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Deutsche Einheit
"Die haben gesagt, wir zeigen euch jetzt mal, wo es langgeht"

Wie steht es 25 Jahre nach der Vereinigung um die deutsche Einheit? Damit hat sich das Berlin Institut in einer neuen Studie befasst. Nach Einschätzung der in der DDR aufgewachsenen Autorin Marion Brasch hat man in der Wendezeit die Sorgen und die unterschiedlichen Biografien der Menschen nicht ernst genug genommen.

Marion Brasch im Gespräch mit Gerd Breker |
    Marion Brasch während der 18. Erfurter Herbstlese
    Marion Brasch, geboren 1961 in Berlin, entstammt einer Familie deutsch-österreichischer Kommunisten mit jüdischen Wurzeln. (imago / VIADATA)
    Gerhard Breker: Am Telefon sind wir nun verbunden mit Marion Brasch, eine Kollegin in Berlin beim RBB. Guten Abend, Frau Brasch!
    Marion Brasch: Guten Abend, Herr Breker!
    Breker: Überrascht es Sie, dass die Erfolgsgeschichte der Vereinigung auch ein Vierteljahrhundert später noch nicht abgeschlossen ist?
    Brasch: Nee, eigentlich überrascht mich das nicht, weil ich lebe ja also quasi noch im Osten, im Osten Berlins zwar, aber es ist ja doch Osten, und ich bin ja quasi auch umgeben von Leuten, die teilen im Prinzip diese Meinung, wir sind noch lange nicht fertig. Diese Nivellierung, dass dann irgendwie mal alles gleich ist und alle Deutschen gleich ticken, das wird schon noch eine Weile dauern. Insofern hat es mich überhaupt nicht überrascht.
    Breker: Also war Ihnen von Beginn an klar, dass es mehrere Generationen benötigen würde?
    Brasch: Ja, also ich weiß jetzt nicht, wie viele. Ich sehe es ja an meiner Tochter, die ist jetzt 22, sie ist schon noch stark auch von meinem Bild geprägt, das ist ja ganz klar, aber sie geht schon viel selbstverständlicher um mit diesem gemeinsamen Deutschland, es spielt nicht mehr so eine Rolle, aber sie hat auch ihre Prägung. Und ich glaube aber, mit der nächsten Generation - das ist jetzt meine Vermutung - wird das nicht mehr diese große Rolle spielen.
    Breker: Wenn wir mal zurückblicken, Frau Brasch, die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, die das SED-Regime ja letztlich zu Fall brachte, war ja von Beginn an gar nicht auf Wiedervereinigung ausgerichtet.
    Brasch: Nee, das war ja die Hoffnung vieler - also ich teile diese Hoffnung oder habe diese Hoffnung auch geteilt -, dass man noch mal versucht, was Eigenes zu machen, also eine offene, demokratische DDR zu schaffen mit anderen Vorzeichen, mit anderen Leuten und so, und dass wir das in Ruhe mal hätten versuchen können, diesen dritten Weg zu gehen oder wie auch immer man das nennen mag. Diese Wiedervereinigung, die kam ja dann doch sehr, sehr schnell, und dass dieses Land oder das Konstrukt DDR so vereinnahmt wurde, das hat viele, glaube ich, gestört. Also nicht alle, das weiß man ja auch und das haben ja die Wahlergebnisse 1990 auch gezeigt, aber ich gehörte zu denen, die das jetzt nicht so toll fanden.
    Plötzlich war die D-Mark in den Augen der Leute zu sehen
    Breker: Und zunächst wurde gerufen: "Wir sind das Volk", und erst viel später wurde gerufen: "Wir sind ein Volk".
    Brasch: Ja, genau, das kippte dann so. Es ging ja erst mal darum, einen Staat demokratischer zu machen und offener und Pressefreiheit und Reisefreiheit zu gewährleisten. Und dann plötzliche diese Rufe, die dann plötzlich so laut wurden, und diese Deutschlandfahnen, die dann überall geschwenkt wurden, und wo dann plötzlich auch schnell die D-Mark in den Augen der Leute zu sehen war, das war jetzt nicht so toll.
    Breker: Und aus dem Westen kam dann auch schon mal die Antwort: Wir sind auch ein Volk.
    Brasch: Wie meinen Sie das?
    Breker: Das war in der Tat so.
    Brasch: Ach so, tatsächlich? Also diese Rufe haben wir wiederum nicht gehört. Ich kenne natürlich Leute, die das jetzt auch nicht so großartig fanden, dass die jetzt den Osten auch noch abbekommen und auch noch möglicherweise dafür zahlen müssen, dass die den abkriegen. Und ich habe ja auch die Erfahrung gemacht, ich war auch viel im Westen unterwegs in den letzten Jahren mit meinem Buch und so, dass viele das, was da östlich der Grenze stattfand, überhaupt nicht interessiert hat - der Osten, die DDR hat da de facto gar nicht stattgefunden -, und die dann mit staunenden Augen zur Kenntnis nahmen, dass da Menschen gelebt haben, die eben nicht nur in Sack und Asche gelaufen sind, sondern die auch durchaus mit Stolz jetzt nicht DDR-Bürger waren, aber Menschen eines Staates waren und ihre Biografien auch durchaus nicht zu rechtfertigen gesucht haben.
    Breker: Willy Brandt hat damals gesagt: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Hat man dabei die Unterschiede, die 40 Jahre andere Sozialisierung produziert haben, unterschätzt?
    Brasch: Ich denke, ja. Also das ist jetzt meine Erfahrung, dass man ... Ich weiß nicht, ob man es unterschätzt hat, man hat vielleicht auch wirklich die Leute nicht ernst genommen, man hat deren Biografie nicht so richtig ... Man hat nicht verstanden, dass diese 16, 17 Millionen, die auf der anderen Seite lebten, sozialisiert waren, mit ihrer Geschichte. Das kann man jetzt gutheißen oder nicht, man kann sagen, es war nicht alles gut, es war nicht alles schlecht, wie auch immer.
    Aber sie haben ihre Biografie in diesem Land, sie haben dort ihre Berufe gelernt, sind dort zur Schule gegangen, haben ihre Biografien quasi mitgenommen in den Westen, und plötzlich sollte das nichts mehr gelten. Plötzlich wurde ihnen ihre eigene Vergangenheit irgendwie quasi fast zum Vorwurf gemacht. Und dann hieß es Jammerossi, wenn sie sich darüber beschwert haben, dass sie ihre Arbeit verloren haben oder so.
    "Wir zeigen euch jetzt mal, wo es langgeht"
    Breker: Ja, und diese Studie zeigt, dass die Vorurteile - einerseits die Besserwessis und andererseits die Jammerossis -, dass die sich immer noch halten.
    Brasch: Ja, das ist, glaube ich, dann auch tief eingegraben. Ich kann mich auch gut erinnern, also die Ersten, die wirklich in den Osten kamen, also so Unternehmer, diese Goldgräberstimmung, das waren arrogante Leute. Die haben gesagt, wir zeigen euch jetzt mal ... wir investieren in eure Zukunft und zeigen euch jetzt mal, wo es langgeht. Und da strahlte tatsächlich eine große Arroganz, und das hat sich ganz tief eingegraben, glaube ich, in das kollektive Gedächtnis der Ostler.
    Breker: Frau Brasch, wenn Sie heute jemanden treffen, fällt Ihnen relativ schnell auf, ob er aus dem Westen kommt oder aus dem Osten?
    Brasch: Nee, mittlerweile nicht. Ich kann das immer noch gut irgendwie an Dialekten natürlich klarmachen, wie jeder andere auch, aber ich kann es jetzt nicht mehr ... also an Äußerlichkeiten glaube ich überhaupt nicht mehr. Es gehen alle Leute mit aufrechtem Gang durch diesen Staat oder durch dieses Land. Das kann man jetzt, glaube ich, nicht mehr so ohne Weiteres sagen.
    Breker: Also irgendwas muss ja in diesem Prozess des Zusammenwachsens schiefgelaufen sein. Was hätte man besser machen müssen, was hätte man anders machen müssen, Sie haben es eben angedeutet, vielleicht doch mehr über sich und seine Lebensumstände erzählen?
    Brasch: Ja, das wird ja jetzt gemacht. Es erscheinen auch jede Menge Bücher, wo Leute ihre Geschichte aus dem Osten erzählen, wie es ja auch ganz selbstverständlich ist, dass das umgekehrt der Fall ist. Das wird ja immer so ignoriert, gesagt, ja, es erscheinen jetzt immer Bücher von Leuten aus dem Osten, was ist denn mit unseren Biografien - die gibt es ja auch. Also man hätte vielleicht früher mal hinhören müssen oder so, aber es braucht wahrscheinlich auch eine Zeit so dieser Selbstfindung, dass die Leute erst mal überhaupt ihre eigene Geschichte reflektieren, um sie erzählen zu können. Aber das hätte sicher ... früher hätte man vielleicht ein bisschen oder man hätte ein bisschen früher hinhören oder hingucken können, so. Das gilt genauso für uns, die wir in den Westen gucken, das will ich jetzt gar nicht ... ich will dem Westen gar keinen Vorwurf machen.
    Fremdenfeindlichkeit kein ostdeutsches Phänomen
    Breker: Frau Brasch, es gibt ja ein seltsames Phänomen, was auffällt. Kann man das irgendwie erklären, je weniger Fremde umso mehr Fremdenfeindlichkeit? Warum ist das in Ostdeutschland so?
    Brasch: Das kann ich nicht beurteilen, warum das so ist. Und ich weiß auch nicht, ich wehre mich ja immer so dagegen, das wirklich als ostdeutsches Phänomen hinzustellen. Natürlich fällt das auf, aber es gibt ja im Westen auch fremdenfeindliche Übergriffe ...
    Breker: Keine Frage, ja.
    Brasch: Das ist ja jetzt kein ostdeutsches Phänomen. Und wenn man sich auch das auf der Karte anguckt, also es gibt eben punktuell durchaus auch sehr viel Ausländerfeindlichkeit oder Fremdenfeindlichkeit im Westen. Also das weise ich immer so ein bisschen von mir, dass man sagt, okay, die Ostler sind sehr viel feindlicher.
    Breker: Die Einschätzung von Marion Brasch. Die Kollegin ist Schriftstellerin mit DDR-Wurzeln.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.