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Der Wirtschaftsbericht 1999

Nutz: ‚Alles Müller - oder was?' fragt man sich sonst, wenn es um proteinhaltige Zwischenmahlzeiten geht. Seit vergangenen Sonntag steht die Frage vor dem, was der parteilose Bundeswirtschaftsminister Werner Müller im Wirtschaftsbericht 99 verpackt hat. Einige Thesen sind am Wochenende durchgesickert. Gestern erläuterte Müller in einem Interview sein Konzept von Lohnzurückhaltung und reduzierten Sozialleistungen. Den eigentlichen Bericht wird der Minister heute vorstellen. Noch einmal die Kernpunkte: Müller fordert mehr Eigeninitiative des einzelnen in der Wirtschaftspolitik, ein Klima also für mehr Selbständigkeit. Der Staat soll sich zurückziehen, also die Staatsquote von bisher 50 auf 40 Prozent reduziert werden. Dazu gehört auch der Abbau von Subventionen. ‚Der Sozialstaat muß bezahlbar sein', meint der Minister, und es fehlt nicht die Aufforderung an die Tarifparteien, mehr Flexibilität zu zeigen. Ein ‚nahrhaftes' Programm aus dem Hause Müller also, das manchem aufstößt, zum Beispiel den Gewerkschaften. Am Telefon begrüße ich nun Oswald Metzger, haushaltspolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen.

    Metzger: Guten Morgen Frau Nutz.

    Nutz: Herr Metzger, ist das nun ein Konzept, das auch den Koalitionspartner - den Grünen - behagen könnte?

    Metzger: Also, ich finde die Thesen alles andere als revolutionär, aber sie sind nichts desto trotz in ihrer Schlichtheit richtig. Und das sollte man immer wieder betonen, daß genau dieser falsch verstandene Ansatz, daß nur über den Staat Sozialstaat zu organisieren ist, daß der Bürger zunächst Steuern und Abgaben in immer größere Höhe an den Staat bezahlt und der Staat das Ganze dann umverteilt, daß diese Philosophie im Prinzip in allen Volkswirtschaften - auch mit einer solchen Sozialkultur - gescheitert ist. An Reformen kommt niemand vorbei, und das Hauptproblem bei der Debatte jetzt um Müllers Thesen ist folgende aus meiner Sicht: Die alte Regierung hat natürlich ähnlich klingende Positionen vertreten, aber in der Praxis häufig diese sogenannte Angebotspolitik überhaupt nicht gemacht. Ich sage nur ein Stichwort: Die alte Koalition hat immer die Höhe der Lohnnebenkosten kritisiert. Seit 1990 sind die um 6 ½ Prozent gestiegen, weil der Staat nicht den Mut zu Reformen hatte, wenn die Ansprüche an die Systeme gestiegen sind, zum Beispiel durch die Lebensaltersentwicklung, aber auch durch die Wiedervereinigung. Und damit sind natürlich die Kosten für die Löhne gestiegen, damit wurde in Deutschland eine deutlich höhere Produktivität erzwungen von den Märkten, um überhaupt wettbewerbsfähig zu sein. Und damit haben wir so etwas wie ‚Entlassungsproduktivität', die wir in den Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit Monat für Monat beobachten können. Also, Leute werden entlassen, weil der Mensch durch Maschinen ersetzt wird. Der Staat tut alles, um die Kosten auf hoher Höhe zu halten. Und dieser falsche Zusammenhang, den die alte Koalition zu vertreten hatte - trotz ihrer angebotspolitischen Rhetorik -, den sehen meines Erachtens die Gewerkschaften derzeit nicht in ihrem Vergleich.

    Nutz: Herr Metzger, Sie haben es gesagt: Es ist natürlich nicht revolutionär, aber wenn man sagt ‚schlanker Staat' und die Betonung einer neuen Angebotspolitik, dann ist das etwa diametral entgegengesetzt dem, was der frühere Finanzminister Lafontaine ins Plädoyer gebracht hat, also womit eigentlich ja auch diese rot-grüne Regierung angetreten ist.

    Metzger: Aber alle vergessen, daß auch Lafontaine - den ich im übrigen schon zu seiner Amtszeit kritisiert habe, nicht erst danach - im Januar nach Brüssel an die EU-Kommission eine Staatsquote von 45 Prozent im Jahr 2002 als Ziel dieser Regierung vermeldet hat. Also, sinkende Staatsquoten wollte selbst Lafontaine, weil anders ein Finanzminister einen überschuldeten Haushalt überhaupt nicht fahren kann. Ich bin natürlich jetzt absolut begeistert davon, daß wir mit dem Finanzminister Eichel und mit den Äußerungen des Wirtschaftsministers - die ich so als ordnungspolitisches Korsett bezeichnen will, so eine Finanzpolitik, die nachhaltig und zukunftsfähig ist -, daß wir jetzt endlich daran gehen, die Staatsquote zurückzuführen, weil ohne Rückführung der Staatsquote die gesamte Konsolidierungspolitik kaputt geht. Wissen Sie, wenn die Leute - Sie wie ich und die Hörer - Monat für Monat Steuern zahlen, wovon fast 25 Prozent in die Bezahlung von Zinsen für alte Schulden fließen, wenn ich weiß, daß auf Grund der Unbeweglichkeit der sozialen Sicherungssysteme, wo ja jetzt Reformen anstehen, ein immer größerer Anteil der Bundesausgaben als Zuschuß an die Rentenversicherung geht, fast 25 Prozent pro Monat, dann muß ich bei Gott ein Wort wie ‚Sparen' wieder populär machen. Sparen heißt nicht ‚Einschnitte', sondern Sparen heißt, die Voraussetzungen dafür schaffen, daß dieser Staat langfristig handlungsfähig bleibt, daß der Sozialstaat langfristig bezahlbar ist. Und ein bezahlbarer Sozialstaat ist allemal wichtiger als eine reine Umverteilung, die zum Schluß endlich in wenigen Jahren an ihre Grenzen stößt.

    Nutz: Werden wir doch mal konkret. Wenn der Staat sich zurücknimmt: Aus welchen Bereichen kann er sich sozial verträglich zurückziehen?

    Metzger: Im Prinzip - den Zusammenhang habe ich angesprochen - durch eine Reform des Rentensystems, die langfristig weniger Steueranteil braucht in Relation zu den Gesamtausgaben. Dadurch, daß er versucht, im Bereich der Sozialpolitik die Zielgenauigkeit zu verbessern, mehr Anreize zu geben, daß die Leute sich aktiv mühen auch um ihre berufliche Zukunft, also alles tun, damit nicht Sozialleistungen als Ersatz dauerhaft lebenslang für eigene Erwerbsarbeit zum Tragen kommen. Die Kreditaufnahme gnadenlos zurückfahren, weil neue Schulden Steuererhöhungen von morgen sind. Und damit kommen wir natürlich dann in eine Situation, wo wir innerhalb von 5-6 Jahren bei einer Staatsquote sind irgendwo zwischen 40 und 45 Prozent. Das ist absolut erreichbar mit der Finanzpolitik, die die neue Koalition jetzt in der mittelfristigen Finanzplanung anstrebt. Das heißt ja nicht, daß dadurch insgesamt sozusagen jetzt sozialer Kahlschlag betrieben wird, sondern wir werden mit der Politik auch mehr Beschäftigung schaffen, weil die Konjunktur in Deutschland, die seit 10 Jahren fast - wenn Sie mal die Durchschnittswerte nehmen - unter den Wachstumsraten in Europa liegt, mit nur 1,8 Prozent real, weil durch eine Wachstumsstärkung, durch die Stärkung der Investitionsbereitschaft, auch durch eine andere Steuerpolitik das bewirkt werden kann, was in der alten Koalition nicht gelang in diesem Jahrzehnt, nämlich neue Arbeitsplätze zu schaffen.

    Nutz: Also weniger Lohnnebenkosten, mehr in der Lohntüte - bedeutet auf der anderen Seite wahrscheinlich, was Werner Müller mit ‚Flexibilität in der Tarifpolitik' meint, Lohnzurückhaltung, oder wie soll man das interpretieren? Lohnverzicht möglicherweise auch.

    Metzger: Ich interpretiere das so: Also, wenn die Gewerkschaften die Höhe der Lohnnebenkosten kritisieren, dann haben sie mich sofort auf ihrer Seite. Warum allerdings der normale Lohnkostenanteil kein Kostenblock ist, der tendenziell - wenn Sie über die Marktmöglichkeiten hinausgehen - Arbeitsplätze kostet, das verstehe ich nicht. Hier würde ich mir ein bißchen mehr Praxisbezug von den Gewerkschaften wünschen und nicht Aussagen platter Art wie gestern von Frau Engelen-Kefer. Der entscheidende Punkt ist doch folgender: Wenn man aus dem Blickwinkel der Arbeitsplatzbesitzer Lohnpolitik macht, dann kann man natürlich um%e streiten, logischerweise. Daß aber die relative Veränderung der Lohnkosten nicht nur ein Nachfrageproblem darstellt, sondern in erster Linie ein Kostenproblem für die Betriebe, auf das sie reagieren mit Rationalisierung, weiß inzwischen ein jeder Betriebsrat. Und deshalb haben sich meines Erachtens auch viele Betriebsräte in den letzten Jahren angesichts der Marktentwicklung ihrer Betriebe in Betriebsvereinbarungen mit ihren Betrieben auch vom Flächentarifvertrag verabschiedet. Also, den Gewerkschaften rate ich zu wesentlich mehr gesellschaftlicher Beobachtung. Es geht nicht um Appelle zu Lohnverzicht oder Nullrunden - damit Sie mich nicht falsch verstehen. Ich bin in einer Region hier in Oberschwaben ins Südwürttemberg, wo wir praktisch Vollbeschäftigung haben, 4 Prozent Arbeitslosenquote, wo die Maschinenbauindustrie in der Region Leute mit übertariflichen Leistungen versucht, zu bekommen. Dort sind Stellen nicht zu besetzen, weil der Arbeitsmarkt leergefegt ist. Wenn wir also eine Lohndifferenzierung wollen, dann heißt das ja nicht, daß die Arbeitnehmer nur maßhalten sollen, sondern es soll ein bezahlbarer Lohn sich am Markt entwickeln, der wettbewerbsfähig ist, der den Leuten die Kaufkraft läßt, der auch Produktivitätssteigerungen belohnt. Aber auch nicht mehr und nicht weniger.

    Nutz: Herr Metzger, die Rede ist jetzt bei dieser Konzeption für eine moderne Wirtschaftspolitik vom ‚Kurswechsel' der Regierung. Wird denn der Vorstoß des Wirtschaftsministers jetzt endlich der Leitfaden der künftigen Politik sein, und wird diese künftige Politik von den Grünen insgesamt mit gestützt?

    Metzger: Von der Grundphilosophie her heißt ordnungspolitisch fundierte Wirtschafts- und Finanzpolitik: Die Staatsaufgaben auf den Prüfstand, den Sozialstaat so reformieren, daß er langfristig bezahlbar ist, die Finanzen des Staates in Ordnung bringen, das heißt mehr konsolidieren, weniger Kreditaufnahme - im Prinzip ein Ziel: Ausgeglichene Haushalte zu schaffen . . .

    Nutz: . . . das wird das Konzept der Regierung sein in Zukunft? . . .

    Metzger: . . . ich bin überzeugt, daß dieser Paradigmawechsel, der jetzt spätestens mit dem Haushalt 2000 eingeleitet wurde, daß das das Konzept dieser Regierung sein wird, weil es erfolgreich sein wird.

    Nutz: Das die Grünen insgesamt mittragen werden?

    Metzger: Das werden die Grünen - die Fraktion - auf jeden Fall mittragen. In der Partei gibt es ja bereits seit Jahren eine Debatte für weniger Staatsverschuldung, für eine solide Finanzpolitik, für eine Wirtschaftspolitik, die die Rahmenbedingungen für den Mittelstand stärkt.

    Nutz: Vielen Dank. Im Deutschlandfunk war das Oswald Metzger, haushaltspolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Ich danke Ihnen für das Gespräch.