In einer verfinsterten Welt hat Christine Letailleur eine traurige Ballade eingerichtet. Vor dunklen Wänden heben sich die spärlich beleuchteten Gesichter von Greta und Eugen Hinkemann ab. Kein Proletenhaushalt ist hier eingerichtet, sondern ein leicht abstrakter Raum für Passagen, mit einem schmutzigen Fenster im Hintergrund, mit dem Blick in eine leere Finsternis. Hier erschrickt die Frau zunehmend über ihren in Verzweiflung geratenen kriegsinvaliden Ehemann. Eine gegnerische Kugel hat ihn entmannt und damit allerdings auch für jedes existenzielle Elend sensibilisiert, auch für das eines Distelfinken, dem die Schwiegermutter die Augen ausstach, wie es heißt, damit er danach noch schöner singt.
"Tirili, tirili, tirili. Tout à l'heure, il était plein de vie encore, et maintenant c'est fini, il ne voit plus la lumière, il est plongé dans la nuit. Une nuit noire!"
Tollers Stück, das beim Urvater aller proletarischen Elendsmetaphern Anleihen macht, bei Büchners Woyzeck, schickt seinen Protagonisten auf eine Höllenreise der Erkenntnisse über existenziellen Verlorenheiten. Aus der privaten Geborgenheit gerissen, verliert Eugen Hinkemann seinen sozialen Kontext und schließlich auch den weltanschaulichen Halt. Die Stimmen, die Hinkemann hört, sind die des Spottes, die Stimmen, die Woyzeck einst hörte, waren die des Wahns. Wo es Büchner um die grundsätzliche Disharmonie zwischen dem Menschen und der ihm vorgegebenen Welt ging, geht es Toller hier um die Unbehaustheit innerhalb der sozialen Gefüge. Um das Drama des Außenseiters.
Französisches Interesse an deutscher Intensität der Dramatik
In Stanislas Nordeys forcierter Deutlichkeit wird jedes Wort des Protagonisten ausartikuliert, so als enthielte es die letzten Geheimnisse der Welterklärung. Am Théâtre de la Colline überzeugte dieser rhetorische Hinkemann das Publikum. Rudolf Rach, der Chef des führenden französischen, auf deutsche Dramatik spezialisierten Theaterverlages, erklärt, was die Franzosen an der deutschen Dramatik interessiert:
"Das Andere. Das deutsche Theater hat nach dem Kriege eine eigenwillige und auch sehr kreative Entwicklung genommen. Das hat die Franzosen interessiert. Und das hat sich zum ersten Mal in den 50er Jahren bei dem Besuch des Berliner Ensembles hier in Paris gezeigt. Das Anderes ist das vielleicht wenige amüsante, das vielleicht weniger Elegante, das vielleicht weniger Charmante, das vielleicht ehre Bohrende, Intensivere, das tiefer Grabende."
Brechts Dramaturgie, deren Einfluss auf das zeitgenössische französische Theater gar nicht überschätzt werden kann, hat eine ganze Generation beeinflusst. Aber heute sind zeitgenössische deutsche Autoren Bestandteil der französischen Spielpläne, insbesondere im Monat März, wo allein drei französische Nationaltheater Stücke moderner bzw. zeitgenössischer deutscher Autoren herausbrachten: Handkes "Immer noch Sturm" am Théâtre de l'Odéon, Tollers "Hinkemann" am Théâtre National de la Colline und Dea Lohers "Unschuld" an der Comédie Française.
Kein spannungsfreies Verhältnis
Der frankokanadischer Regisseur Denis Marleau gab sich keine übertriebene Mühe, dem leicht verrätselte Konzepttheater der deutschen Erfolgsautorin szenisches Leben einzuhauchen. Alle Figuren der Geschichte über Schuld und die Transformationen des Todes hocken in einem hellen Raum auf unscheinbaren Stühlen, bleiben zwischen ihren Szenen bewegungslos sitzen. Auch einzelne Versuche, der mehrschichtigen Meditation komödiantische Momente abzugewinnen, schlagen fehl. Es gilt allgemein als Ritterschlag, wenn Autoren erstmalig an der Comédie Française aufgeführt und in das Repertoire des französischen Theaterolymps aufgenommen werden. Hier wurde das Rendezvous zwischen deutscher Gegenwartsdramatik und französischem Schauspielbetrieb allerdings verpatzt.
Das deutsch-französische Theaterverhältnis ist also so unproblematisch nicht. Stéphane Braunschweig, Intendant des Théâtre de la Colline und seit seinen Anfängen als Regisseur eine Schaltstelle zwischen Frankreich und Deutschland, erklärt einen der Gründe.
"Das deutsche Gegenwartstheater bringt ständig viele Stücke und Autoren hervor. Das deutsche Theatersystem erlaubt diese Überfülle. Aber es ist mir zu oft etwas zu soziologisch, auch in seinen Texten. Autoren, die wir hier gerne durchsetzen wollen, haben vielleicht auch solche Tendenzen, aber sie haben zugleich eine Fantasie, Imagination und Fremdartigkeit, die das rein Soziologische weit hinter sich lassen."
Das Andere in der deutschen Dramaturgie, von dem Rudolf Rach sprach, interessiert in Frankreich immer nur dann, wenn die Stücke in der Condition Humaine ihrer Figuren poetische oder metaphysische Dimensionen freilegen.