur, sondern auch der Flügel im Wohnzimmer: "Ja, das ist ein Bösendorfer. Ich bin eigentlich kein Klavierspieler. Ich spiele Orgel. Aber zuhause kann man keine Kirchenorgel haben. Das geht einfach nicht. Da muss man doch in die Kirche sein und da spielen."
Ich gehöre zu den letzten Menschen
Und dann spielt er ein Stück des französischen Barockkomponisten Francois Couperin: "Les Barricades Misterieuses." - "Ich bin kein Eremit. Nein, gar nicht."
Das Schreiben war für ihn zuerst ein Befreiungsakt. Nun ist es etwas, um glücklich zu sein, das Leben "tragbar" zu machen, erträglich zu machen, sagt er. Maarten `t Harts Erzählungen halten den Trost bereit, dass es nicht schlimm ist, wenn etwas misslingt. Das Leben hält mehr absurde Situationen bereit als einem Schriftsteller einfallen können. Für seine Leser gibt es einen weiteren Trost. Er hat sechs oder sieben neue autobiografische Geschichten geschrieben. Und es gibt noch viele Erzählungen, die noch nicht auf Deutsch übersetzt worden sind, fügt er hinzu.
"Es gibt zwei Leute, glaube ich. Menschen, die immer trauriger werden im Leben und Menschen, die immer heiterer werden im Leben. Und ich glaube, ich gehöre zu letzten (sic!) Menschen."
Maarten ‘t Hart: "So viele Hähne, so nah beim Haus"
aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
Piper Verlag, München. 288 Seiten, 22 Euro.