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Deutsche Auswandergeschichte
Die "Good old Germans" von Virginia

Einwanderer aus dem Siegerland gründeten 1714 in Virginia die Kolonie Germanna, die erste zusammenhängende deutsche Siedlung der USA. 300 Jahre später hat sich eine Reisegruppe auf die Spuren ihrer Urväter begeben – und dabei ein sehr lebendiges Erbe erlebt.

Von Heike Braun |
    Mitglieder einer Amish-Gemeinde gehen am 4.10.2006 über eine Wiese in Nickel Mines, Pennsylvania.
    Religionsflüchtlinge aus der Pfalz und dem Saarland landeten in Pennsylvania - die heutigen Amish. (picture-alliance / dpa / epa / Matthew Cavanaugh)
    "Zahnbürste ist drin, Zahnpasta..." Clemence und Hartmut Fröhlich aus Siegen packen die Koffer für eine zweiwöchige Reise in den Osten der USA. "Und weißt Du, wenn was fehlt: Ist nicht schlimm, das kann man dort kaufen." 'Dort' heißt in diesem Falle: "Virginia ist das Gebiet. Glaube ich." Richtig. Die Fröhlichs sind auf dem Weg nach Virginia. An der Atlantikküste gelegen, durchzogen von den Blue Ridge Mountains und dem Shenandoah-River. Wäre John Denver nicht gewesen, würden wohl noch weniger Deutsche von dieser durchaus reizvollen Landschaft gehört haben. Betonung liegt auf: gehört.
    Auch Hartmut Fröhlich kennt den John-Denver-Song. Trotzdem reizt ihn nichts an der Virginia-Reise. Aber seine Frau will dorthin - und sie hat sich durchgesetzt. "Ich war diejenige, die das gerne machen wollte. Aus kulturellen Gründen. Und dann haben wir halt konferiert, wir zwei.“ - "Und ich habe mich breit schlagen lassen zu dieser Reise." - "Was tut man nicht alles aus Liebe."
    Hartmut Fröhlich ist ein pensionierter Oberstaatsanwalt. Seine Frau ist Familien- und Trauma-Therapeutin. Beide verbindet die Liebe zum Reisen. Bei dieser Tour waren sie sich zum ersten Mal nicht einig. Um eines gleich vorweg zu nehmen: Hartmut Fröhlich hat seine Meinung schon am ersten Tag in den USA geändert. Am Ende war er sogar total begeistert. "Für mich hat es sich sicherlich gelohnt. Und es war gut, dass meine Frau so penetrant gewesen ist und immer gesagt hat, komm doch mit!"
    Tatsächlich wird der Osten der Vereinigten Staaten von den Deutschen gerne unterschätzt. Das weiß auch Jörg Becker, von der Deutsch-Amerikanischen Gesellschaft Siegen-Wittgenstein. Er hat diese Privatreise organisiert. "Ich arbeite seit einem dreiviertel Jahr an der Reise. Nicht jeden Tag, aber immer wieder mal. Es war ein ziemlicher Aufwand." Der Jurist aus Siegen studierte in den USA. Damals entdeckte er, dass schon vor 300 Jahren eine Gruppe Siegerländer nach Virginia auswanderte. Die 42 Bergleute gründeten die erste zusammenhängende deutsche Siedlung Amerikas.
    Auch nach Pennsylvania zog es viele Deutsche. Besonders Religionsflüchtlinge aus der Pfalz und dem Saarland. Deren Nachfahren sind die Amish, die noch heute in Pennsylvania oder Ohio leben. Genau wie vor 300 Jahren. Ohne Elektrizität, ohne fließend Wasser, ohne Autos. Denn sie fahren in Pferdekutschen, den sogenannten Buggys, und bearbeiten auch ihre Felder immer noch mit Pferden oder Ochsen. Das alles will sich die Reisegruppe anschauen, die sich der Deutsch-Amerikanischen Gesellschaft und Jörg Becker angeschlossen hat. Als Erstes geht es nach Culpeper in Virginia. Dorthin, wo die ersten Deutschen eine Siedlung gründeten.
    Stolz auf die Familiengeschichte
    Für Amerikaner ist diese 300-jährige Siedlungsgeschichte eine ganz große Sache. Besonders für Marc Wheat. Er ist der Präsident der Germanna Foundation in Virginia und zuständig dafür, dass der Kontakt zwischen Amerikanern und Deutschen nicht abreißt. Marc Wheat ist ein typischer Amerikaner: groß, kräftig, immer gut gelaunt. Vor allem aber ist er eines: stolz auf seine Familiengeschichte. "Mein Ur-ur-ur Großvater war Pastor in Oberfischbach und Konrektor der Lateinschule in der Nikolaikirche. Und ich stamme von anderen Familien ab aus Trupbach und einigen Dörfern rund um Siegen."
    Gleichgültig wie schwierig die Orte auszusprechen sind: Amerikaner wissen fast immer, woher ihre Vorfahren stammen. "Eisern, Niederfischbach, Freudenberg, Heidelberg, Wuppertal, München, Netphen…“ Alle freuen sich, dass die entfernten Verwandten aus Deutschland sie endlich einmal besuchen. Hunderte Amerikaner sind gekommen, um die deutsche Reisegruppe zu begrüßen.
    37 "Good old Germans" umfasst die Gruppe, als sie in Virginia ankommt. Eigentlich hätten es 38 sein sollen. Der Amerikaner Ellis Hitt ist eigens aus Ohio angereist, um seinen nächsten Deutschen Verwandten zu treffen. "Eberhard", ein Cousin dritten Grades. Doch so sehr Ellis Hitt auch sucht, er kann keinen Eberhard in der deutschen Reisegruppe finden. "Und ich fragte: wo ist Eberhard? Und sie sagten mir: Er stand an der Passkontrolle ohne Ausweis." - "Sie haben ihn nicht ausreisen lassen." - "Er durfte nicht mit fliegen!" - "OH NO!!"“
    Diejenigen mit Reisepass treffen sich derweil vor dem Hauptsitz der Germanna Foundation in Virginia. Im Gebäude gibt es ein Auswanderungsmuseum. Auch unangemeldet sind Deutsche hier sehr willkommen. "I know one German word: Umleitung."
    Einige Nachfahren der Auswanderer sprechen aber durchaus mehr als nur ein Wort Deutsch. "Das wollte ich eigentlich erzählen." Wie Maddison Brown zum Beispiel. Er gehört zur Germanna Foundation von Virginia und führt große und kleine deutsche Reisegruppen durch die alten Siedlungsgebiete. Dabei enden seine Touren immer mit den traumhaft schönen Ausblicken des Shenandoah-Nationalparks. "Genau. Wir fahren um halb neun los. Und jeder Wagen bekommt eine Landkarte von diesem Teil Virginias. Und um halb zehn kommen wir im Park an. Dort haben wir Eintritt frei, weil wir eine 'Erziehungsgruppe' sind."
    Shenandoah-Park und Blue Ridge Mountains
    Spätestens im Park wird den deutschen Besuchern klar, warum so viele in dieses Gebiet auswanderten. "Gigantisch. Das gibt es bei uns nicht. Das ist grandios und mit nichts zu vergleichen." Was Karin Ohrendorf aus Siegen meint ist der Ausblick. Kilometer weit reicht der Blick im Shenandoah-Nationalpark. Er liegt mitten in den Blue Ridge Mountains. Zahlreiche Flüsse enden in riesigen Wasserfällen. Wer will, kann tagelang durch dicht bewaldete Gebiete laufen, ohne einem Menschen zu begegnen. Allerdings gibt es im Shenandoah-Nationalpark Schwarzbären. Madison Brown von der Germanna Foundation ist in dieser Gegend schon öfter mal auf einen gestoßen: "Ich habe hier mehr Bären als Schlangen gesehen."
    Eigentlich gelten Schwarzbären als ungefährlich. Wer aber auf Nummer sicher gehen will, bucht eine Tour bei einem der Parkranger. "Also ich denke, wir werden heute nicht viele Tiere zu Gesicht bekommen. Dafür ist unsere Gruppe zu groß. Aber besonders Wanderer, die alleine unterwegs sind, bekommen Bären, Hirsche und, wenn sie Pech haben, Stinktiere zu sehen. Wir werden einen der kurzen Rundwege machen. Er ist anderthalb Stunden lang und bietet fantastische Ausblicke auf die Blue Ridge Mountains. Wollen wir losgehen?"
    Betty, die Rangerin. hat nicht zu viel versprochen. Die Wege sind gut ausgebaut. Doch auch, wer nicht gut zu Fuß ist, kommt in diesem Park auf seine Kosten. Denn der berühmte Skyline Drive führt 170 Kilometer über den Höhenzug, quer durch den gesamten Park. Überall gibt es Plätze zum Anhalten, Ausschau Halten und Innehalten. Selbst Michael London, bekannt als Little Joe aus Bonanza oder Serien wie "Unser kleine Farm" und "Ein Engel auf Erden"“ hat den Shenandoah-Park besungen.
    Auch wenn deutsche Touristen den amerikanischen Osten eher meiden: Die Amerikaner selbst machen gerne dort Urlaub. Ob in Ohio, Pennsylvania, Virginia oder New Jersey. Die Deutschen zieht es stattdessen in Scharen nach Miami, Florida. Amerikaner bevorzugen das angenehmere Klima in Cape May, New Jersey. Las Vegas in Nevada zieht die Deutschen in seinen Bann. Amerikaner fahren lieber nach Atlantic City. Hier sind sie weitgehend unter sich und schlendern: "Under the Boardwalk."
    Die Nationalpark-Rangerin, Betty Gatewood ist schon fast überall in den USA gewandert. Ihr gefällt es im Osten am besten. "Ich muss sagen, für mich ist es unbegreiflich, was die Deutschen ins schwülheiße Miami oder brüllend heiße Las Vegas zieht. Wer einmal den Boardwalk entlang flanierte, sollte ihn eigentlich nicht vermissen: den Miami Beach, wo Touristen jeden Abend aufs Neue von Hunderten Kellnern mit Speisekarten bewaffnet ins Restaurant 'gebeten' werden."
    Unter Amerikanern ist der Osten auch beliebt, wegen der vielen unterschiedlichen Feste, Veranstaltungen und Messen. In Cleveland, Ohio, gibt es angeblich das größte Oktoberfest außerhalb Deutschlands. Groß ist es tatsächlich. Und gejodelt wird dort auch. Allerdings sehr amerikanisch.
    Die Amerikaner feiern anders
    Die Oktoberfest-Zeit gilt in Ohio als die schönste Jahreszeit. Während des alljährlichen "Indian Summers" färbt sich das Laub in Farben, die noch nicht einmal der deutsche Herbst zu bieten hat. Die Blätter eines Ahornbaumes sind gleichzeitig: gelb, orange, hell-rot, weinrot und grün. Hunderte stehen nebeneinander und sorgen für einen unvergesslichen Eindruck.
    Wer im Spätsommer und Herbst hier Urlaub macht, muss eigentlich nur auf Hinweisschilder an den Ortseingängen achten. Besonders die Landwirtschaftsmessen – die sogenannten County- und State-Fairs – sind auf jeden Fall einen Stopp wert. Für kleines Eintrittsgeld bekommt man Großes geboten. Besonders die Kürbisse erreichen ungeahnte Dimensionen.
    Schweine, Kühe, Pferde, Hühner: Sie alle werden auf Hochglanz poliert und zur "Fair" gebracht. Die Kuh mit dem dicksten Euter, das Huhn mit den größten Eiern und das Schwein mit dem besten Grunzen treten gegeneinander an. Gleichzeitig gibt es Rodeos, Live-Musik und jede Menge gute Laune. Die Amerikaner feiern eindeutig anders. Die Hymne darf nie fehlen. Aber sie tanzen auch anders, und sie hören andere Musik, vor allem trinken sie deutlich weniger Alkohol, wenn sie feiern. Das macht solche Veranstaltungen so empfehlenswert.
    Zwillingstreffen und Amish-Siedlung
    Auch völlig nüchtern sieht man einmal im Jahr in Ohio doppelt. Dann nämlich, wenn in Twinsburg das weltweit größte Zwillings-Meeting stattfindet. Bis zu 2.500 Paare kommen zu solchen Treffen. Am Ende wird das Zwillingspaar gekürt, das sich am ähnlichsten sieht. Aber auch das, was sich am wenigsten ähnelt, bekommt einen Preis. "What’s your Name, and where are you from? However. That’s your price: the Gold Medal for the most alike twins"
    Hunderte Zwillinge sind in die Endausscheidungen gekommen. Zum Beispiel die 70-jährigen 'King Twins' aus Miami, die darüber diskutieren, wer jünger aussieht: "I am the boss. And three minutes older." "Doesn’t she look older?"
    Oder die 16-jährigen Zwillingsbrüder Kim und Wild aus Michigan, die gerade den Führerschein gemacht haben. Allerdings nur 'einen', den sie dann abwechselnd bei Verkehrskontrollen vorzeigen: "It´s cool to look alike!" Ben und Marc kommen schon seit sechs Jahren aus Colorado nach Ohio. Sie machen alles gemeinsam, erzählen sie. Auseinanderhalten konnte sie nie jemand. Noch nicht einmal ihre eigene Mutter. Sie hat oft versucht, den gleichen Zwilling zwei Mal zu füttern.
    Die weiteste Anreise haben die 30-jährigen Zwillingsbrüder Ian und Alan. Sie kommen seit fünf Jahren aus Sydney, Australien. Jedes Jahr mit dem gleichen Wunsch: Sie suchen Zwillinge zum Heiraten.
    Nur 30 Kilometer von Twinsburg entfernt lebt die größte Amish-Population Amerikas. Sie sind vor rund 300 Jahren aus Deutschland und der Schweiz ausgewandert und sprechen - neben Englisch - auch immer noch Deutsch. Und erklären gerne, warum Amish-Kleidung hauptsächlich schwarz, blau und lila ist und keine Knöpfe und Reißverschlüsse hat. "Die Männer wollen damit zeigen, dass sie alle gleich sind in der Gemeinde und alle denselben Rang haben."
    In Ohio sind die Amish-Ortschaften leicht an ihren Namen zu erkennen. Sie heißen Berlin, Fryburg oder Strasburg. Hier gibt es keine Verkehrsampeln und keine Polizei. Nur Straßenschilder, die auf langsam fahrende Kutschen hinweisen.
    In Pennsylvania lebt die zweitgrößte Amish-Gruppe. In einem Ort namens "Bird in hand", also: Vogel in der Hand. Dorthin fährt die Reisegruppe der Deutsch-Amerikanischen Gesellschaft und besucht eine Amish-Farm, die für Touristen geöffnet ist. Und da in Amish-Country Deutsch gesprochen wird, ist die Verständigung kein Problem. Frage eines Touristen: "Benutzen die Amish denn auch Traktoren zum Bestellen ihrer Felder? Gestern haben wir einen gesehen, auf dem Traktor." Antwort Amish: "Ja, die Amish haben Traktoren. Aber sie benutzen keine Motoren, sondern Generatoren. Sie wollen nicht, dass der Traktor ein Auto wird. Das Amishe Leben ist ein langsames Leben."
    Die entschleunigte Welt der Amish fasziniert die Touristen. Doch schon am nächsten Tag geht es zurück nach Deutschland. Mit vielen Eindrücken und der Erkenntnis, dass die Blue Ridge Mountains eine Reise wert sind: "Gigantisch!" - "Ich bereue es nicht"