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Deutsch-Türkische Einwanderinnen
Auf der Suche nach einer besseren Welt

Nicht gut integriert, im Eheleben gefangen: Das waren und sind häufig Vorurteile über Frauen, die in den Sechzigerjahren im Rahmen der Gastarbeiterverträge aus der Türkei nach Deutschland kamen. Sevim Celik-Lorenzen, selbst seit 1969 in Deutschland, hat Geschichten vom Ankommen vieler Frauen gesammelt - und die zeichnen ein ganz anderes Bild.

Von Axel Schröder |
    Tülay Seker und Sevim Celik-Lorenzen, zwei türkischstämmige Frauen, stehen in einem Raum vor einer Wand mit vielen Bildern.
    Tülay Seker und Sevim Celik-Lorenzen kamen in den Sechzigerjahren nach Deutschland. (Deutschlandradio/Axel Schröder)
    Sevim Celik-Lorenzen serviert Kaffee in ihrem Esszimmer. Kurzhaarschnitt und kleine Perlenohrringe, feine Lachfalten. Im Nebenraum hängen von ihr selbst gemalte Bilder. Bunte und grau in grau gehaltene Straßenzüge, die Häuser wirken wie zusammengewürfelt, mit windschiefen Fassaden, gemalt mit Ölfarben, in weichen Tönen. Kalt und grau erlebte Sevim Celik-Lorenzen ihre Ankunft in Deutschland. Vor 48 Jahren, im Winter 1969, nachdem ihr Vater die Mutter verlassen hatte:
    "Ich bin ja mit meinem Vater nach Deutschland gekommen und meinem Bruder im Winter. Sehr hoher Schnee, Berge von Schnee in Berlin. Das war mein Schicksal sozusagen. Ab da hat sich mein Leben rapide verändert. Ich war erstens in der Fremde, zweitens gab es eine fremde Sprache. Und ich habe auch meine Mutter verlassen. Es sind also sehr, sehr viele Ereignisse passiert. Und das hat mich natürlich geprägt."
    "Meine Mutter war schockiert - wohin hast du uns geholt?"
    Neben ihr nickt ihre Freundin Tülay Seker. Auch sie kann sich noch genau an die Ankunft in Hamburg-Wilhelmsburg erinnern, an den Ort, in dem ihr Vater schon einige Jahre gearbeitet hatte, mit dem die ganze Familie so große Hoffnung verbunden hatte - und der zunächst einmal eine große Enttäuschung war:
    "Meine Mutter war sehr schockiert. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung, wo die Toilette draußen war. Das war ein Schock für uns. Meine Mutter sagte dann damals: 'Wohin hast Du uns denn geholt? Ich denke, Deutschland ist ein Land, wo es überall Luxus gibt!' Das war ein Schock für meine Mutter. Aber es ging ja irgendwie weiter..."
    Und irgendwann zogen Tülay Sekers Eltern dann auch in eine Wohnung mit etwas größerem Luxus. Ein Jahr lang hat Sevim Celik-Lorenzen, die als Supervisorin in Hamburg arbeitet, diese Geschichten vom Ankommen türkischer Frauen in Deutschland gesammelt. Im Februar schickte sie einen Brief an den Deutschlandfunk, wollte über ihr Projekt berichten, über den Mut dieser Frauen und ihre ersten Schritte im fernen Deutschland, die viele von ihnen nicht an der Seite eines Mannes, sondern ganz allein unternahmen.
    "Das waren junge Frauen - nach dem Motto: 'Heiraten? Nee, noch nicht! Aber Deutschland braucht ja Arbeitskräfte. Papa, ich gehe mal nach Deutschland und hole Dich nach!' Im Grunde waren das viele Frauen, die gesagt haben: 'Ich packe das an! Ich schaffe das jetzt!' Die haben sich eine Zukunft aufgebaut. Und nicht schlecht!"
    Ganze Frauengruppen machten sich in Zügen auf
    Das Klischee der schüchtern-zurückhaltenden Türkin mit Kopftuch, nie angekommen in der deutschen Gesellschaft, die immer unter Ihresgleichen blieb, gefangen im ehernen Patriarchat, dieses Klischee taucht in den zehn Geschichten vom Ankommen im Deutschland der Sechziger- und Siebzigerjahre nicht auf. Stattdessen erzählen sie vom Leben in der Istanbuler Künstler-Boheme dieser Zeit, von ganzen Frauengruppen, die sich zusammen per Zug nach Deutschland aufmachten, auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Sevim Celik-Lorenzen kam als Kind, als Achtjährige und fühlte sich, mit einigen Ausnahmen, sehr willkommen im neuen Land, in Berlin-Neukölln:
    "Ich war Exot. Ich hatte Lehrerinnen, die waren sehr, sehr streng, sehr böse. Aber ich hatte Glück, dass die 68er da waren. Und die haben mich gerettet. Die haben mich deswegen gerettet, weil sie gesagt haben: 'Mit Dir lerne ich das noch mal. Wir üben das zusammen!' Und die haben mich als Kind gesehen während die anderen gesagt haben: 'Du läufst mit, Du bist Nummer 42!' Und das war schwierig!"
    Vom Alltagsrassismus nicht abschrecken lassen
    Sevim Celik-Lorenz und ihre Freundin Tülay Seker sind schon immer rausgegangen, auf Menschen zugegangen, mit viel Neugierde. Durch den latenten Alltagsrassismus in Deutschland haben sie sich nicht abschrecken lassen. Allein die Rede von den "Gastarbeitern", die das Land ganz sicher irgendwann wieder verlassen, verhindere Integration:
    "Und wenn sie das Gefühl haben, sie sollen hier nicht sein, geben sie das auch weiter und geben das auch an die nächste Generation weiter. Nach dem Motto: 'Kannst machen, was Du willst. Du kommst hier nicht hin!' Unser Sohn zum Beispiel geht in die Disco mit seinem deutschen Freund - unser Sohn ist auch ein Deutscher und Kurde und Türke, ein Mensch, egal - will da rein und sein deutscher Freund kann in die Disco und er nicht. Und der Junge ist aber so klug, dass er sich nicht anlegt und sagt: 'OK, dann gehen wir woanders hin!' Er nimmt es nicht persönlich. Aber das machen nicht viele. So viel Selbstbewusstsein haben diese jungen Männer und die jungen Frauen nicht. Junge Frauen eher noch als junge Männer, würde ich sagen."
    Dritte Generation immer noch nicht angekommen?
    Und der Ausgang des Referendums über ein Präsidialsystem in der Türkei hat Sevim Celik-Lorenz denn auch nicht überrascht. Natürlich hat auch sie mit abgestimmt, zusammen mit Tülay Seker, natürlich haben die beiden mit "Nein" votiert.
    "Ich weiß aber auch, dass die Loyalitäten sehr wichtig sind. Wir Menschen sind ja sehr loyal! Und die Türkei ist natürlich clever gewesen: Sie hat immer darauf gepocht: 'Na, Du bist doch loyal mir gegenüber? Du wirst doch Dein Land nicht verraten? Dann bist Du ja ein Vaterlandsverräter!' Dieser Druck immer wieder auf diese Moral, auf diese Loyalität hat die Leute natürlich dazu gebracht, zu sagen: 'Naja, bevor ich mich zu Deutschland bekenne, bekenne ich mich natürlich zur Türkei!'"
    "Das ist ein Schock für mich! Das ist nicht die erste, sondern die dritte Generation! Irgendwo ist das schiefgelaufen, dass diese Generation immer noch nicht in Deutschland angekommen ist!"
    Selbstbewusst mit der eigenen Identität umgehen
    In ihrem Freundeskreis habe Integration längst stattgefunden, erzählen die beiden Frauen. Und zu den Theaterabenden oder Vernissagen kommen Menschen mit Migrationshintergrund, die ohnehin schon offen für Neues sind, die selbstbewusst mit der eigenen Identität umgehen:
    "Da muss man natürlich die anderen einladen und sagen: 'Kommt! Wir machen was! Und ihr seid willkommen!' Da muss man auch da hingehen, so wie sie jetzt auch zu uns gekommen sind. Da muss man sich auch bewegen! Ich glaube, dieses Bild im Kopf zu haben: 'Die sollen sich mal integrieren!' Bitte! Wie soll das gehen?"
    Das Staunen in der deutschen Gesellschaft über das eindeutige "Ja" der Deutschtürken beim Referendum kann sie überhaupt nicht verstehen, erklärt Sevim Celik-Lorenzen. Genau dieses Unverständnis zeige nicht nur, wie weit entfernt viele türkischstämmige noch von ihren bio-deutschen Mitmenschen entfernt leben, sondern auch das Desinteresse dieser Alteingesessenen für die gar nicht so neuen Nachbarn aus der Türkei.