Barbara Beuys räumt in ihren Büchern gerne mit landläufigen Meinungen auf, egal ob sie über Sophie Scholl oder das Familienleben in Deutschland der letzten 2.000 Jahre schreibt. So auch in ihrem neuen Buch über die Pionierinnen der Emanzipation im deutschen Kaiserreich. Beuys will ihre Geschichte noch einmal erzählen - als Erfolgsgeschichte. Trotz aller Schwierigkeiten erlebte die Frauenbewegung damals ihre Blütezeit. Themen wie Sexualität und Scheidung kamen zur Sprache. Zwei Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden Frauen erstmals Ärztinnen, arbeiteten in Büros und Postämtern. Dennoch hält sich bis heute hartnäckig die Auffassung, die Errungenschaften seien nicht der Frauenbewegung geschuldet, sondern der Tatsache, dass die Frauen lediglich für ihre Männer einsprangen, die im Ersten Weltkrieg an der Front waren. Beuys nimmt ihre eigene Zunft dabei nicht aus. Das Bild sei aber falsch, urteilt die Historikerin.
"Im August 1914, als die deutsche Regierung ihren Soldaten versprach, dass sie bis zum Jahresende siegreich in die Heimat zurückkehren werden, hatte Hannchen Boldt ihrem Mann geschrieben: 'In Hamburg ist jetzt ein buntes Bild. Pfadfinder spielen Briefträger, das Straßenfegen besorgen die Frauen, und die Straßenbahn hat auch schon Frauen angestellt. Männer siehst Du weniger.' Es ist ein schöner Schein. Die Realität hinter den Bildern erzählt eine andere Geschichte."
Beuys belegt diese mit den ernüchternden Statistiken der gesetzlichen Krankenkassen. Von 1914 bis 1918 waren weniger Frauen in lohnabhängigen Berufen registriert als je zuvor. Auch die Hamburger Kaufmannsfrau Hannchen Boldt verkaufte den Familienladen, nachdem ihr Mann gefallen war. Statt Fortschritt markiere der Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen Rückschritt für die Frauen, konstatiert die Historikerin. Der Kurs sei 1914 endgültig auf die nationale Linie eingefahren - und damit kehrte die vermeintlich natur- und gottgegebene Frauenrolle des reaktionären Kaiserreichs zurück.
Barbara Beuys: "Die Frauen sollten ein bisschen Sprachen können, ein bisschen malen, wenn sie am Klavier saßen und etwas trällerten, umso besser, aber sie gehörten ins Haus und hatten da zu bleiben."
Fulminanten Panorama der ersten deutschen Frauenbewegung
Dabei hatte der Bund Deutscher Frauenvereine gegen diese Vorstellung zuvor äußerst erfolgreich gekämpft. Gegen alle Widerstände setzten die Frauen etwa ihr Recht auf Bildung durch. Beuys hat all das akribisch recherchiert, immense Literatur ausgewertet, Tagebücher, Briefe und Archivfunde. Die wichtigsten Quellen sind jedoch die Autobiografien der "neuen Frauen", in denen sich all die Hoffnungen und Brüche des ausgehenden 19. Jahrhunderts spiegeln. Unter obrigkeitsstaatlichem Druck und Diskriminierung entwickeln sich Symbolfiguren: die "Grande Dame" des Sozialismus, Clara Zetkin, Schriftstellerin und Skandalon Hedwig Dohm - von ihr stammt der berühmte Satz "Menschrechte haben kein Geschlecht" oder die engagierte Frauenrechtlerin Louise Otto:
"'… dem Reich der Freiheit werb' ich Bürgerinnen'. Es ist das Motto der Frauenzeitung, deren No.1 mit dieser Unterzeile am 21. April 1849 erscheint und die sich in aufgewühlten Zeiten vier Jahre lang auf dem Markt halten kann. Herausgeberin ist die dreißigjährige Schriftstellerin Louise Otto, eine Tochter aus gutem Hause. Sie wollte durch ihr Schreiben 'nicht allein in und mit meiner Zeit leben, sondern auch für sie'. "
Entlang der Lebenswege 24 bedeutender Frauen spinnt Beuys ihr Erzählnetz zu einem fulminanten Panorama der ersten deutschen Frauenbewegung. Sie beginnt im Revolutionsjahr 1848, als die Frauen durch das erste deutsche Parlament von den Freiheits- und Grundrechten in der Frankfurter Paulskirche ausgeschlossen werden. Knapp zwanzig Jahre später gründet sich der allgemeine Deutsche Frauenbund. 1908 wird endlich das Vollstudium für alle Frauen durchgesetzt. Das Abitur knapp zehn Jahre zuvor. Anhand dieser Meilensteine zeigt Beuys nicht nur die Aufbruchsstimmung, sondern auch die Angst der Männer auf. Aufgeschreckt von all der Frauenpower machen deutsche Männer - und zwar aller Parteien und Bildungsschichten - Stimmung gegen die Emanzipation. An Stellen, an denen Beuys das biographische Material mit den kulturhistorischen Ereignissen literarisch verdichtet, werden die Widerstände besonders gegenwärtig.
"An der Universität Zürich, 1833 gegründet, dürfen Frauen seit 1864 studieren. Franziska Tiburtius ist 1871 eine von 21 Studentinnen in Zürich, 1872 werden es schon 112 sein. Beim ersten Erscheinen im Präpariersaal wurde es unangenehm für die wenigen Studentinnen inmitten der männlichen Übermacht. Geschrei. Gejohle, Pfiffe. Als der Professor erscheint, erwartet die Studenten ein Donnerwetter, dass ihnen der Spott für immer vergeht. Franziska Tiburtius bleiben die folgenden fünf Studienjahre 'hell und leuchtend' in Erinnerung."
Den Erinnerungen stellt die Historikerin zudem Phänomene zur Seite, die den Zeitgeist spiegeln. Ein Kapitel widmet sie dem "Fräulein im Amt", ein Trendjob um die Jahrhundertwende. Erstmals Aufstiegschancen hatten. Barbara Beuys erklärt:
Barbara Beuys: "Auch da gab es Widerstände. Unter dem Motto: Wenn Frauen lange sitzen, können sie keine Kinder gebären, es gab sogar eine Debatte im Reichstag. Das Interessante ist, dass hier die ökonomischen Interessen der Postämter überwogen. Es stellte sich heraus, dass die Frauen viel nervenstärker in diesem Job waren als die Männer."
Die Welle der Aggression ging an den "Fräuleins im Amt" vorbei. Doch es wird nicht das einzige Mal sein, dass der Leser mit dem Kopf schütteln wird. Es ist fast unheimlich, wie bekannt die Argumente von vor einhundert Jahren klingen. Bis heute tauchen sie immer wieder in Diskussionen auf, wenn es um gleiche Löhne, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder eine selbstbewusste Sexualität geht. Nicht nur Historiker sollten dieses lesenswerte Buch deswegen unbedingt als Standardwerk schätzen.
Barbara Beuys: Die neuen Frauen - Revolution im Kaiserreich 1900-1914
Carl Hanser Verlag, 384 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-446-24491-7
Carl Hanser Verlag, 384 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-446-24491-7