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Der Wolfspass. Abenteuer eines Dichterlebens

Der russische Dichter und Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko ist über 1,90 groß, hager wie ein Marathonläufer und 67 Jahre alt. Die Wildheit seiner Jugend muß er behalten haben. Denn zum Interview, eine Stunde vor seiner Lesung in Köln, kommt er förmlich angestürmt, in einem knallrot-, gelb- und braungestreiften Hemd, in karierten Hosen, und um den Hals ein gehäkelter bunter Brustbeutel. Ob heute, wann genau und wo das spanische Finale der Champions League übertragen würde? Will der Ex-Fußballprofi Jewtuschenko wissen. Gegen 20 Uhr auf tm3. Dann muß die Lesung kürzer werden, sagt er. Er setzt sich und wartet auf meine erste Frage. In seinen Augen sehe ich den selben stechenden und entschlossenen Blick, mit dem schon der Sechsjährige in die Kamera schaut. Diese und andere Fotografien finden sich in Jewtuschenkos jüngsten Autobiografie. Die erste Frage also: Warum nennen Sie die Abenteuer Ihres Dichterlebens "Wolfspass"?

Christoph Schmitz |
    "Der Ausdruck "Wolfspass" stammt noch aus der Zeit vor der Revolution. Es handelte sich um ein Dokument der Unzuverlässigkeit, man hatte damit einen sehr schlechten Ruf. Wenn jemand mit einem sogenannten "Wolfspaß" von der Universität ausgeschlossen worden war, hatte er es beispielsweise sehr schwer, woanders zum Studium angenommen zu werden oder eine Arbeit zu finden. Auf mich bezogen bedeutet der Ausdruck "Wolfspass", daß ich mein Leben lang eigentlich verdächtigt wurde, irgendwelche Dinge begangen zu haben, die ich nicht begangen hatte. Ich habe Rußland immer sehr geliebt, mein Leben lang. Und viele meiner Gedichte sind echte Volkslieder geworden, worauf ich sehr stolz bin, das ist das größte Kompliment für einen Dichter. Dennoch, als ich 1961 mein Poem Babij Jar über das Leid der Juden geschrieben habe, wurde ich beschuldigt ein Feind meines Volkes zu sein, obwohl ich nur ein anderes Volk in Schutz genommen hatte. Als ich einen Protestbrief gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in der Tschechoslowakei verfaßte, wurde ich beschuldigt, ein Antipatriot zu sein und ich würde mit meinen Worten die ganze sowjetische Armee beleidigen. Und noch kürzlich, als ich mein Buch "Stirb nicht vor deiner Zeit" veröffentlicht hatte, beschuldigte mich eine Pro-Jelzin-Zeitung, ich würde mit meinem Buch Jel-zin beleidigen, und eine Anti-Jelzin-Zeitung warf mir vor, ich würde dem Präsidenten schmeicheln. Das ist offenbar mein Schicksal. Inzwischen sehe ich das mit Humor."

    Jewtuschenkos Blick ist - damals wie heute - nicht nur ein stechender und entschlossener, sondern auch ein Blick uneingeschränkter Neugier und Zuwendung. Als müßte man ständig damit rechnen, daß der Dichter den Kopf seines Gegenüber mit beiden Händen umfaßt und ihn mit einem kräftigen Bruderkuß auf die Stirn belohnt. Auch davon ist in mancher Fotografie des Bandes etwas zu spüren: Jewtuschenko mit dem amerikanischen Dichter Robert Frost 1957 in Moskau, Jewutschenko mit Fidel Castro 1961 in Havanna, mit Pablo Picasso 162 in Frankreich, mit Luis Armstrong 168 in Mexico, mit Richard Nixon und Henry Kissinger 172 im Weißen Haus und Jewtuschenko mit Heiner Müller 1995 in Berlin. Jewtuschenko ist mit den Großen der Welt aus Kultur und Politik zusammengekommen. Uneitel läßt er die Begegnungen Revue passieren und liefert kleine anschauliche Porträts seiner Gesprächspartner, seiner Freunde, Frauen und Feinde. Die anfangs oft euphorische und später meist leidvolle Alltagsgeschichte der Sowjetbürger ist an diesem Künstlerleben ebenso abzulesen wie die politische Geschichte einer Großmacht. "Der Wolfspass" will aber weniger einen systematischen Rückblick oder die Chronologie eines engagierten und Aufsehen erregenden Lebens liefern. Der Text ist vielmehr eine mitunter willkürlich scheinende Mischung aus autobiografischen Episoden, politischen und poetologischen Ausführungen, Kommentaren und Meinungen. Ein Text wie Jewtuschenkos Leben, wie seine Dichtung, in der Privates und Politisches einander durchdringen?

    "Ja, ich denke schon. Unser ganzes Leben ist eine Collage, eine Collage aus allem Möglichen, eine Mischung aus allen möglichen Formen und Dingen. Die Vielfalt der Texte in "Der Wolfspass" ist auch wichtig, um mich als Dichter zu verstehen. Manches bliebe unverständlich, wenn ich in diesem Buch beispielsweise nicht die Geschichte meiner vier Frauen aufgenom-men hätte. Dann würde man mich als Dichter und auch als politischen Menschen weniger begreifen. Dieses Buch hat keine geschlossene Form, es ist nicht einmal eine geschlossene Autobiografie. Es gibt sehr große Leerräume. Ich schreibe jetzt gerade wieder an einem autobiografischem Buch über meine Kindheit und parallel dazu über meine erste Reise in die USA 1960. Danach werde ich ein Buch über die Cubakrise schreiben, weil ich, obwohl ich nicht Mitglied der Partei gewesen bin, seinerzeit Korrespondent auf Cuba war. Und ich habe damals gesehen, daß der Frieden in der Welt wirklich an einem seidenen Faden hing. Ich habe damals mit Che Guevara einmal wöchentlich von 12 bis vier Uhr früh geredet. Und außerdem hatte ich damals noch eine fantastische Liebesgeschichte. Und das alles vermischte sich in meinem Leben."

    Jewtuschenko erzählt im Interview mit zunehmender Begeisterung und läßt sich vom eigenen Enthusiasmus zu fabulierenden Exkursen mitreißen. Mitreißen läßt er sich auch in seiner Autobiografie und neigt zu richtigen Übertreibungen. In den Adern einer seiner Frauen, schreibt er, "galoppierte ungezähmtes tatarisches Blut", "und wir schwammen in die Augen des anderen hinein und kehrten von dort nicht mehr zurück". Jewtuschenko scheut weder vor Kitsch, Schwulst und Pathos, noch vor philosophischen Platitüden zurück. So ist "Der Wolfspass" oft mehr als alles andere das Dokument eines Temperaments. Hinter der pathetischen Geste, mit der Jewtuschenko etwa die Schönheit und Tugenden seiner Liebsten preist, ist unschwer ein schlechtes und reuiges Gewissen zu erkennen, das mit dem Lob des anderen das eigene Versagen kompensieren möchte. Mangelnde Fähigkeit zur Selbstkritik kann man dem Autor aber nicht vorwerfen. Persönliche und professionelle Mängel nennt er beim Namen.

    "Es heißt manchmal, ich hätte über mich selbst soviel Negatives gesagt und geschrieben, wie das sonst kein anderer Schriftsteller tut. Ich habe mal in einem Interview gesagt, daß 70% von dem, was ich geschrieben habe, Müll ist. Wenn auch aufrichtiger Müll. Ich lehre derzeit in Oklahoma und habe einen Vorlesungszyklus mit dem Titel Jewtuschenko über Jewtuschenko gemacht. Und die fünf letzten Vorlesungen waren meinen schlechtesten Gedichten gewidmet, um den jungen Leuten zu zeigen, wie man es eben nicht macht."

    In den kleinen Episoden liegen die Stärken von Jewtuschenkos Autobiografie, Episoden von großer Intensität, die mehr über einen Charakter und seine Zeit aussagen, als alle hochtrabenden Reflexionen. Das ungleich stärkste Kapitel ist jedoch das erste, in dem Jewtuschenko von den Umständen seiner Geburt erzählt. Weniger schön aber ist es, wenn man in einer Anmerkung des Verlags liest, daß ein Kapitel in "Der Wolfspass" - immerhin rund 80 von 430 Seiten - bereits in Jewtuschenkos letztem Roman "Stirb nicht vor deiner Zeit" enthalten ist. Richtig ärgerlich ist es, wenn man entdeckt, daß ein weiteres Kapitel, "Vorzeitige Autobiografie", zumindest in weiten Teilen mit einem autobiografischen Text identisch ist, der schon einmal in den frühen 60er Jahren auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. Das aber verraten weder Autor noch Verlag.

    Die Heterogenität des Textes entpuppt sich mitunter als Flickschusterei. Und so hätte es auch nicht geschadet, wenn Dokumente, die das russische Original enthält, in die deutsche Ausgabe nicht gestrichen worden wären, Dokumente, die Jewtuschenkos politischen Standpunkt sogar deutlicher gemacht hätte.

    "Leider sind in der deutschen Ausgabe aus Umfanggründen Dokumente vom KGB, von KGB-Leuten, die mich observiert haben und die meine Gedichte zensiert haben, nicht eingeflossen. Und Simitschastni, seinerzeit sowjetischer KGB- Chef, hatte sogar gesagt, die Gedichte von Jewtuschenko sind gefährlicher als hundert Dissidenten. Er begriff damals natürlich nicht, daß er mir damit ein großes Kompliment gemacht hat. Trotzdem habe ich mit meinen Gedichten eigentlich nie einer bestimmten weltanschaulichen Richtung, einer bestimmten Partei angehört. Ich gehörte nicht zu den Linken, nicht zu diesen, nicht zu jenen, ich war immer ein sibirisches Wolfsjunges. Den extremen Dissidenten war ich immer zu sozialistisch, den Sozialisten war ich zu antisowjetisch, womit ich eigentlich ganz zufrieden bin. Ich teile Sacharows Ansicht, daß sich sowohl der Sozialismus in unserer Version als auch der Kapitalismus in Ihrer Version überlebt und diskreditiert hat. Ich bin mir sicher, daß irgendwann eine andere, eine dritte Gesellschaftsform gefunden wird."

    Soweit meine Fragen, Herr Jewtuschenko. Aber der will weiter reden, obwohl die Zeit wegen seiner Lesung am Abend drängt, er will erzählen und den Interviewer schließlich selbst befragen, seine Neugierde ist eben grenzenlos. Ein Mensch, der die Welt umarmen möchte.

    "Das ist wohl wahr. Aber Robert Frost, der amerikanische Dichter, hat mir gesagt, weißt du was, du willst die ganze Welt umarmen, aber Leute die die ganze Welt umarmen, haben meistens keine Zeit die eigene Frau zu umarmen. Und das ist leider auch wahr.