Die "Dauer-Wellen" des Sees schlagen leise zu unseren Füßen an. Es ist Ruhe eingekehrt. Die Trottoirs an der kilometerlangen Promenade des Sees sind hochgeklappt, wie man so sagt. Möwen und Enten und Schwäne putzen ihr Gefieder oder sie halten, auf einem Bein stehend, bei milchiger Sonne eine Siesta. Die schönste Badewanne der Deutschen, gemeint ist der Gardasee hat noch angenehme Temperaturen gespeichert wie eine Thermoskanne. Der große Goethe notiert über die Landschaft, wo seine Zitronen blühn:
Die Luft ist lauer, reiner, der Himmel blauer, die Gesichter offen, freundlich, lachender. Die Formen und Umrisse der Körper regelmäßig und anlockender. Selbst das Grün der Wiesen und Bäume ist nicht so kalt und tot, sondern höher, heller, mannigfaltiger als in den nördlichen Himmelsstrichen. Alles scheint zum lieblichen Genusse einzuladen, und Natur und Kunst bieten sich wechselseitig die Hand.
Der Vater des Dichters ist ein Neureicher
Ergreifen wir die ausgestreckte Hand des Städtchens Desenzano. Das mit der Natur und der Kunst hat Goethe schön beobachtet. Wobei man die Kunst ja auch finden muss. Reisen, um darüber schreiben oder malen zu können. Denken wir uns beispielsweise in eine Reisekutsche in Goethes Zeiten ein. Eine schwerfällige Carozza, mit laut dröhnenden eisenbeschlagenen Radreifen rumpelt über das Kopfsteinpflaster von Desenzano. Die Flüsterasphaltstraße und Gummireifen sind noch nicht erfunden. Dieses Desenzano liegt an einer wichtigen Route, Venedig-Verona, dann etwas Blick auf den Gardasee weiter nach Brecia-Mailand-Genua.
Wir bringen einen ersten Namen ein. 1740, ist auf eben dieser Straße nach Mailand ein Johann Caspar Goethe unterwegs. Er wird später der Vater des Dichter-Titanen. Michael Kleu, Sie kennen die Goethes.
"Johann Caspar Goethe ist ein nicht leicht fassbarer Charakter. Sein Sohnemann, Johann Wolfgang sagt nur wenig über seinen Vater aus. Und damit wir uns ein hintergründiges Bild machen können … dieser Johann Caspar bekommt in Frankfurt von seinen Eltern ein imposantes Erbe. Wertvolle Grundstücken, zusätzlich einen vier-stöckigen Gasthof, der bei den Kaiserwahlen und den Messen zu den besseren Frankfurter Herbergen zählt. Zusätzlich eine Weinhandlung. Und er erbt noch zur Abrundung 100.000 Gulden und Papiergeld in 17 Ledersäcken verpackt."
Eine Bildungsreise, wie ein Adeliger
Da ist man ja mindestens ein Millionär wie bei Günter Jauch. Da reist also jemand aus Muße durch Italien, lesen wir.
Johann Caspar Goethe braucht keinen Beruf zum Broterwerb. Er ist ein gebildeter Mann, promoviert, ohne im eigentlichen Sinne zu studieren, zum "Doktor jur." und lässt seine Doktorarbeit aufwendig drucken, was ihn 200 Gulden kostet. Doch er kommt als Neu-Reicher in der feinen "Geschlossenen-Gesellschaft" in Frankfurt nicht an, was ihn grämt. Er beschäftigt sich auch am Reichskammergericht, um mit etwas befasst zu sein. Und er kauft sich beim Kaiser für 313 Gulden den Titel eines "Kaiserlichen Rathes". Ein Briefkopf-Titel, der nicht mit Arbeit oder Verantwortung verbunden ist.
"1740 unternimmt also dieser Johann Caspar Goethe, 30-Jahre alt, eine Bildungsreise nach Italien, wie sie sich Adel und gehobene Kreise verschreiben können. Zehn Jahre später heiratet er in Frankfurt, da ist er schon in das Rollenfach eines ältlichen Herrn gewechselt eine hübsche 17-Jährige, ohne Mitgift, aus der angesehenen Frankfurter Juristenfamilie Textor. Die Textors sind Bürgermeister der Stadt.
Der Dichter wird als Spion verdächtigt
Und pointiert gesagt, die junge Frau und der ältere Herr Rat tun sich zusammen und werden die Eltern von Johann Wolfgang. Und sie sind damit hauptberuflich und sehr ordentlich mit der Erziehung des jungen Werthers, seiner Leiden und seiner Leidenschaften und seiner Talente beschäftigt.
"Kommen wir auf die Reise zurück. Er muss von Venedig über Verona nach Mailand hier in Desenzano durchgerollt sein, macht sich unterwegs Reisenotizen, jedenfalls in bekannten Orten, über die man als Italien-Besucher später zu Hause berichten können will. Desenzano ist ihm keine Zeile wert. Er notiert nur, was man in den kulturellen Metropolen, Venedig oder Mailand, Florenz anschaut. So wie wir heute unsere Reisen mit Fotos belegt. Ein Selfie mit gurrenden Tauben auf der Hand am Markusplatz. Und nach der Rückkehr schreibt der Rat Goethe ein Buch seiner "Reise durch Italien", zusammen mit einem Sprachlehrer in Italienisch! "Viaggio per L'Italia". Und das Buch steht natürlich als Blickfang in seiner umfangreichen Haus-Bibliothek in der Frankfurter Hirschgasse."
Also, als erster in der Sippe schreibt er eine "Viaggio per L'Italia". Eine Generation später, 1786, beginnt die Italienische Reise des geadelten herzoglichen Ministers Johann Wolfgang von Goethe. Es ist eine Flucht aus dem engen Weimar. Dabei streift Goethe, alias Maler Möller, wie er sich nennt, den nördlichen Gardasee. Er wird beim Zeichnen als Spion verdächtigt, das ist ja so allgemein bekannt. Und er reist dann über Verona nach Venedig. Er saugt sich voll an dem mediterranen Flair und den kulturellen Inspirationen.
Im nahen Venedig locken die Laster
Italienische Bildungsreisen, oder Kavaliers-Touren, beginnt man in Venedig. Nicht nur wegen Markus-Dom, Dogenpalast und Canal Grande. Es lockt auch die Stadt der Laster. Da kann man sich maskiert die Hörner abstoßen. Und als Andenken nimmt man häufig eine kleine Erkrankung mit. Goethe beschreibt auch die Laster an der Lagune, teilweise sehr poetisch, aber nur in seinen intimen Venezianischen Epigrammen.
Ich habe eine ganze Sammlung solcher Gedichtchen, die ich geheim halte und nur gelegentlich den vertrautesten meiner Freunde zeige. Es war dies die einzige unschuldige Waffe, die mir gegen die Angriffe meiner Feinde zu Gebote stand.
Zurück nach Desenzano. Und so kommt nun der dritte Italien-Reisende aus dem Hause Goethe hier an den Gardasee. Er ist des großen Goethes Sohn August. August von Goethe, kommt 1830 auch mit der Carozza und zusammen mit des Vaters Sekretär ...
" ... und sie steigen hier in diesem dreistöckigen Grand-Hotel ab. Bitte, Michael Kleu."
Im Schatten des Über-Vaters
"August von Goethe ist 40 Jahre alt. Er ist zu seinem Unglück vom Über-Vater standesgemäß mit einer Frau von Adel verheiratet worden. Die setzt ihm in Weimar mehr Hörner auf, als sich der arme August in Italien abstoßen kann. Er kommt auch sonst nicht aus dem erdrückenden Schatten des Vaters, des Titanen , des Weltschriftstellers raus. Seit Jahren vernimmt August überall hinter seinem Rücken ein hämisches Wispern. "Dieser Rundliche da, der mit den zerzausten Haaren, der aus der Nähe etwas säuerlich riecht, nach Alkohol dünstet immer ein Glas in der Hand hält, das ist der Sohn vom großen Goethe!"
In einem Vers spiegelt August seine Situation.
Ich will nicht mehr am Gängelbande
wie sonst geleitet seyn,
und lieber an des Abgrunds Rande
von jeder Fessel mich befrein.
wie sonst geleitet seyn,
und lieber an des Abgrunds Rande
von jeder Fessel mich befrein.
"Dieser arme, nicht der dumme, August, ist der Sohn von Goethe und dessen Haushälterin Christiane Vulpius. Das Knäblein kommt unehelich zur Welt. Goethe legitimiert seine Verbindung mit Christiane 16 Jahre später, in einer stillen Privattrauung, ohne Gäste. Freilich steht bei der Taufe des kleinen Augusts der Herzog von Sachsen-Weimar als Pate dabei."
Wobei auch der Name "Vulpius" in der höfischen Geschlossenen-Gesellschaft des Residenz-Städtchens mit Süffisanz ausgesprochen wird. Madame Schopenhauer, die Mutter des Philosophen, wird zitiert.
Ich denke, wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, dann können wir ihr wohl eine Tasse Tee anbieten.
Wenn man denn in Weimar noch alle Tassen im Schrank hat?
Goethe sorgt für die Karriere des Sohnes
"August ist das einzige von fünf Kindern dieser Liaison, der das Erwachsenenalter erreicht. Goethe ist stolz auf seinen Sohn, seinem Stammhalter. Der studiert auf Verlangen des Vaters Jura. Das "Alpha-Tier" sorgt beim Herzog, dass dessen Patenkind August großzügig bei Hofe versorgt ist. In Wirklichkeit wohnt und arbeitet er größtenteils unter dem Dach der "Firma-Goethe", als Verwalter und Schriftführer. Wir müssen uns etwas bildhaft das Durcheinander der ungeheuren Textmengen vorstellen, die so ein Theater- und Dramen-Dichterkopf, von höchster Geltung täglich produziert, täglich diktiert, überarbeitet, verwirft, nicht auffindbar v e r l e g t oder an seinen Verleger verschickt."
Und so kommt 1830 August mit einem zweifachen Jahresgehalt von 2.000 Talern vom Vater in der Reisekasse und mit einem Packen Empfehlungsschreiben an Krethi und Plethi nachmittags in Desenzano an. Wir stehen vor dem Hotel "Mayer e Splendid", direkt am Hafen. August von Goethe notiert:
Wir hatten ein Zimmer mit gemeinschaftlichem Balkon grade auf den See, welcher wenige Schritte von diesem Hause seine leisen Wellen brach.
"Das würde man auch heute kaum anders in Postkarten-Deutsch an die Lieben nach Hause mailen. Wie geht der Tag weiter?"
½ 6 Uhr machen wir eine Fahrt in den See hinein, wo wir Ihres Abenteuers in "Malsesine" gedachten.
Vollmond und Vollbesäufnis
Den Ort Malcesine spricht er falsch aus. Und mit "ihre Abenteuer" meint er den Vater, dem er das artig schreibt. Er hat auch dessen "Italienische Reise" im Gepäck dabei. August wagt sich auch an eigene Tagebuch-Reisenotizen, traut sich anfangs nicht diese nach Weimar zu versenden, tut es dann doch. Bekommt aufmunterndes Lob vom mittlerweile 80-jährigen Greis per Post zurück.
Nebenbei wundert es, dass Korrespondenzen schon so verlässlich über den Brenner bis nach Weimar und zurück nach Italien rumpeln. Das heute etwas abgeblätterte Hotel mit noch drei Sternen in allerbester Citylage verkauft Parterre Hot Dogs, heiße Würstchen. Das große Hotel deutet an, dass vor 200 Jahren auch schon viele splendid-betuchte Engländer an die Gestade des Gardasees pilgern.
Der Gardasee gewährt einen herrlichen Anblick. Auf der Nordseite die Tyroler Gebürge, dann sanft ablaufend die herrlichen Ufer nach den anderen Himmelrichtungen.
Es folgt in Desenzano ein milder Abend mit Vollmond, ein großes Essen und übergangslos bei Vollmond ein Vollbesäufnis.
"Dabei erfahren die Mitgesellen bei Tisch, die Deutschen sind aus Weimar. Und man soll sich dann nach dem Befinden des alten Meisters Goethe erkundigt haben? Und als sich August von Goethe richtig vorstellt knallen die Korken und alles geht auf Rechnung des Geheimen Kammerherrn."
"Heiterster Himmel am Garda-See in der Morgendämmerung" notiert sich der Kammerherr anderntags auf seiner therapeutischen Reise zur Selbstfindung und fährt weiter.
"Einige Wochen später kommt er in Rom an. Er findet die deutsche Maler und Dichter-Kolonie. Bestellt die besten Grüße seines Vaters an die betagten Kumpanen, die ihrerseits auch 45 Jahre älter und gebückter herumlaufen. August von Goethe führt sein Leben als notorischer Trinker weiter und verstirbt plötzlich im Oktober an einem Hirnschlag. Und nun bitte genau hinhören. Die Todes-Nachricht aus Rom nach Weimar übermittelt der ansässige Legationsrat August Kestner. Kestner ist der Sohn der Charlotte Buff, verheiratete Kestner. Und sie ist die literarische Lotte in Goethes Werther."
Da steckt viel Tiefe in dieser Reisenotiz. Wir betreten den Dom, der der Heiligen-Maria-Magdalena geweiht ist. Wir verschmähen all die vielen Bilder und Motive, die hier stumm an den Wänden hängen und gehen schnurstracks auf das Altarbild zu. Ein Tiepolo. Ob das mit uns sprechen will? Was sagt es uns?
"Als Johann Kaspar Goethe 1740 durch Desenzano fährt, hätte er vielleicht das grade fertige Abendmahl-Bild sehen können."
Endstation: Tiepolo in Rom
Nun zum "Letzten Abendmahl". Es ist total anders komponiert, als das Meisterwerk von Leonardo da Vinci in Mailand, 250 Jahre zuvor. Ich habe es in kleiner Kopie dabei. Bei Leonardo sitzt Jesus sehr stumm, fast isoliert in der Mitte des Tisches und rechts wie links hocken sechs Apostel und reden in Gruppen miteinander, an Jesus vorbei. In Tiepolos Altarbild ist, locker gesagt, Jesus auf den Hund gekommen.
"Gian Battista Tiepolo platziert den "Herrn" an das Kopfende des Tisches. Er sitzt, halb schräg, von hinten erfasst, auch in der vornehmen Kleidung etwas abgehoben. Zu seinen Füßen sehen wir eben diesen Hund, der ihn treu anschaut, wie Hunde das so können."
Und die Apostel, ältere, kantige, bärtige Männer, stecken die Köpfe zusammen. Dramaturgisch sind sie vom Maler als eine erregte, auch verunsicherte Gruppe inszeniert, die den Meister fragen mag "Chef, wie geht es denn nun weiter?" Im Hintergrund fragt eine Kellnerin, also eine Frau mit Weinkrug, darf es noch etwas sein? So könnte man es wie in einem verständlich gemalten Theater-Tableau deuten. Dieses Bild spricht zu einem.
Unterwegs auf Reisen mit Malern oder mit Schreibern, damit später in Reisenotizen etwas von Zitronen und der Natur und der Kultur bildhaft berichtet werden kann.