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Derzeit kein Boomjahr am Bosporus

In zehn Jahren feiert die Türkei ihr 100-jähriges Bestehen. Ministerpräsident Tayyip Erdogan hat für das Jubiläumsjahr ein ehrgeiziges Ziel ausgegeben: Die Türkei solle bis dahin zu den zehn größten Wirtschaftsnationen der Welt gehören. Im Moment deutet aber wenig darauf hin, dass dieses Ziel erreicht werden kann.

Von Christian Buttkereit |
    So häufig mussten die Betreiber der Wechselstuben die Anzeigetafeln schon lange nicht mehr aktualisieren. Die türkische Lira erlebt die schwerste Abwertung seit zehn Jahren. Ein Dollar kostet seit dem Wochenende zwei Lira. Für einen Euro gibt es inzwischen 2,70 Lira, vor zwei Wochen waren es noch 2,50. Seit Jahresbeginn hat die Lira fast neun Prozent an Wert verloren. Die Istanbuler Börse büßte innerhalb von drei Monaten 27 Prozent ein. Finanzminister Mehmet Şimşek sieht trotzdem keine Gefahr. Der Bankensektor sei stabil und die Türkei lediglich Teil der internationalen Entwicklung. Trotzdem versucht, die türkische Zentralbank gegenzusteuern. In der vergangenen Woche erhöhte sie den Leitzins um 0,5 Prozentpunkte auf 7,75 Prozent – ohne spürbaren Erfolg. Aus Sicht des renommierten türkischen Wirtschaftsjournalisten Mustafa Sönmez der Beginn einer negativen Entwicklung:

    "Die türkische Wirtschaft wächst im Wesentlichen durch ausländisches Geld. Dies erfolgt auf drei Wegen: den direkten Eingang ausländischen Kapitals, beispielsweise. Durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen oder durch ausländische Beteiligung an türkischen Banken oder ausländisches Kapital fließt über die Istanbuler Aktienbörse in Wertpapiere. Oder türkische Banken und Unternehmen nehmen im Ausland mittel- und langfristige Kredite auf. Über diese Wege sind in den vergangenen zehn Jahren rund 300 Milliarden Euro in die Türkei geflossen."

    Das ausländische Kapital befeuert Großprojekte wie den neuen Istanbuler Flughafen oder die dritte Bosporusbrücke. Motoren der türkischen Wirtschaft. Doch allein im Juli zogen Investoren drei Milliarden Dollar aus der Türkei ab. Als Gründe dafür spielen die politischen Unruhen rund um den Istanbuler Gezi-Park nach Meinung der meisten Experten eine untergeordnete Rolle. So sieht es auch Necip Bagoglu von der German trade & Invest GMBH in Istanbul:

    "Dieser Abfluss, den wir jetzt beobachtet haben, ist ein Teil der Entwicklung, dass die Anleger generell aus Schwellenländern sich zurückziehen wegen der abnehmenden Risikobereitschaft infolge der zu erwartenden Entwicklung in den USA, in Europa was die Zins- und Geldpolitik der Zentralbanken angeht, deshalb denke ich einmal, dass diese Ausschreitungen der letzten Monate keine großen oder auch nachwirkenden Effekte haben werden."

    Trotzdem, die Boomjahre in denen die Türkei als China am Bosporus galt, dürften erst einmal vorbei sein, meint Bagoglu und verweist auf einige Risiken.

    "Also erst mal ist die türkische Wirtschaft in den letzten Jahren immer exportabhängiger geworden, wenn jetzt z.B. Konjunktureinbrüche, wie wir in der EU in den letzten Jahren hatten, passieren oder eben bei den Abnehmerländern große Probleme entstehen, darunter leidet die türkische Exportindustrie und natürlich die hohe Energieabhängigkeit. Wenn die Energiepreise durch irgendwelche konjunkturelle Auswirkungen sehr steigen, wird das eine Kostenfrage und daraus ergibt sich die Frage der Wettbewerbsfähigkeit."

    Ein Problem, dass alle Experten sehen: Es wurde zu viele in einmalige Großprojekte investiert und zu wenig in nachhaltige Wertschöpfung. Selbst die Exporte, beispielsweise der Autoindustrie, sind in erheblichem Maße von Importen, etwa in Form von Motoren oder Elektronikbauteilen, abhängig. Hier liege ein großes Defizit aber gleichzeitig eine Chance für Investoren, sagt Marc Landau, Geschäftsführer der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul, und ermutigt deutsche Unternehmen trotz möglicher Konjunkturflaute weiterhin, auf die Türkei zu setzen:

    "Also ich würde unverändert eigentlich sagen: Die allgemeinen Prämissen sind weiterhin sehr gut, insofern kann ich also den Unternehmen guten Gewissens nur weiter dazu raten, entsprechende Absichten weiter zu verfolgen."

    Den letzten Einbruch des Wirtschaftswachstums von rund neun Prozent in den Boomjahren Jahr 2010 und 2011 auf etwa über zwei Prozent in 2012 hat die türkische Wirtschaft noch einigermaßen gut verkraftet. Für dieses Jahr hat die Regierung die Erwartungen gerade nach unten korrigiert von vier auf drei Prozent. Zum Vergleich: In der Euro-Zone rechnen die Regierungen mit minus 0,4 Prozent.