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Der Zusammenbruch der Sleipner-Plattform

Mathematik. - In der Nordsee stehen fast 500 Bohrinseln, auf ihnen arbeiten mehr als 100.000 Menschen. Um den Naturgewalten zu trotzen, müssen sie extrem stabil konstruiert werden. An einem Augusttag des Jahres 1991 kam es dann zur Katastrophe, als die Bohrinsel Sleipner A zusammenbrach – und zwar wegen eines Rechenfehlers.

Von Frank Grotelüschen |
    150 Kilometer vor der Küste Norwegens. Der Hubschrauber fliegt auf eine Bohrinsel zu – ein stählernes Monstrum, groß wie ein Fußballfeld. 40 Meter über der Nordsee ruht es auf vier mächtigen Betonstelzen. Sleipner A, so heißt die Plattform. Tag für Tag fördert sie gewaltige Mengen an Erdgas. Doch ihr Bau in der frühen 90er Jahren stand unter keinem guten Stern.

    "Die erste Konstruktion, der erste Bau, ist bei der Testbelastung gebrochen und gesunken,"

    erzählt Roman Unger, Mathematiker an der Technischen Universität Chemnitz. Was war passiert? Nun – am 23. August 1991 war der erste Bauabschnitt von Sleipner A fertig, die vier Betonpfeiler und der Unterbau der Plattform. Die Ingenieure wagten einen Belastungstest. Doch plötzlich ertönte ein lautes Dröhnen und Krachen: Die Betonstruktur brach in sich zusammen, die Plattform versank in den Fluten. Zum Glück war niemand auf dem Rohbau, es gab weder Tote noch Verletzte. Die Ursache für dieses Missgeschick hat mit einem mathematischen Verfahren zu tun, das im Ingenieurswesen schon lange zum Standard gehört – der Finite-Elemente-Methode.

    "Das ist eine sehr weit anwendungsfähige Methode der numerischen Mathematik. Die kann nicht einfach mit Bleistift und Papier gelöst werden. Sondern dazu braucht man Rechentechnik. Dazu braucht man numerische Verfahren, um eine Lösung zu finden."

    Die Finite-Elemente-Methode ist eine Art virtueller Belastungstest. Konkret funktioniert sie so: Um herauszufinden, ob ein bestimmtes Bauteil – sagen wir der Betonpfeiler einer Bohrinsel – stabil genug ausgelegt ist, bilden ihn die Ingenieure als dreidimensionales Modell im Computer nach. Dieses 3D-Modell unterteilen sie in lauter kleiner Kästchen, finite Elemente genannt. Danach startet die Simulation. Dabei wirken auf den Modellbetonpfeiler virtuelle Kräfte ein. Der Computer rechnet nun für jedes Kästchen einzeln aus, welchen Beitrag es zur Belastung liefert, den der Betonpfeiler zu ertragen hat. Das Resultat:

    "Sie erhalten aufgrund dieser Berechnungen in diesen kleinen Kästchen eine Näherung der auftretenden Spannungen und Verformungen des Bauteils. Und Sie wissen: Anhand von Materialeigenschaften sind diese Spannungen für dieses Material zulässig, oder sie sind zu hoch, und es wird zum Bruch führen."

    Aber Vorsicht, warnt Unger. Die Methode hat ihre Grenzen. Schließlich handelt es sich um eine Näherungsverfahren. Das Problem:

    "Sie können ja nicht beliebig viele solcher finiter Elemente nehmen. Sondern Sie haben eine gewisse Größe, die Sie in den Rechner packen können. Und ab gewissen Größen schafft es Ihr Computer nicht mehr, das zu berechnen, weil es einfach zu aufwändig wird."

    Genau das betraf auch die Konstrukteure der Sleipner-Bohrinsel in den frühen 90ern. Mit den damals verfügbaren Computern konnten sie nur ein relativ grobes Kästchenraster verwenden, und das ging auf Kosten der Genauigkeit. Außerdem mussten sie einige der Größen, die in die Simulation eingingen, schätzen – eine weitere Fehlerquelle. Die Folge:

    "Bei Sleipner A sind Scherspannungen unterschätzt worden. Die wirklichen Scherspannungen in diesen Betonfundamenten waren um einiges größer, es war ein Fehler von 47 Prozent, als die Scherspannungen, die die Finite-Elemente-Berechnung geliefert hat."

    Infolge ihrer Fehlberechnung legten die Ingenieure die Betonwände der Pfeiler viel zu schwach aus. Als dann beim realen Belastungstest die Nordsee gegen die Pfeiler drückte, wurden die Scherkräfte, also die von der Seite angreifenden Kräfte so groß, dass der Beton brach und die Plattform sank. Der Schaden: rund 700 Millionen Dollar. Missgeschicke wie dieses könnten vielleicht vermieden werden, wenn die Ingenieure enger mit den Mathematikern zusammenarbeiten würden, meint Roman Unger.

    "Ich finde, es muss dort eine gute Zusammenarbeit bestehen. Grundlagenforschung nützt nichts, wenn sie nie die neuen Methoden für den Anwender zur Verfügung stellt. Und auf der anderen Seite ist es natürlich auch ungünstig, wenn auf der Anwendungsseite nur mit Software gearbeitet wird und dieser einfach blind vertraut wird, ohne ein Feedback zum Entwickler dieser Programme zu haben."

    Der norwegische Energiekonzern Statoil ließ die versunkene Plattform übrigens bald nach dem Vorfall wieder heben, rechnete die Belastung mit verbesserter Software noch einmal durch und stattete die Plattform mit vier deutlich stabileren Betonpfeilern aus. 1993 ging Sleipner A in Betrieb. Heute arbeiten hier 240 Leute und holen pro Tag 22 Millionen Kubikmeter Erdgas aus dem Meeresgrund.