Christoph Schmitz: Marcel Reich-Ranicki – schwach war er geworden in den letzten Jahren seines Lebens. Seine Krebserkrankung hatte er vor wenigen Monaten öffentlich gemacht. Sein Leben galt der Literatur, ich habe es anfangs angedeutet. Das kam nicht von ungefähr, Hubert Winkels, Literaturredakteur im Deutschlandfunk. Was hat Ranicki zu einem Literaturmenschen gemacht?
Hubert Winkels: Bevor ich dazu was sage, muss ich sagen. Wenn ich die Stimme von ihm jetzt höre, auch zum ersten Mal, seit ich die Nachricht von seinem Tod erfahren habe, wird einem schon, wie soll man es nennen, sentimental, traurig. Man vermisst auf der Stelle etwas und denkt, ach das wirst du lebend gesprochen nie mehr hören. Es ist doch ein enorm spürbarer Verlust, das muss ich schon sagen.
Schmitz: Sie kannten sich ja auch?
Winkels: Wir kannten uns denn doch über Jahrzehnte im Endeffekt und haben uns doch häufig gesprochen.
Schmitz: Auch im "Literarischen Quartett" waren Sie einmal Gast.
Winkels: Auch im "Literarischen Quartett" und bei anderen Gelegenheiten, und das war eine produktive Distanz, die über die Jahre gehalten hat. Das kann man vielleicht so sagen. Zu Ihrer Eingangsfrage: Die Geschichte seiner Literaturleidenschaft ist tatsächlich mit seiner gesamten Biografie verwoben, und die ist wiederum mit der gesamten deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben, sodass man, wenn man das tatsächlich nach und nach auffächern wollte, sehr viel zeigen und berichten müsste. Aber es fängt tatsächlich damit an, dass der Jude Marcel Reich (die Mutter war deutsche Jüdin, der Vater Pole) 1929 mit neun Jahren nach Berlin gekommen ist, und hatte natürlich einen schweren Stand an den zwei Gymnasien, wo er war. Natürlich war die Ausgrenzung der Juden im vollen Zug, als er lesen lernte, Theater lieben und so weiter, und da war die Literatur, die deutsche Literatur (er sprach Deutsch, war auf deutschen Gymnasien) tatsächlich sein Fluchtpunkt. Das war das, womit er die brutale Außenwelt, die er wahrgenommen hat, durchaus ausgrenzen konnte.
Schmitz: Und die Rettung durch Literatur setzte sich dann noch dramatischer fort.
Winkels: Ja, und auf ganz verschiedenen Ebenen. Ich meine, die allerkrasseste - die hat er selber in "Mein Leben" berichtet – ist sicherlich die (ich weiß nicht, ob er es zugespitzt hat), als er aus dem Warschauer Getto geflohen ist - 1943 war es wohl -, hat er nur überleben können, weil ein armes, im Keller hausendes polnisches Ehepaar ihn und seine Frau Teofila aufgenommen hat, für einige Monate sogar. Und dann hat er, wie zu ihrer Zeit Scheherazade, Geschichten erzählt, und zwar aus der Literatur, aus der deutschen Literatur, Abend für Abend, und so hat man ihn quasi als Kostgänger bezahlen lassen mit Geschichten. Aber auch im Getto selber waren die Geschichten wichtig. Er hat ein Buch mit selbst geschriebenen und gezeichneten Gedichten von seiner Frau bekommen, darüber ist die Liebe entstanden. Also es gibt in dieser Biografie so viele Momente, die das belegen, was er immer wieder gesagt hat: Die Literatur ist mein portatives Vaterland. Das ist ein Heine-Zitat und heißt, es ist kein Ort auf Erden, es ist kein Territorium und kein Mahnmal, kein Denkmal, kein Ritual, kein Nichts, es ist die Sprache, die Literatur, die mein Zuhause ist. Und in seinem Fall war es die deutsche.
Schmitz: Und die deutsche Literatur nicht nur als Literatur, sondern auch in ihrer Ausprägung, in ihrer Ausprägung in der Geschichte zwischen Goethe und Thomas Mann, also der deutsche Humanismus, sage ich mal, der dann verloren gegangen war, aber in der Literatur noch festzumachen, festzuklopfen war?
Winkels: Ja, das hat auch wieder spezielle biografische Hintergründe. Er war ja in der ersten Zeit in Polen nach dem Krieg - da könnte man auch viel drüber sagen, ich nehme nur einen Ausschnitt raus – Lektor in einem polnischen Verlag, der deutsche Literatur übersetzt und auf den Markt gebracht hat. Da hat er sich mit der deutschen Literatur beschäftigt, hat zu allen großen Klassikern Ausgaben gemacht, hat Nachworte geschrieben und ist sozusagen zum Bildner des Kanons der deutschen Literatur geworden, so wie man sie Polen mitgibt.
Schmitz: …, den er aber in Deutschland dann auch aufrechterhalten hat. Er war Kanonverfechter.
Winkels: Das hat er immer behalten. Er wusste immer, wo es langgeht. Er hatte seine Richtschnur mit Goethe, mit Schiller und mit Heine und mit Thomas Mann und mit Raabe und mit Fontane. Darauf ging er zurück und das tat er. Nachdem längst der Kanon durch verschiedene Modernismen schon auseinandergesprengt war, stand er immer noch konservativ wie die deutsche Eiche sozusagen für diesen Kanon.
Schmitz: Er hielt daran fest. – Zu seinem Verständnis von Literaturkritik, das war ja auch sehr spezifisch. Könnten Sie das beschreiben? Was war Literaturkritik für ihn, wie sollte sie sein, welche Aufgabe hatte sie?
Winkels: Sie war nicht das, was sie für viele andere zunächst ist: Sprachkritik, Philologie, Umgang mit Motiven und das Verweben von Literatur über die Jahrhunderte in neue Prozesse hinein. Sondern Literaturkritik – ganz am Anfang, glaube ich, Ihrer Collage von vorhin klang das an – war das Bemühen, möglichst viele Leute zu erreichen mit der Literatur, und das mit guter, gehobener Literatur, also den Schund im Grunde auszumisten, wenn man so will, aber auf der anderen Seite auch die Höhen wegzunehmen. Das heißt: experimentelle Poesie, besonders gewagte Romane, alles, was an der modernen Entwicklung exzentrischer war, neu, besonders, auch interessante Innovationen aller Art, waren wirklich nicht seine Sache. Sie wurden kritisch beäugt und am Ende war immer der entscheidende Punkt, den Leser so, wie Marcel Reich-Ranicki ihn sich vorstellt zu sehen: abends vor dem Einschlafen noch einen Roman – entschuldigen Sie das Wort – schmökernd. Aber diese Idee, diese pädagogische Idee steckt hinter seinem Ethos als Kritiker.
Schmitz: Ein Satz noch zu der Frage: Hat er auch so gewirkt, hat’s funktioniert?
Winkels: Tatsächlich hat zu seiner Zeit eine ganze Weile dieses volkspädagogische Eros, nenne ich es mal so, funktioniert und wurde dann von Heidenreich versucht zu beerben. Aber es hat nicht mehr funktioniert, es war an seine Figur gebunden, an seine Person gebunden, die Zeit war darüber weggegangen und mit ihm ist, glaube ich, diese spezifische Haltung, Rezeption und auch Aktion, glaube ich, nicht mehr da.
Schmitz: Hubert Winkels, vielen Dank für diese ersten Einschätzungen des Werkes von Marcel Reich-Ranicki, der im Alter von 93 Jahren gestorben ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hubert Winkels: Bevor ich dazu was sage, muss ich sagen. Wenn ich die Stimme von ihm jetzt höre, auch zum ersten Mal, seit ich die Nachricht von seinem Tod erfahren habe, wird einem schon, wie soll man es nennen, sentimental, traurig. Man vermisst auf der Stelle etwas und denkt, ach das wirst du lebend gesprochen nie mehr hören. Es ist doch ein enorm spürbarer Verlust, das muss ich schon sagen.
Schmitz: Sie kannten sich ja auch?
Winkels: Wir kannten uns denn doch über Jahrzehnte im Endeffekt und haben uns doch häufig gesprochen.
Schmitz: Auch im "Literarischen Quartett" waren Sie einmal Gast.
Winkels: Auch im "Literarischen Quartett" und bei anderen Gelegenheiten, und das war eine produktive Distanz, die über die Jahre gehalten hat. Das kann man vielleicht so sagen. Zu Ihrer Eingangsfrage: Die Geschichte seiner Literaturleidenschaft ist tatsächlich mit seiner gesamten Biografie verwoben, und die ist wiederum mit der gesamten deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben, sodass man, wenn man das tatsächlich nach und nach auffächern wollte, sehr viel zeigen und berichten müsste. Aber es fängt tatsächlich damit an, dass der Jude Marcel Reich (die Mutter war deutsche Jüdin, der Vater Pole) 1929 mit neun Jahren nach Berlin gekommen ist, und hatte natürlich einen schweren Stand an den zwei Gymnasien, wo er war. Natürlich war die Ausgrenzung der Juden im vollen Zug, als er lesen lernte, Theater lieben und so weiter, und da war die Literatur, die deutsche Literatur (er sprach Deutsch, war auf deutschen Gymnasien) tatsächlich sein Fluchtpunkt. Das war das, womit er die brutale Außenwelt, die er wahrgenommen hat, durchaus ausgrenzen konnte.
Schmitz: Und die Rettung durch Literatur setzte sich dann noch dramatischer fort.
Winkels: Ja, und auf ganz verschiedenen Ebenen. Ich meine, die allerkrasseste - die hat er selber in "Mein Leben" berichtet – ist sicherlich die (ich weiß nicht, ob er es zugespitzt hat), als er aus dem Warschauer Getto geflohen ist - 1943 war es wohl -, hat er nur überleben können, weil ein armes, im Keller hausendes polnisches Ehepaar ihn und seine Frau Teofila aufgenommen hat, für einige Monate sogar. Und dann hat er, wie zu ihrer Zeit Scheherazade, Geschichten erzählt, und zwar aus der Literatur, aus der deutschen Literatur, Abend für Abend, und so hat man ihn quasi als Kostgänger bezahlen lassen mit Geschichten. Aber auch im Getto selber waren die Geschichten wichtig. Er hat ein Buch mit selbst geschriebenen und gezeichneten Gedichten von seiner Frau bekommen, darüber ist die Liebe entstanden. Also es gibt in dieser Biografie so viele Momente, die das belegen, was er immer wieder gesagt hat: Die Literatur ist mein portatives Vaterland. Das ist ein Heine-Zitat und heißt, es ist kein Ort auf Erden, es ist kein Territorium und kein Mahnmal, kein Denkmal, kein Ritual, kein Nichts, es ist die Sprache, die Literatur, die mein Zuhause ist. Und in seinem Fall war es die deutsche.
Schmitz: Und die deutsche Literatur nicht nur als Literatur, sondern auch in ihrer Ausprägung, in ihrer Ausprägung in der Geschichte zwischen Goethe und Thomas Mann, also der deutsche Humanismus, sage ich mal, der dann verloren gegangen war, aber in der Literatur noch festzumachen, festzuklopfen war?
Winkels: Ja, das hat auch wieder spezielle biografische Hintergründe. Er war ja in der ersten Zeit in Polen nach dem Krieg - da könnte man auch viel drüber sagen, ich nehme nur einen Ausschnitt raus – Lektor in einem polnischen Verlag, der deutsche Literatur übersetzt und auf den Markt gebracht hat. Da hat er sich mit der deutschen Literatur beschäftigt, hat zu allen großen Klassikern Ausgaben gemacht, hat Nachworte geschrieben und ist sozusagen zum Bildner des Kanons der deutschen Literatur geworden, so wie man sie Polen mitgibt.
Schmitz: …, den er aber in Deutschland dann auch aufrechterhalten hat. Er war Kanonverfechter.
Winkels: Das hat er immer behalten. Er wusste immer, wo es langgeht. Er hatte seine Richtschnur mit Goethe, mit Schiller und mit Heine und mit Thomas Mann und mit Raabe und mit Fontane. Darauf ging er zurück und das tat er. Nachdem längst der Kanon durch verschiedene Modernismen schon auseinandergesprengt war, stand er immer noch konservativ wie die deutsche Eiche sozusagen für diesen Kanon.
Schmitz: Er hielt daran fest. – Zu seinem Verständnis von Literaturkritik, das war ja auch sehr spezifisch. Könnten Sie das beschreiben? Was war Literaturkritik für ihn, wie sollte sie sein, welche Aufgabe hatte sie?
Winkels: Sie war nicht das, was sie für viele andere zunächst ist: Sprachkritik, Philologie, Umgang mit Motiven und das Verweben von Literatur über die Jahrhunderte in neue Prozesse hinein. Sondern Literaturkritik – ganz am Anfang, glaube ich, Ihrer Collage von vorhin klang das an – war das Bemühen, möglichst viele Leute zu erreichen mit der Literatur, und das mit guter, gehobener Literatur, also den Schund im Grunde auszumisten, wenn man so will, aber auf der anderen Seite auch die Höhen wegzunehmen. Das heißt: experimentelle Poesie, besonders gewagte Romane, alles, was an der modernen Entwicklung exzentrischer war, neu, besonders, auch interessante Innovationen aller Art, waren wirklich nicht seine Sache. Sie wurden kritisch beäugt und am Ende war immer der entscheidende Punkt, den Leser so, wie Marcel Reich-Ranicki ihn sich vorstellt zu sehen: abends vor dem Einschlafen noch einen Roman – entschuldigen Sie das Wort – schmökernd. Aber diese Idee, diese pädagogische Idee steckt hinter seinem Ethos als Kritiker.
Schmitz: Ein Satz noch zu der Frage: Hat er auch so gewirkt, hat’s funktioniert?
Winkels: Tatsächlich hat zu seiner Zeit eine ganze Weile dieses volkspädagogische Eros, nenne ich es mal so, funktioniert und wurde dann von Heidenreich versucht zu beerben. Aber es hat nicht mehr funktioniert, es war an seine Figur gebunden, an seine Person gebunden, die Zeit war darüber weggegangen und mit ihm ist, glaube ich, diese spezifische Haltung, Rezeption und auch Aktion, glaube ich, nicht mehr da.
Schmitz: Hubert Winkels, vielen Dank für diese ersten Einschätzungen des Werkes von Marcel Reich-Ranicki, der im Alter von 93 Jahren gestorben ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.