Rüdiger Achenbach: Herr Ginzel, der Zionismus ist eine Bewegung, die im 19. Jahrhundert beginnt. Der Begriff "Zion" hat zunächst eine lange Tradition in der jüdischen Religion, denn mit dem "Zion" sind bestimmte heilsgeschichtliche Erwartungen verbunden.
Günther Bernd Ginzel: "Zion", das steht sozusagen meist für ein Stückchen mehr – wenigstens dann hinterher in der späteren prophetischen und rabbinischen Literatur – als Jerusalem. Das irdische Jerusalem – das himmlische Zion, das ist natürlich nie so deutlich getrennt. Aber mit Zion, der Stadt Davids, mit Zion, sozusagen dem Sitz des zukünftigen Messias, Zion, von dem aus der Ruf geht an die Völker der Welt und die Einladung zur Wallfahrt nach Jerusalem, weil die Endzeit, die messianische Zeit angebrochen ist. Zion ist sozusagen die große Vision des Mündungspunktes jüdischer Geschichte und jüdischer Existenz, nämlich in die messianische Zeit.
Achenbach: Das heißt, es handelt sich aus religiöser Sicht eigentlich um eine passive Grundeinstellung: Man muss warten, bis Gott den Messias schickt.
Ginzel: Man muss warten, denn natürlich: Gott, der allein weiß, wann und warum – oder warum nicht. Aber: Der Jude ist eben nicht passiv. Das darf man nie vergessen. Man wird jüdische Diskussionen, ob politisch oder religiös, nie verstehen, wenn man dieses Grundelement außer Acht lässt: Der Einzelne ist zum Tun aufgerufen. Und das geht so weit, wie es dann in der nachbiblischen Zeit ausdrücklich hieß: wir sind es, die die messianische Zeit aufhalten. Wir sind nicht so gerecht, wir sind nicht so voller Nächstenliebe.
Achenbach: Man verzögert durch eine nicht richtige oder angemessene Lebenshaltung auch die Zionserwartung.
Ginzel: Man verzögert oder man beschleunigt, und das zeigt einmal mehr dieses Ineinandergreifen von individuellem und kollektivem Glauben. Das heißt, der Einzelne durch sein Tun – an dir ist es – du kannst die Welt retten, indem du ein Menschenleben rettest – du kannst die Welt vernichten, indem du einen Menschen ermordest. Das heißt, der Einzelne mit seinem Tun ist stets eingebettet in das Schicksal des Kollektivs.
Achenbach: Der Zionismus, wie er dann im 19. Jahrhundert entsteht, löst sich dann ja größtenteils von der rein religiösen Interpretation.
Ginzel: Er löst sich auf das Weitestgehende, was ja auch zur Folge hatte, dass im Grunde alles, was wirklich nennenswert religiös war, strikt antizionistisch war. Sie sahen darin ein gotteslästerliches Tun. Das bedeutet, dass das Schicksal der Galut, des Exils, der Diaspora, wie es später hieß, selbst verschuldet war durch unsere Vorfahren. Sie haben durch ihr falsches Tun dafür Sorge getragen, so war die religiöse Interpretation über anderthalb Jahrtausende ungebrochen und nicht infrage gestellt, sodass also die Rabbinen auf den politisch motivierten Zionismus im 19. Jahrhundert deswegen so allergisch reagierten, weil sie gesagt haben: Es ist nicht am Menschen, zur Rückkehr nach Zion aufzurufen, sondern ausschließlich am Messianismus, wie in den pseudo-messianischen Bewegungen Jahrhunderte zuvor ja auch immer geschehen.
Achenbach: Der Erste, der dann im 19. Jahrhundert den Gedanken der Heimkehr der Juden ins Land der Väter generell durchdachte, war ja dann Moses Hess.
Ginzel: Ja, doch das ist wieder ganz bezeichnend: Die Geschichte des Zionismus erinnert uns natürlich an eine untergegangene Welt, insofern nämlich an ein europäisches Judentum deutscher Sprache. Die Sprache des Zionismus war, was die großen Deklarationen anbelangt, vor allen Dingen Deutsch. Das konnte in Budapest sein, das konnte ein Leon Pinsker in Odessa sein, das konnten später die Zionistenkongresse sein, wo Deutsch offizielle Sprache neben Jiddisch war. Und es war natürlich – es waren die Vordenker, wie Moses Hess.
Moses Hess, in Bonn geboren, einer, der eben aus einem frommen Haus kam, aus dem er herausgewachsen ist, was jetzt die Frömmigkeit anbelangte, der aber die Ideale des Judentums umsetzte, wie zahllose Bürgersöhnchen überhaupt, in ein Bestreben um soziale Gerechtigkeit. Das heißt, aus der Situation der Minderheit, aus der Situation der Diskriminierung kommend, hatten diese jungen Juden jetzt ein äußerst geschärftes Bild auf die Missstände der Gesellschaft insgesamt, und darauf, dass nicht nur Juden unterdrückt waren, zum Teil noch sind, sondern unendlich viele, vor allem das, was man dann "die Arbeiterschaft" nannte, "die Handwerkerschaft", die Handwerkerburschen. So, und deswegen waren sie Sozialisten. Moses Hess – auf seinem Grabstein in Köln, da steht darauf: "Vater der deutschen Arbeiterbewegung"!
Das Erkennen, die Hoffnung, dass in dieser neuen sozialen Aufbruchsstimmung, in Aufklärung, in Gleichheit und Gleichberechtigung und natürlich in der Arbeiterbewegung, im Sozialismus, wo man natürlich immer hoffte: Dieses überwindet den Antisemitismus, dieses schafft die Gleichheit für Juden, aber auch für alle anderen. Man sah sich in diesem Geflecht des Weges in die Freiheit und erkannte plötzlich, dass überall ihnen Grenzen durch den Antisemitismus gesetzt wurden. Da gab es das Lästern. Marx und Engels haben in ihren Briefen über den "Kommunisten-Rabbi Moses Hess" gelästert. Es gab eine ausgeprägte marxistische Judenfeindschaft bei den frühen Sozialisten, die jetzt das Judentum in der gleichen arroganten Verkürzung, wie das die konservativen Gegenparts auf der anderen Seite machten, indem sie dort die Juden für den Kapitalismus, da für den Sozialismus verantwortlich machten. Das hat viele irritiert.
Und dann kommt ein ganz entscheidendes Ereignis: 1840 – Ritualmordfall, wie es hieß, in Damaskus. Mitten in diese Aufbruchstimmung, in diese Neuzeit, in diese wissenschaftsorientierte Zeit, wo alles anders, alles besser werden sollte, brach der alte Judenhass mittelalterlicher Prägung und religiöser Prägung wieder zu, und das sogar drüben in fernem, islamischem Lande, nämlich die Beschuldigung, Juden würden nichtjüdische Kinder schlachten und deren Blut trinken. Das hat Moses Hess unglaublich erschüttert, auch, wie viele reaktionäre Kreise das in Europa aufgegriffen haben zu antijüdischer Polemik. Und somit schreibt er seinen Klassiker der zionistischen frühen Literatur "Rom und Jerusalem". Es ist ein Aufschrei, es ist eine Vision: Wir bauen die sozial gerechte Welt in Zion. Es beschreibt sozusagen die Trotzreaktion vieler, die dann zum Zionismus bei einzelnen und hinterher bei ganz vielen führte.
Achenbach: Und man kann schon sagen: Er war der Vordenker des Sozialismus.
Ginzel: Er war der Vordenker in einer ganz entscheidenden Bewegung. Man hatte das Gefühl: dort, wo man so dachte, – ' mit "man" bedeutet nicht "die Juden", sondern die kleine Minderheit, die sich jetzt in Richtung Zionismus bewegte – innerjüdisch! – ' :Wenn die Völker Europas, viele von ihnen lange unterdrückt, wie zum Beispiel das Volk der Polen, wenn die um Unabhängigkeit ringen, Unabhängigkeit gewinnen, sind wir als Juden, die wir überall, wo immer wir uns um Einbürgerung, um Teilhabe bemühen, aber zurückgedrängt werden, vielleicht sind wir doch ein Volk, vielleicht müssen wir, ähnlich wie andere Völker, jetzt nicht im religiösem Sinne, uns als Volk definieren, nicht als Gottes Volk, sondern im Nationalen, – ' bedeutet es, dass wir eine Kulturnation sind, die einen Anspruch hat, sich auch in einer eigenen Nation zu manifestieren?
Zweitens: Neben diesen allgemeinen, nationalistischen Ideen, die in der Zeit waren, griff man natürlich vor allem den Gedanken auf: wenn es eine jüdische Gesellschaft geben sollte, dann soll sie eine gerechte sein. Auch die säkularen Juden haben stets, bis in die Gründungsgeschichte – später! – Israels hinein daran festgehalten: als Volk der Bibel, was ist für uns Bibel, Zedaka, Gerechtigkeit? Soziale Gerechtigkeit? Stichwort: Kibbuz-Bewegung.
Achenbach: Das heißt also: Anlässlich des zunehmenden Antisemitismus im 19. Jahrhundert gab es dann die ersten Zweifel, ob eine Assimilation der Juden in der europäischen Gesellschaft überhaupt möglich ist. Die ersten Gedanken kommen bei Moses Hess, und dann wird es noch viel deutlicher in der Analyse bei Leon Pinsker, dem russischen Arzt, ein aufgeklärter Mann, der sich ja intensiv damit beschäftigt hat und dann auch ein bekanntes Buch herausbringt mit dem Titel "Autoemanzipation" Und Pinsker hat ja dann auch den Begriff der "Geister-Nation". Er sagt: Solange wir eine Geister-Nation in den anderen Nationen sind, werden wir immer wieder Ängste hervorrufen. Von daher wird es nicht funktionieren, dass wir uns assimilieren, sondern unser Hauptproblem ist die Heimatlosigkeit des jüdischen Volkes. Daran müssen wir arbeiten.
Ginzel: Genau! Das ist die Grundthese. Wir müssen sehen: Wenn wir von Auswanderung sprechen, wenn wir von dem Ruf sprechen. Wandert aus nach Zion!, haben sich selten die westeuropäischen Zionisten angesprochen gefühlt, sondern die haben immer gedacht: für die armen Geschwister im Osten. Die haben im Grunde genommen auch nur eine Überlebenschance, wenn sie das tun. Im Grunde genommen, Herr Achenbach, am Anfang, was die Organisation anbelangt, steht das bürgerliche Judentum, das die Zionistenkongresse – Stichwort: Theodor Herzl – ' hervorgebracht hat. Das war notwendig für die Organisation, das war notwendig für die Reputation in der Welt, das war notwendig, um weltweite Kontakte anzuknüpfen. Die Stoßrichtung aber, wenn es hieß: Auswandern, besiedeln, Kolonien gründen, das waren die proletarischen, die armen Massen aus den Gettos. An die dachte man.
Achenbach: Man schaute nach Osten.
Ginzel: Man schaute nach Osten, und im Osten schaute man natürlich auch dann vor allen Dingen nach unten. Aber das alles spielt in diese Bewegung rein, und von daher ist Zionismus von Anfang an auch ein "Fleckerlteppich".
Die Idee eines jüdischen Staates
Der Zionismus von den Anfängen bis zur Gegenwart
Die Idee eines jüdischen Staates: Der Zionismus von den Anfängen bis zur Gegenwart
Günther Bernd Ginzel: "Zion", das steht sozusagen meist für ein Stückchen mehr – wenigstens dann hinterher in der späteren prophetischen und rabbinischen Literatur – als Jerusalem. Das irdische Jerusalem – das himmlische Zion, das ist natürlich nie so deutlich getrennt. Aber mit Zion, der Stadt Davids, mit Zion, sozusagen dem Sitz des zukünftigen Messias, Zion, von dem aus der Ruf geht an die Völker der Welt und die Einladung zur Wallfahrt nach Jerusalem, weil die Endzeit, die messianische Zeit angebrochen ist. Zion ist sozusagen die große Vision des Mündungspunktes jüdischer Geschichte und jüdischer Existenz, nämlich in die messianische Zeit.
Achenbach: Das heißt, es handelt sich aus religiöser Sicht eigentlich um eine passive Grundeinstellung: Man muss warten, bis Gott den Messias schickt.
Ginzel: Man muss warten, denn natürlich: Gott, der allein weiß, wann und warum – oder warum nicht. Aber: Der Jude ist eben nicht passiv. Das darf man nie vergessen. Man wird jüdische Diskussionen, ob politisch oder religiös, nie verstehen, wenn man dieses Grundelement außer Acht lässt: Der Einzelne ist zum Tun aufgerufen. Und das geht so weit, wie es dann in der nachbiblischen Zeit ausdrücklich hieß: wir sind es, die die messianische Zeit aufhalten. Wir sind nicht so gerecht, wir sind nicht so voller Nächstenliebe.
Achenbach: Man verzögert durch eine nicht richtige oder angemessene Lebenshaltung auch die Zionserwartung.
Ginzel: Man verzögert oder man beschleunigt, und das zeigt einmal mehr dieses Ineinandergreifen von individuellem und kollektivem Glauben. Das heißt, der Einzelne durch sein Tun – an dir ist es – du kannst die Welt retten, indem du ein Menschenleben rettest – du kannst die Welt vernichten, indem du einen Menschen ermordest. Das heißt, der Einzelne mit seinem Tun ist stets eingebettet in das Schicksal des Kollektivs.
Achenbach: Der Zionismus, wie er dann im 19. Jahrhundert entsteht, löst sich dann ja größtenteils von der rein religiösen Interpretation.
Ginzel: Er löst sich auf das Weitestgehende, was ja auch zur Folge hatte, dass im Grunde alles, was wirklich nennenswert religiös war, strikt antizionistisch war. Sie sahen darin ein gotteslästerliches Tun. Das bedeutet, dass das Schicksal der Galut, des Exils, der Diaspora, wie es später hieß, selbst verschuldet war durch unsere Vorfahren. Sie haben durch ihr falsches Tun dafür Sorge getragen, so war die religiöse Interpretation über anderthalb Jahrtausende ungebrochen und nicht infrage gestellt, sodass also die Rabbinen auf den politisch motivierten Zionismus im 19. Jahrhundert deswegen so allergisch reagierten, weil sie gesagt haben: Es ist nicht am Menschen, zur Rückkehr nach Zion aufzurufen, sondern ausschließlich am Messianismus, wie in den pseudo-messianischen Bewegungen Jahrhunderte zuvor ja auch immer geschehen.
Achenbach: Der Erste, der dann im 19. Jahrhundert den Gedanken der Heimkehr der Juden ins Land der Väter generell durchdachte, war ja dann Moses Hess.
Ginzel: Ja, doch das ist wieder ganz bezeichnend: Die Geschichte des Zionismus erinnert uns natürlich an eine untergegangene Welt, insofern nämlich an ein europäisches Judentum deutscher Sprache. Die Sprache des Zionismus war, was die großen Deklarationen anbelangt, vor allen Dingen Deutsch. Das konnte in Budapest sein, das konnte ein Leon Pinsker in Odessa sein, das konnten später die Zionistenkongresse sein, wo Deutsch offizielle Sprache neben Jiddisch war. Und es war natürlich – es waren die Vordenker, wie Moses Hess.
Moses Hess, in Bonn geboren, einer, der eben aus einem frommen Haus kam, aus dem er herausgewachsen ist, was jetzt die Frömmigkeit anbelangte, der aber die Ideale des Judentums umsetzte, wie zahllose Bürgersöhnchen überhaupt, in ein Bestreben um soziale Gerechtigkeit. Das heißt, aus der Situation der Minderheit, aus der Situation der Diskriminierung kommend, hatten diese jungen Juden jetzt ein äußerst geschärftes Bild auf die Missstände der Gesellschaft insgesamt, und darauf, dass nicht nur Juden unterdrückt waren, zum Teil noch sind, sondern unendlich viele, vor allem das, was man dann "die Arbeiterschaft" nannte, "die Handwerkerschaft", die Handwerkerburschen. So, und deswegen waren sie Sozialisten. Moses Hess – auf seinem Grabstein in Köln, da steht darauf: "Vater der deutschen Arbeiterbewegung"!
Das Erkennen, die Hoffnung, dass in dieser neuen sozialen Aufbruchsstimmung, in Aufklärung, in Gleichheit und Gleichberechtigung und natürlich in der Arbeiterbewegung, im Sozialismus, wo man natürlich immer hoffte: Dieses überwindet den Antisemitismus, dieses schafft die Gleichheit für Juden, aber auch für alle anderen. Man sah sich in diesem Geflecht des Weges in die Freiheit und erkannte plötzlich, dass überall ihnen Grenzen durch den Antisemitismus gesetzt wurden. Da gab es das Lästern. Marx und Engels haben in ihren Briefen über den "Kommunisten-Rabbi Moses Hess" gelästert. Es gab eine ausgeprägte marxistische Judenfeindschaft bei den frühen Sozialisten, die jetzt das Judentum in der gleichen arroganten Verkürzung, wie das die konservativen Gegenparts auf der anderen Seite machten, indem sie dort die Juden für den Kapitalismus, da für den Sozialismus verantwortlich machten. Das hat viele irritiert.
Und dann kommt ein ganz entscheidendes Ereignis: 1840 – Ritualmordfall, wie es hieß, in Damaskus. Mitten in diese Aufbruchstimmung, in diese Neuzeit, in diese wissenschaftsorientierte Zeit, wo alles anders, alles besser werden sollte, brach der alte Judenhass mittelalterlicher Prägung und religiöser Prägung wieder zu, und das sogar drüben in fernem, islamischem Lande, nämlich die Beschuldigung, Juden würden nichtjüdische Kinder schlachten und deren Blut trinken. Das hat Moses Hess unglaublich erschüttert, auch, wie viele reaktionäre Kreise das in Europa aufgegriffen haben zu antijüdischer Polemik. Und somit schreibt er seinen Klassiker der zionistischen frühen Literatur "Rom und Jerusalem". Es ist ein Aufschrei, es ist eine Vision: Wir bauen die sozial gerechte Welt in Zion. Es beschreibt sozusagen die Trotzreaktion vieler, die dann zum Zionismus bei einzelnen und hinterher bei ganz vielen führte.
Achenbach: Und man kann schon sagen: Er war der Vordenker des Sozialismus.
Ginzel: Er war der Vordenker in einer ganz entscheidenden Bewegung. Man hatte das Gefühl: dort, wo man so dachte, – ' mit "man" bedeutet nicht "die Juden", sondern die kleine Minderheit, die sich jetzt in Richtung Zionismus bewegte – innerjüdisch! – ' :Wenn die Völker Europas, viele von ihnen lange unterdrückt, wie zum Beispiel das Volk der Polen, wenn die um Unabhängigkeit ringen, Unabhängigkeit gewinnen, sind wir als Juden, die wir überall, wo immer wir uns um Einbürgerung, um Teilhabe bemühen, aber zurückgedrängt werden, vielleicht sind wir doch ein Volk, vielleicht müssen wir, ähnlich wie andere Völker, jetzt nicht im religiösem Sinne, uns als Volk definieren, nicht als Gottes Volk, sondern im Nationalen, – ' bedeutet es, dass wir eine Kulturnation sind, die einen Anspruch hat, sich auch in einer eigenen Nation zu manifestieren?
Zweitens: Neben diesen allgemeinen, nationalistischen Ideen, die in der Zeit waren, griff man natürlich vor allem den Gedanken auf: wenn es eine jüdische Gesellschaft geben sollte, dann soll sie eine gerechte sein. Auch die säkularen Juden haben stets, bis in die Gründungsgeschichte – später! – Israels hinein daran festgehalten: als Volk der Bibel, was ist für uns Bibel, Zedaka, Gerechtigkeit? Soziale Gerechtigkeit? Stichwort: Kibbuz-Bewegung.
Achenbach: Das heißt also: Anlässlich des zunehmenden Antisemitismus im 19. Jahrhundert gab es dann die ersten Zweifel, ob eine Assimilation der Juden in der europäischen Gesellschaft überhaupt möglich ist. Die ersten Gedanken kommen bei Moses Hess, und dann wird es noch viel deutlicher in der Analyse bei Leon Pinsker, dem russischen Arzt, ein aufgeklärter Mann, der sich ja intensiv damit beschäftigt hat und dann auch ein bekanntes Buch herausbringt mit dem Titel "Autoemanzipation" Und Pinsker hat ja dann auch den Begriff der "Geister-Nation". Er sagt: Solange wir eine Geister-Nation in den anderen Nationen sind, werden wir immer wieder Ängste hervorrufen. Von daher wird es nicht funktionieren, dass wir uns assimilieren, sondern unser Hauptproblem ist die Heimatlosigkeit des jüdischen Volkes. Daran müssen wir arbeiten.
Ginzel: Genau! Das ist die Grundthese. Wir müssen sehen: Wenn wir von Auswanderung sprechen, wenn wir von dem Ruf sprechen. Wandert aus nach Zion!, haben sich selten die westeuropäischen Zionisten angesprochen gefühlt, sondern die haben immer gedacht: für die armen Geschwister im Osten. Die haben im Grunde genommen auch nur eine Überlebenschance, wenn sie das tun. Im Grunde genommen, Herr Achenbach, am Anfang, was die Organisation anbelangt, steht das bürgerliche Judentum, das die Zionistenkongresse – Stichwort: Theodor Herzl – ' hervorgebracht hat. Das war notwendig für die Organisation, das war notwendig für die Reputation in der Welt, das war notwendig, um weltweite Kontakte anzuknüpfen. Die Stoßrichtung aber, wenn es hieß: Auswandern, besiedeln, Kolonien gründen, das waren die proletarischen, die armen Massen aus den Gettos. An die dachte man.
Achenbach: Man schaute nach Osten.
Ginzel: Man schaute nach Osten, und im Osten schaute man natürlich auch dann vor allen Dingen nach unten. Aber das alles spielt in diese Bewegung rein, und von daher ist Zionismus von Anfang an auch ein "Fleckerlteppich".
Die Idee eines jüdischen Staates
Der Zionismus von den Anfängen bis zur Gegenwart
Die Idee eines jüdischen Staates: Der Zionismus von den Anfängen bis zur Gegenwart