Nur informierte Bürgerinnen und Bürger können ihr demokratisches Wahlrecht wahrnehmen. Das wird immer schwieriger. Akteure von außen wie von innen nutzen Desinformationen und verbreiten unter anderem Fake News. Die Europäische Union will dagegen vorgehen und hat dafür unter anderem das Gesetz über digitale Dienste geschaffen. Eine erste Bewährungsprobe für das Regelwerk sind die EU-Wahlen im Juni.
Welche Versuche von Desinformation gibt es?
Auf den ersten Blick wirken sie täuschend echt: Webseiten, die etablierten Medien wie zum Beispiel „Der Spiegel“, „The Guardian“ oder „Le Monde“ ähneln, aber russische Propaganda enthalten. Solche gefälschten Nachrichtenseiten werden Doppelgänger genannt.
Diese Doppelgänger sind schon länger im Umlauf; zuletzt hat die Forschungsgruppe AI Forensics Tausende Fake-Accounts entdeckt, die Werbung auf Facebook geschaltet haben: Es geht um Themen wie die Bauernproteste oder die militärische Hilfe für die Ukraine – mit dem Ziel, Zwietracht zu säen und die Unterstützung für die Ukraine zu untergraben. Mindestens 38 Millionen Nutzer in Deutschland und Frankreich sollen solche Anzeigen zwischen August 2023 und März 2024 gesehen haben, hat AI Forensics herausgefunden.
Desinformationskampagnen drehen sich häufig um Themen, die polarisieren und Spaltpotenzial beinhalten, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schwächen; neben der Ukraine zum Beispiel Migration oder die Coronapandemie. Daneben soll laut einer Sprecherin des EU-Parlaments das Vertrauen in die Demokratie unterminiert werden: Kampagnen schüren die Mär vom Wahlbetrug, indem sie beispielsweise behaupten, dass in Wahllokalen spezielle Stifte benutzt würden, deren Tinte nach dem Ausfüllen der Wahlzettel verschwindet. Oder sie versuchen die Wähler gleich ganz vom Wählen abzuhalten, unter anderem durch falsche Bombendrohungen in Wahllokalen.
Gibt es zur EU-Wahl mehr Manipulationsversuche?
Die EU-Kommission verzeichnet deutlich mehr Desinformation. Entsprechende Kampagnen gehen vor allem von Russland aus, aber auch China oder nicht-staatliche Akteure, wie der sogenannte Islamische Staat (IS), stehen dahinter.
Desinformation droht auch im Inneren von Parteien oder Einzelpersonen. Im April 2024 wurde mehreren EU-Abgeordneten, darunter den AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron, vorgeworfen, im Zusammenhang mit der Internetseite „Voice of Europe“ gegen Geldzahlungen russische Propaganda verbreitet zu haben.
Lutz Güllner, Leiter der Abteilung Strategische Kommunikation im Auswärtigen Dienst der EU-Kommission, beobachtet nicht nur einen quantitativen Anstieg, sondern auch ausgefeiltere Techniken. Güllner spricht von Informationsmanipulation, um hervorzuheben, dass damit gezielt getäuscht werden soll. Wichtig sei, so Güllner, sich nicht nur auf den Inhalt zu konzentrieren, sondern auch auf die Manipulationstechniken, zum Beispiel bei der Doppelgänger-Kampagne.
Groß ist die Sorge auch vor Deepfakes, also täuschend echten Videos, Audios oder Bildern. Sie wurden unter anderem im Wahlkampf in der Slowakei eingesetzt, um Wähler in die Irre zu führen. Trotz des Risikos versichert Güllner, dass die Wahlen sicher seien.
Wie wehrt sich die EU gegen Desinformation?
81 Prozent der europäischen Bürger sind der Ansicht, dass Nachrichten oder Informationen, die die Wirklichkeit falsch darstellen, ein Problem für die Demokratie sind. Die Abteilung Strategische Kommunikation des Europäischen Auswärtigen Dienstes betreibt das Kompetenzzentrum „EUvsDisinfo“: Es bietet Analysen und Tipps, wie sich Einzelne vor Desinformation schützen können, also zum Beispiel die Quellen von Inhalten zu hinterfragen.
Vor der Einflussnahme aus dem Ausland auf demokratische Prozesse und speziell auf die Europawahlen hat bereits vor Jahren ein Sonderausschuss im EU-Parlament gewarnt. Die Abgeordneten fordern gezielte Sanktionen im Zusammenhang mit Desinformationskampagnen.
Im Abschlussbericht steht auch, dass soziale Medien für eine Einmischung missbraucht würden. Um die Onlineplattformen besser zu regulieren, hat die EU das Gesetz über digitale Dienste verabschiedet, auch bekannt als Digital Services Act (DSA). Die Wahlen vom 6. bis 9. Juni sind ein erster Test für das neue Regelwerk.
Welche Rolle spielt das Gesetz über digitale Dienste?
Der DSA verpflichtet die großen digitalen Plattformen, illegale Inhalte zu entfernen, und ermöglicht Nutzern, sie leichter zu melden. Daneben müssen sich die Onlinekonzerne um systemische Risiken kümmern, die von ihren Plattformen und Geschäftsmodellen ausgehen, zum Beispiel dem Schutz vor Desinformation. Es soll zudem mehr Transparenz geben, beispielsweise bei den Empfehlungsalgorithmen.
Verstöße dagegen will die EU-Kommission ahnden. Erste Verfahren hat sie bereits eingeleitet. Bestätigt sich der Verdacht, könnten am Ende Strafzahlungen von bis zu sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes stehen.
Die Kommission wirft dem Konzern Meta vor, auf seinen Plattformen Facebook und Instagram nicht genug gegen Desinformation zu unternehmen. Die dort geschaltete Werbung werde nicht ausreichend kontrolliert und könne als Einfallstor für russische Desinformationskampagnen missbraucht werden, befürchtet die EU-Kommission. Außerdem soll der Mechanismus, um illegale Inhalte zu melden, nicht nutzerunfreundlich sein, da er nur schwer zu finden sei.
Daneben ermittelt die Kommission gegen TikTok und X (ehemals Twitter). Das Verfahren gegen X untersucht unter anderem, wie effektiv die Maßnahmen gegen Desinformation sind und ob genug gegen die Verbreitung illegaler Inhalte unternommen wird.
Was unternimmt die EU im Vorfeld der Wahl gegen Desinformationen?
Im Rahmen des Gesetzes über digitale Dienste hat die EU-Kommission Leitlinien aufgestellt. So sollen die Plattformen genug Teams für die Moderation der Inhalte bereithalten.
Daneben sollen durch künstliche Intelligenz (KI) erzeugte Inhalte gekennzeichnet werden. Das soll verhindern, dass die Plattformen durch massenhaft KI-generierte Fakes geflutet werden.
Damit den Nutzern aufgrund der Empfehlungsalgorithmen nicht nur polarisierende Beiträge angezeigt werden, sollen die Betreiber der Plattformen dafür sorgen, dass offizielle Informationen über die Wahlen gut auffindbar sind. Allerdings sind diese Vereinbarungen freiwillig.
Daneben verweisen Experten auf den hohen Stellenwert eines unabhängigen Mediensystems, auf Fact-Checking-Initiativen sowie auf eine Stärkung der Zivilgesellschaft, um sich gegen Manipulationsversuche zu wappnen.