Im September wurden in Sachsen, Thüringen und Brandenburg die Landtage gewählt. Und die politischen Gewichte haben sich in großen Teilen Ostdeutschlands verschoben.
Was drückt sich dadurch gesellschaftlich aus? Ist die Spaltung des Landes in Ost und West, von der viele reden, belegbar, oder ist sie nur eine erfolgreiche Formel, um die Gemüter zu erhitzen? Unternehmen wir den Versuch einer Analyse des Unbehagens an der innerdeutschen Grenzziehung.
Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Er hat unter anderem eine beachtliche Max Weber-Biografie geschrieben („Max Weber - Ein Leben zwischen den Epochen“, 2014) und für „Hegels Welt“ (2021) ist er mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet worden. Mit seinen Büchern „Otto Normalabweicher“ (2007) oder „Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder“ (2019) mischt er sich immer wieder in aktuelle Debatten ein, dazu gehört auch das mit dem Soziologen André Kieserling geschriebene Buch „Die gespaltene Gesellschaft“ (2022).
Überall und fast täglich hören wir von der gespaltenen Gesellschaft, in der wir angeblich leben. Kaum eine der ermüdenden Talkshows, die suggerieren, den Finger am Puls der Zeit zu haben, vergeht ohne diese Diagnose. Die Armen, heißt es beispielsweise, leben in einer ganz anderen Gesellschaft als die Reichen. Tatsächlich: Sie wohnen anderswo, sie haben andere Sorgen, sie haben geringere Chancen vor Gericht, sie gehen seltener wählen. Die Reicheren haben die besseren Ärzte, die besseren Anwälte und ihre Kinder mehr Nachhilfelehrer. Das stimmt alles.
Aber rechtfertigt es, von einer „gesellschaftlichen Spaltung“ zu sprechen? Schließlich gibt es ganz viele Bürger, die weder arm noch reich sind, sondern sich irgendwo dazwischen verorten. Die Armen stehen den Reichen gegenüber – ja, aber was ist mit denen, die sich weder den Armen noch den Reichen zugehörig fühlen und die sowohl in den Wohlstand aufsteigen wie in prekäre Verhältnisse absteigen können? Es gibt weder eine Partei der Armen, noch eine der Reichen. Olaf Scholz ist kein Arbeiterführer, und die FDP käme auch mit allen Stimmen der Reichen nicht über die Fünf-Prozent-Hürde. Es gibt große Einkommens- und Vermögensunterschiede, aber von einer Gesellschaft ökonomischer Spaltung sind wir weit entfernt.
„Spaltung“ nicht mit „Unterschied“ verwechseln
Das gilt auch für andere Spaltungslinien. Die Republik, wird gesagt, sei in Alte und Mitglieder zukünftiger Generationen gespalten, in Migranten und schon länger Einheimische, in Stadtbewohner und Landbewohner.
Oft sind damit allerdings gar keine Spaltungen bezeichnet, sondern nur Unterschiede und Konflikte zwischen Interessengruppen. Davon gibt es in modernen Gesellschaften Aberhunderte. Die Beamten haben andere Gesichtspunkte als die Lohnarbeiter, die Bahnfahrer andere als die Bahnmanager, die Bauern andere als die Naturschützer, die Eltern andere als die kinderlosen Singles. Jede dieser Gruppen ist außerdem in sich heterogen, beispielsweise weil es wohlhabende und arme Singles gibt, konservative und linke, männliche und weibliche, alte und junge. Mit anderen Worten: Die gesellschaftlichen Konfliktlinien gehen durch jeden Einzelnen von uns hindurch.
Je mehr solcher Konfliktlinien es gibt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer Spaltung der Gesellschaft. Denn jeder und jede von uns steht in all diesen Konflikten auf unterschiedlichen Seiten. Mal agieren wir als ältere Mitbürger, mal als Stadtbewohner, mal als Steuerzahler oder als Autofahrer. Die Alten sind nicht durchweg die Wohlhabenden, die Jungen sind nicht alle arm, die Bauern sind nicht alle Bahnfahrer, die Einheimischen wohnen nicht alle auf dem Land, und nicht einmal die Einwanderer haben alle dieselben Interessen, von den Alten, den Jungen, den Frauen und den Armen ganz zu schweigen.
Ost und West – wirklich ein Gegensatz?
Kurz: Keiner dieser Konflikte vermag, alle Bürger entlang einer einzigen spaltenden Frontlinie aufzureihen. Es gibt keinen gesellschaftlichen Super-Konflikt, der alle anderen dominieren und in sich aufnehmen könnte. Das war die Tragödie der marxistischen Anhänger eines angekündigten Klassenkampfes der Unter- gegen die Oberschichten. Auf diesen Streit, so hieß es, laufe alles zu. In der lange wachsenden Mittelschicht existierte aber auf einmal eine „Klasse“, die gar nicht daran dachte, an diesem Kampf teilzunehmen. Selbst die Proletarier aller Länder ließen es allmählich an „Klassenbewusstsein“ vermissen und strebten nach Aufstieg und Lohnerhöhung viel mehr als nach einer letzten großen Auseinandersetzung.
Viele Konflikte also, doch keine Spaltung.
Wie aber steht es um den großen Gegensatz, der uns in Deutschland derzeit nahegelegt wird, um den Gegensatz von Ost und West? Die politischen und rechtsstaatlichen Vorgänge von 1989 und 1990 erhielten den Namen „Wiedervereinigung“. Regelmäßig werden „Jahresberichte zum Stand der Deutschen Einheit“ veröffentlicht, der jüngste ist von der Bundesregierung soeben unter dem Titel „Frei, vereint und unvollkommen“ vorgelegt worden.
Doch wie vereint und wie uneins, gar gespalten ist das Land?
Nach Ansicht mancher Beobachter zerfällt es 35 Jahre nach seiner Wiedervereinigung in seine beiden Hälften, wobei die eine Hälfte die Eigenschaft hat, nur ein Fünftel des Ganzen zu sein, jedenfalls was die Bevölkerungszahl angeht. Der Eindruck herrscht vor, diese Bürger, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR leben, seien hierzulande Bürger zweiter Klasse. Zwar genießen sie alle Rechte, aber sie beziehen um etwa 15 Prozent geringere Gehälter, die ostdeutschen Männer haben eine fast zwei Jahre geringere Lebenserwartung, und sie kommen nicht auf die Führungspositionen in allen möglichen bundesdeutschen Organisationen, von den großen Firmen über die Universitäten bis zu den Gerichten. Überall Westler.
Aus dieser Beschreibung hat der Jenenser Germanist Dirk Oschmann ein Sachbuch gemacht, dem die Herzen vor allem der ostdeutschen Leser zugeflogen sind. Die Unterscheidung von Ost und West, sagt er darin, sei eine westdeutsche Konstruktion mit der Absicht, ostdeutschen Bürgern die Gleichheit und damit den Anspruch auf gleiche Karrieren abzusprechen. Bürger aus dem Osten, die sprichwörtlichen „Ossis“, würden mit Vorurteilen überzogen. Sie seien arbeitsscheu, wenig innovativ, irgendwie uncool, im Lebensstil und in der politischen Einstellung zurückgeblieben. Wie anders als durch solche Vorurteile könne man erklären, dass 35 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer ein derart krasser Gegensatz der sozialen Chancen zwischen Ost- und Westherkünften herrsche?
Das ist eine berechtigte Frage. Die Antwort mag unbefriedigend sein. Es dauert sehr lange, bis soziale und kulturelle Nachteile ausgeglichen werden. Viele ökonomisch tatkräftige Bürgerinnen sind aus dem Osten weggezogen. Zurückgeblieben sind größtenteils Männer und Ältere. Insofern lässt sich von einem „brain drain“ sprechen, wenn der Begriff nicht auf akademisch erworbene Fähigkeiten verengt wird.
Überdies ist es unwahrscheinlich, dass sich Eliten schnell von den Mechanismen ihrer Selbstrekrutierung lösen. Die Nachfolger der Chefs ähneln ihnen oft, jedenfalls, was ihre Herkunft angeht.
Die Ostdeutschen sind keine Ausgebeuteten
Hinzu kommt, dass sich soziale Nachteile leicht addieren. Wenn die Eltern nach 1989 arbeitslos wurden, zehrte das die ohnehin kleinen Vermögenspositionen oft rasch auf. Das Durchschnittsvermögen im Westen ist zwei- bis dreimal so hoch wie im Osten. Die Gesellschaft folgt dem biblischen Wort: Wer hat, dem wird gegeben.
Dennoch sind die Ostdeutschen keine Ausgebeuteten, und so kommen sie sich auch nicht vor. Es sind nicht primär die Unterschiede im Wohlstand, die ihren Protest entzünden. Wenn sie jetzt scharenweise zur AfD und zum BSW laufen, dann tun sie das vielmehr als Bürger, die sich erniedrigt, gekränkt und nicht ernst genommen fühlen. Es handelt sich um einen politischen Protest. Sie sind empört, und zwar so sehr, dass sie inzwischen sogar das Gespräch über die Gründe ihrer Empörung verweigern. Dazu passt die Wahl von Parteien, in deren Vokabular das Wort „Kompromiss“ nicht vorkommt, die nicht reden wollen, sondern Positionen beziehen, die für sie nicht verhandelbar sind.
In den vergangenen Wochen war oft davon die Rede, die Wähler der AfD in Sachsen, Thüringen und Brandenburg seien keine Protestwähler mehr. In Umfragen teilen sie das ausdrücklich mit. Sie befänden sich, sagen sie, in Übereinstimmung mit den politischen Programmen der AfD. Ob das so ist, sei dahingestellt. Wer als Wähler ernst genommen werden will, muss aber natürlich so reden. „Protestwähler“ zu sein, ist auf Dauer keine attraktive Rolle. Wer möchte schon psychologisiert und erklärt, anstatt ernst genommen zu werden werden? Der mündige Bürger wählt aus Überzeugung, das hat sich herumgesprochen. Insofern verwundert es wenig, wenn auch die Wähler der AfD mitteilen, Protestwähler seien sie nicht. Würde man sie beim Wort nehmen, käme man zur Annahme, dass knapp ein Drittel der Ostdeutschen rechtsextrem eingestellt sind. Das wiederum weisen viele dieser Wähler energisch zurück.
Ein Drittel AfD-Wähler – das ist keine Mehrheit
Für alle Anhänger der These, das Land sei in Ost und West gespalten, muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass ein Drittel an AfD-Wählern keine Mehrheit ist. Es sind nur sehr viele, und wer die Zumutungen in den Parteiprogrammen der AfD liest, für den löst schon dieses Drittel so viel Kopfschütteln aus, dass einem schlecht werden kann. Darüber darf aber nicht aus dem Blick verloren werden, wie viele Bürger auch im Osten strikt dagegen sind, der AfD irgendeinen Einfluss auf die Regierung zuzubilligen. Der Osten ist kein Block, die Ostdeutschen sind keine Ethnie, kein homogener Stamm, dessen merkwürdige Eigenschaften vom Westen aus analysiert werden müssten.
Dennoch bleibt die Irritation der Landtagswahlen. Wir haben jetzt im Osten drei davon hinter uns, mit zwei hervorstechenden Ergebnissen.
Zum einen haben die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht die größten Zugewinne davongetragen. In Brandenburg hat sich fast die Hälfte der Wähler für eine dieser beiden Parteien entschieden, in Thüringen und Sachsen waren es mehr als vierzig Prozent. Vor allem die Erfolge der AfD lösen bei allen anderen Parteien Bestürzung aus. „Gesichert rechtsextrem“, „faschistisch“ und „rassistisch“ sind die Eigenschaften, die ihrem Personal zugeschrieben werden. Das Wagenknecht-Bündnis erscheint als nicht gar so extrem, ist in vielen Punkten undurchsichtig, aber seine Namensgeberin hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie eine Gegnerin „des Systems“ der Bundesrepublik ist, eine Gegnerin der Marktwirtschaft, der Westbindung, der EU und der NATO.
Bedeutungsschwund des links-liberalen Lagers
Das erste hervorstechende Ergebnis der Wahlen im Osten ist also, dass bis zu einer Hälfte der ostdeutschen Wähler sich von bislang geltenden Grundsätzen der bundesrepublikanischen Politik abwendet.
Der zweite Befund ist: Die Linke, einst eine erhebliche Partei des Ostens, ist dabei zu verschwinden. In Sachsen und in Brandenburg ist sie nicht mehr ins Parlament gekommen. Die Grünen konnten diesem Schicksal in Sachsen nur knapp entrinnen, in Thüringen und Brandenburg kamen auch sie nicht über die Fünf-Prozent-Hürde. Die FDP, ob links- oder rechtsliberal, spielt im Osten gar keine Rolle mehr. Und selbst die SPD kam in Thüringen und Sachsen nur knapp in die Landtage. Sie bewegt sich in mehr und mehr Ländern auf demselben Niveau, das sie seit langem in Bayern hat.
Kurz: Das gesamte linke und links-liberale Lager erlebt trotz des Wahlsiegers Dietmar Woidtke von der SPD, dessen Politik man nicht leichtfertig „links“ nennen wird, einen erheblichen Bedeutungsschwund. Nimmt man hinzu, dass der Linksruck der CDU unter Kanzlerin Angela Merkel ebenfalls zu dem gehört, was viele Wähler im Osten ablehnen, läuft das auf ein allgemeines Desaster linker und grüner Positionen gerade im Osten hinaus.
Zu beiden Ergebnissen, zur Stärkung der Extreme wie zum Niedergang der Linken, ist es gekommen, obwohl das links-liberale und grüne Spektrum eine erhebliche Unterstützung durch die Medien, nicht zuletzt durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen erfährt. Zwar haben die Talkshows Sahra Wagenknecht durch ständige Einladungen groß gemacht, was die Talk-Masterinnen heute vielleicht nicht mehr wahrhaben wollen, insgesamt aber wird vor den extremen Parteien ständig gewarnt. Sie seien undemokratische Parteien, es sei fatal, sie zu wählen.
Damit tritt ein grundlegendes Paradox hervor. Denn diejenigen, die auf diese Weise als undemokratisch bezeichnet werden, verstehen sich selbst gerade als die besseren Demokraten. In Thüringen zumindest kann die AfD den Anspruch erheben, eine Volkspartei zu seien. Ihrer Selbstbeschreibung nach verkörpert sie den Volkswillen, gibt sie den Bedürfnissen des Volkes oder wenigstens großer Teile des Volkes eine Stimme.
Diese „vox populi“ wird dabei der Gruppe der Regierenden entgegengesetzt. Hier das bodenständige Volk, dort die abgehobenen Ampel-Koalitionäre, die Medien und andere Funktionäre des „Systems“. Die Politik erscheint gespalten in Eliten und einfache Bürger. Auch Mitglieder des BSW, allen voran die Namensgeberin, singen diesen Refrain. Zuletzt hat sogar der geschlossen aus der Partei der Grünen ausgetretene Vorstand ihrer Jugendorganisation seine Entfremdung damit begründet, die Regierung mache Politik „über die Köpfe der Menschen hinweg“, das zeige das Erstarken der AfD gerade unter jungen Leuten.
Die einen sprechen also von demokratiefeindlichen Parteien oder verwenden den Begriff „demokratische Parteien“ so, dass AfD und BSW nicht unter ihn fallen. Bei der Eröffnung der jüngsten Leipziger Buchmesse wurden in diesem Sinne im Publikum Schilder hochgehalten, auf denen „Demokratie wählen“ stand. Das sollte heißen „Nicht AfD wählen“, war aber ein widersprüchlicher Slogan, denn was anderes sollte denn in freien, gleichen und geheimen Wahlen zum Ausdruck kommen als die Demokratie? Solange die AfD zu Wahlen zugelassen wird, begeht, wer das Kreuz bei ihr macht, keinen demokratischen Irrtum.
AfD, BSW und die sehr kompakte Vorstellung vom Volkswillen
Die anderen, AfD und BSW, sehen die Demokratie umgekehrt durch Parteien gefährdet, die angeblich nicht mehr im Kontakt zum Volk oder „den Menschen“ stehen. Sie selbst haben eine sehr kompakte Vorstellung vom Volkswillen, greifen Affekte auf, träumen von der Rückkehr in angeblich bessere Zeiten, stellen sich nationale Autarkie vor oder einen Ausstieg aus der Weltgesellschaft. Millionenfach, so stand es auf einem Plakat, sollen Abschiebungen erfolgen. Wie das rechtsstaatlich gelingen soll, welche Folgen das für die deutsche Ökonomie hätte, welche Verwerfungen das europäisch bedeuten würde, dazu sagen die radikalen Sprachrohre nichts.
Dafür beteiligen sie sich an einer eigenen Spaltungsstrategie, indem sie den Vertretern aller anderen Parteien vorwerfen, Politik gegen das eigene Volk zu machen und deshalb verachtenswerte Personen zu sein. In den Vereinigten Staaten ist die politische Polarisierung oft so beschrieben worden, dass der politische Gegner im dortigen Zwei-Parteien-System inzwischen als Feind wahrgenommen werde. Wichtiger als das eigene politische Programm zu verwirklichen sei es dann, den Erfolg der Feinde um jeden Preis zu verhindern. Diesen Feinden wird kein Respekt gezollt, denn von ihnen ist ja nur das Schlimmste zu erwarten.
Neuer, harter Ton: Beleidigungen in der politischen Kommunikation
In Deutschland beobachten wir derzeit ein ähnliches Muster, nur eben in einem Viel-Parteien-System. Das Ausmaß an Beleidigungen in der politischen Kommunikation steigt, der Umfang von Behauptungen, mit dieser oder jener Partei könne man keinesfalls koalieren, hat erheblich zugenommen. Man sieht wechselseitig aufeinander herab. Zugleich ist ironischerweise die Wahrscheinlichkeit mancher zuvor ausgeschlossener Koalition ebenfalls angestiegen. Die CDU muss jetzt in Thüringen und Sachsen mit Leuten verhandeln, die soeben noch als radikaler Flügel einer Partei angehörtern, mit der zu koalieren die CDU per Satzung ausgeschlossen hat. Mit dem braven Herr Ramelow können sie nicht koalisieren, mit den Abgesandten von Frau Wagenknecht müssen sie es ebenso wie Herr Woidtke in Brandenburg.
Der Grund für diese Merkwürdigkeiten liegt in der Demokratie. Sie muss damit leben, dass auch diejenigen, die es nicht so sehr mit dem Rechtsstaat haben, dass also auch die Gegner der liberalen Demokratie bei demokratischen Wahlen antreten können. Das ist ein empfindlicher Punkt im Leben der Demokratie, aber es ist, diesseits des schwierigen Parteienverbots, nicht zu sehen, wie diese verwundbare Stelle geheilt werden könnte. Wir müssen hinnehmen, dass Teile einer Partei als „gesichert rechtsextrem“ bezeichnet werden können, ohne dass aus diesen Gründen ein Parteiverbot auch nur angestrebt wird. Das erzeugt den ambivalenten Eindruck, sie gehörten dazu und gehörten zugleich nicht dazu. Was diese Partei, die AfD, gerne dazu nutzt, sich als nichtzugehörig zu einem System darstellen zu können, von dem sie behauptet, sie könne es ersetzen.
Wir müssen zusätzlich hinnehmen, dass ein Drittel der Wähler diese Partei wählt. Und zwar unabhängig davon, ob sie mit Skandalen, innerparteilichen Zerwürfnissen und Rechtsbrüchen hervortritt. Unbeeindruckt von der Tatsache, dass keine andere Partei mit ihr koalieren will. Gleichgültig gegenüber den Urteilen des Verfassungsschutzes und der Gerichte. Das alles ficht ihre Wähler nicht an oder motiviert sie sogar zusätzlich, sich an die AfD zu binden. Nicht einmal die Aufnahme des Themas „Migration“ durch die anderen Parteien hat die Wählerschaft der AfD zurückgehen lassen.
Die These der Empfänglichkeit für polizeiliche Lösungen
Das wird gern als ein Problem des Ostens dargestellt. Der Osten, heißt es, tendiere inzwischen zu den Extremen. Der Osten wählt merkwürdig.
Prominente Erklärungsversuche dafür sind bemerkenswerterweise vor allem von Sozialwissenschaftlern angestellt worden, die selbst aus Ostdeutschland stammen.
Da gibt es die These, in Ostdeutschland wirke seit mehr als einhundert Jahren eine autoritäre Tradition ungebrochen fort. Sie mache die Wähler für polizeiliche Lösungen aller möglichen Probleme empfänglich. Der Staat kann dann gar nicht durchgriffsstark genug sein. Den Erwartungen von 1989 folgten hier eine Reihe von Enttäuschungen. Der Kapitalismus erwies sich in seinen Krisen als etwas anderes, denn eine große Einkaufsmeile. Der Rechtsstaat schützt nicht nur die Rechte der seit jeher Einheimischen, sondern muss durchgriffstark auch sein, wenn er Jemanden gegen ihre Interessen oder Meinungen schützt. Schließlich ist Europa ist nicht nur eine Reihe von Reisegebieten, sondern ein regulatorischer Komplex mit Gesetzgebung aus Brüssel und Rechtsprechung aus Straßburg.
Diese These von der autoritären Tradition und den Enttäuschungen, die sie in einer liberalen Gesellschaft erfährt, begegnet allerdings dem Einwand, dass sich die Ostdeutschen von der sozialistischen Obrigkeit selbst befreit haben. Wie sollten sie denn nach den Erfahrungen der Diktatur die Demokratie gering schätzen? Selbst unter den Wählern der AfD findet sich keine Mehrheit, die autoritär regiert werden will. Die Gegnerschaft zu einer Elite, die sich angeblich nicht um ihre Belange kümmert, schließt im Grunde die Sehnsucht nach starker Führung aus.
1989 dominierten nicht Fragen der Demokratie
Dennoch fand nach 1989 die Re-Education der Ostdeutschen in die normative Ordnung der Freiheit nicht statt, so der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Es waren damals Wirtschaftsthemen dominant, nicht Fragen der Demokratie. Deshalb fehle es im Osten an Verständnis dafür, dass Freiheit wichtiger sein kann als Frieden, wichtiger als Wohlstand, wichtiger als Kriminalitätsbekämpfung. Man kann das auch so formulieren: Der Westen hat sich nach 1989 nur sehr einseitig um den Osten gekümmert, nachdem die Währungsumstellung, die Grundstücksverteilung und die Infrastruktur-Investitionen erfolgt waren. Die Parteien konzentrierten ihre Arbeit auf urbane Zentren, am liebsten auf Universitätsstädte. Die Provinz blieb vernachlässigt.
Rechts wählen als Gegenpol zu großstädtischen Perspektiven?
Eine andere Hypothese ist, die hohe Bereitschaft vieler Ostdeutscher, rechtsextrem zu wählen, nähre sich aus Gefühlen der Marginalisierung und der Überforderung durch großstädtische Perspektiven. Die Politik, so der Gesichtspunkt vieler Bürger, zwinge sie dazu, Lebensstile, Redeweisen und Ansichten zu übernehmen, um nicht als rückständig, reaktionär, rassistisch oder faschistisch zu gelten. Das Gefühl, unterdrückt und im Bereich der Meinungen gegängelt zu sein, mobilisiert ältere Erfahrungen. Schon wieder soll uns gesagt werden, wie wir zu denken haben, lautet der Eindruck. Der seit 1989 herablassende Ton aus dem Westen trägt nicht dazu bei, ihn zu schwächen. Genau so wenig wie das Herunterkommen ganzer Regionen, aus denen die aktivsten Bürger abwandern und den Zurückbleibenden das Gefühl vermitteln, Zurückgebliebene zu sein.
Das löst unweigerliche nostalgische Phantasien aus. Früher war es irgendwie besser. Früher, als es vermeintlich noch keine massenhafte Migration gab. Früher, als die Straßen angeblich noch sicher waren. Sowohl die AfD wie das BSW plakatieren, nach einer Beobachtung von Ines Geipel, mit dem Slogan „Heimat“. Sie versprechen den Wiedergewinn vergangener Zeiten. Dieser Wunsch ist in der modernen Gesellschaft, in der vieles Gute und vieles Schlechte verschwindet und an beidem das Herz der Nostalgiker hängt, sehr verbreitet. Sofern es also eine Spaltung der Gesellschaft gibt, ist es die in Leute, die sich gelassen, indifferent oder freudig auf den sozialen Wandel einstellen, und solche, die ebenso energisch wie vergeblich darauf pochen, das angeblich gute Vergangene wiederzubekommen.
Die AfD ist keine ostdeutsche Erfindung
Diese Beschreibung der politischen Polarisierung im Osten ist nicht ganz falsch. Sie lässt aber zweierlei außer Acht.
Zum einen: Die AfD ist keine ostdeutsche, sondern eine westdeutsche Erfindung. Ihr Spitzenpersonal ist nach wie vor westdeutsch: Alice Weidel, Björn Höcke, Alexander Gauland, Bernd Baumann, Gottfried Curio, die Liste der Westdeutschen in der AfD ist lang. Man kann sagen, dass das Problem westdeutscher Dominanz über den Osten auch für die AfD gilt. Auch hier sind die Sprecher der Ostdeutschen vielfach Westdeutsche. Die meisten Abgeordnete der AfD im Bundestag sind über westdeutsche Landeslisten in ihn eingezogen. In Baden-Württemberg lag die Partei schon einmal bei fünfzehn Prozent, in Bayern erzielte sie vor einem Jahr 14,6 Prozent.
Zum anderen: Populistische Parteien, die Sorgen über die Zukunft der Demokratie aufkommen lassen, gibt es auch außerhalb Ostdeutschlands: Polen, Ungarn, Italien, Niederlande, Frankreich – um nur ein paar Länder zu nennen. In all diesen Ländern existieren dieselben Probleme, die wir Ostdeutschland zuordnen. Doch all das sind Länder, die keine Wiedervereinigung hinter sich haben. Nur manche von ihnen haben eine sozialistische Vergangenheit. Nicht überall können ökonomische Disparitäten den Hang zu extremen Parteien erklären. Die Lega Nord war eine Partei des wohlhabenden italienischen Nordens, und es ist nicht bekannt, dass die Anhänger des „Rassemblement National“ alle aus benachteiligten Schichten stammen.
Rechtspopulismus ist ein weltweites Phänomen
Es wäre also falsch, beim Versuch, die Wahlerfolge der AfD zu erklären, sich ausschließlich auf Eigenheiten der ostdeutschen Wähler zu konzentrieren. In so gut wie jedem europäischen Land beobachten wir die Phänomene, die wir versuchen aus Eigenheiten Ostdeutschlands, seiner Mentalitäten, Traditionen und sozialen Merkmale herzuleiten. Das kann nicht gelingen. Der Rechtspopulismus ist ein weltweites Phänomen. Wenn wir überhaupt von einer Spaltung oder, weniger dramatisch, von einer politischen Polarisierung der Gesellschaft sprechen wollen, dann müssen wir über Sachverhalte sprechen, die überall und in allen Demokratien vorfindlich sind.
Die Redeweise, die hohen Zustimmungen zur AfD und BSW seien eine ostdeutsche Merkwürdigkeit, lebt davon, dass die nächsten westdeutschen oder bundesdeutschen Wahlen noch nicht stattgefunden haben. Wer weiß, wie wir darüber reden werden, wenn sich die Ergebnisse der AfD im Westen wiederholen? Gibt es irgendjemanden, der das für ausgeschlossen hält?
Wir können uns über all diese Vorgänge, ungelöste Fragen und politische Entscheidungen aufregen. Wir können diese Empörung genießen, weil sie uns mit dem Gefühl versorgt, auf der Seite der Vernunft oder des Menschengefühls zu stehen. Wir können unsere Empörung in Wahlentscheidungen umsetzen.
Ansonsten nützt die Empörung nicht viel. Wozu wir uns selbst und gegenseitig nicht überreden sollten, ist, die Gespräche mit den politischen Fanatikern oder über die politischen Fanatiker abzubrechen. Wobei „Gespräche“ auch heißt, dass wir unser Befremden über die populistischen Argumente und politischen Kapriolen äußern sollten. Wir sollten diskutieren, wie seltsam, um nicht zu sagen: wirrköpfig die Vorschläge der Extremen sind. Es gibt Argumente, wir brauchen also nicht auf Phrasen zurückzugreifen. Ob ein Alterspräsident das Recht hat, Ordnungsrufe zu erteilen, Geschäftsordnungsanträge zu ignorieren und sich zu weigern, die Beschlussfähigkeit des Landesparlaments von Thüringen festzustellen, lässt sich vor Gericht klären. Die Vokabel „Machtergreifung“ benötigt man dazu nicht.
Gefühle derer ernst nehmen, die sich radikalen Parteien zuwenden
Das heißt auch, dass wir uns der Phrasenhaftigkeit von vielem bewusst werden, was wir gemeinhin so sagen, wenn uns jemand ein populistisches Argument oder einen rechtsextremen Unfug präsentiert. Mit anderen Worten: Wir sollten den Extremen nicht mit Wertereden entgegentreten, sondern mit konkreten Nachweisen, dass es nicht sinnvoll und oft nicht einmal möglich ist, ihren politischen Vorschlägen oder Redensarten zu folgen.
Und wir sollten die Gefühle derjenigen ernst nehmen, die sich diesen radikalen Parteien zuneigen. Fühlten sie sich gut regiert, würden sie das nicht tun. Und so gut wie niemand fühlt sich derzeit gut regiert. Der Irrtum ist nur, die Extremen könnten es besser. Kurz gesagt kombiniert der Hang zu diesen Extremen naheliegende Gefühle mit politischen Irrtümern und Desinteresse am Rechtsstaat. In der Politik, sagt ein Sprichwort, sind Gefühle Tatsachen. Auch wenn es also keine gesellschaftliche Spaltung gibt, ist das Gefühl, eine solche Spaltung existiere, ein Faktum für die Politik.